Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Rund um Bibel und Glaube
Benutzeravatar
Halman
Beiträge: 4016
Registriert: Di 25. Feb 2014, 20:51

#1 Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » Mi 30. Mär 2016, 00:32

Da hier seit längerer Zeit über die Bewertung der kanonischen Exegese gestritten wird, denke ich, ist es Zeit, diese umstrittende Form der Exegese ausführlicher in diesen neuen Thread zu diskutieren. Den Anstoß gab mir der anspruchsvolle Beitrag von Thaddäus. :thumbup:
Thaddäus hat geschrieben:
Halman hat geschrieben: Hast Du dich mit Zengers Ausführungen zur kanonischen Exegese beschäftigt? Ich hatte sie verlinkt.
Nein, ich habe auch ganz vergessen, wo du den wann verlinkt hast.
Aber um die Sache abzukürzen:
Stimmt es denn nicht, dass die kanonische Exegese den aktuellen Bestand an (katholischen) Glaubensüberzeugungen voraussetzt, damit man den Kanon überhaupt theologisch sachgerecht verstehen und intepretieren kann?
Ziel dieses Threads ist es, diese Frage zu klären.

Im folgenden führt Thaddäus, wie die kanonische Exegese einzustufen ist, wenn dem so ist.
Thaddäus hat geschrieben:Wenn dem nämlich so ist, dann setzt diese Exegese als ein Prämisse bereits voraus, was historisch-kritische Analyse erst einmal bestätigen muss.
Diese Art der Theologie wurde umfassend im Mittelalter betrieben. Sie widerspricht aber dem grundsätzlichen Ziel wissenschaftlicher Arbeit: denn die soll überhaupt erst plausibel und wahrscheinloch machen, was wir (halbwegs) gesichert wissen können. Wenn die Berechtrigung von Glaubensinhalten ohenehin als wahr vorausgesetzt wird, dann muss man sie nicht mehr wissenschaftlich prüfen. Will man sie aber wissenschaftlich prüfen, dann müssen sich die Glaubensinhalte nach den mehr oder weniger gesicherten Ergebnissen der wissenschaftlichen Arbeit richten (und das Mehr-oder Weniger macht die Spielräume aus, in denen man sich bewegen kann). Wenn man wissen will, ob Quecksilber schädlich oder Kaugummi unschädlich ist, dann muss man sie chemisch und medizinisch untersuchen. Setzt man aber bereits voraus, dass sie unschädlich sind, dann erübrigt sich jede weitere Untersuchung.
Die kanonische Exegese ist in dieser Hinsicht zutiefst unwissenschaftlich. Und allein deshalb hat sie keinerlei Chance, sich an den Universitäten durchzusetzen. Denn es gibt kein zurück ins Mittelalter ... ;)
Glücklicherweise. Nun ist zu klären, ob die kanonische Exegese mit obiger Beschreibung wirklich zutreffend beschrieben wurde. Um dies zu erörtern, werde ich mich auf Quellen zu dieser Form der Exegese beziehen, im wesendlichen auf den Exegeten Prof. E. Zenger.

So wie ich dies bei aller Bescheidenheit verstehe, geht man gem. der kanonischen Hermeneutik von der Prämisse aus, dass der Bibelkanon im Gesamtkontext zu interpretieren ist. Meiner Meinung nach lässt sich die historisch-kritische Methode durchaus durch den kanonischen Zugang ergänzen.
Ich halte es für extrem unwahrschienlich, dass die Bibelschreiber ohne Kenntnis der älteren biblischen Schriften ihre Texte verfassten. In Qumran wurde ganz selbstverständlich mit den biblischen Schriften des Tanach gearbeitet. Es gibt Bezüge in den Psalmen auf die Torah, hunderte von Bezugnamen im NT auf das AT, Parallelen zwischen der Buchrolle der Könige und der Chronik Esras. Daraus folgere ich: Die Schriften wurden schon in der Antike im Zusammenhang rezipiert.
Diesbezüglich empfehle ich die PDF-Dokumente von Zenger.
Zitat von Prof. Erich Zenger:
Esra/Neh setzen die Tora des Mose als normative Größe voraus
Hier einen kanonischen Zusammenhang zwischen den esranischen Schiften und Mose zu leugnen, würde bedeuten, die esranischen Torah-Bezüge zu negieren. In 2Kön wird sogar vom Fund der Torah im Tempel berichtet, der dort als sehr bedeutsam geschildert wird.
Zitat von Prof. Erich Zenger:
2. Joschija nimmt 622 das Dtn als Basis zur Selbstverpflichtung (2Kön 22f): Tora wird im Tempel gefunden (Erzählgefüge Dtn-2Kön  es handelt sich um das Dtn, d.h. kleine Vorstufe zu Dtn 5-28, ohne narrative Elemente, keine Sozialgesetze aber Segen-Fluch). Verpflichtung Josijas = Dtn wird zur Bundesurkunde und Staatsgrundgesetz.
Prof. Erich Zenger schrieb über die Hermeneutik:
5. Jüdisch-christliche Bibelhermeneutik.
5.1. Keine systematische Einheit, sondern dramatischer Zusammenhang
Die Polyphonie des Ersten Testaments ist von seinen "Arrangeuren" gewollt.
Die komplexe und kontrastive Gestalt des Tanach / Ersten Testaments ist zum größten Teil ausdrücklich gewollt. Daß und wie die Töne, Motive und Melodien, ja sogar die einzelnen Sätze dieser polyphonen Sinphonie miteinander streiten und sich gegenseitig ins Wort fallen, sich ergänzen und bestätigen, sich wiedersprechen - das ist kein Makel und keine Unvollkommenheit dieses Opus, sondern seine intendierte Klanggestalt, die man hören und von der man sich geradezu berauschen lassen muß, wenn man sie als Kunstwerk, aber auch als Gotteszeugnis erleben will.

5.2. Der spannungsreiche Dialog der beiden Teile der einen christlichen Bibel
Läßt man beide Testamente als Rivalinnen im Streit um die Gotteswahrheit zu, kann aus ihrer Korrelation eine neue, produktive Lektüre der einen, zweigeteilten Bibel hervorgehen, die keines der beiden allein und in sich selbst ermöglichen würde. Das erste Testament kann seine Rolle als Herausforderin, Rivalin und Kommentatorin des Neuen Testaments natürlich nur dann spielen, wenn man ihm sein Eigenwort mit Eigenwert beläßt. Die Differenzen müssen auch gelten gelassen werden.

5.3. Hermeneutik der kanonischen Dialogizität
Intertextuell erkennbare Bezüge der erst- und neutestamentlichen Texte werden in einen offenen "kanonischen" Dialog gebracht. Den ersttestamentlichen Prätexten wird aber dabei auch ihr Eigenleben gelassen.
Darin vermag ich nichts unwissenschaftliches zu entdecken.

Die hermeneutische Systematik des Tanach stellt Zenger folgendermaßen dar:
Zitat von Prof. Erich Zenger:
2. Die hermeneutische Systematik des Tanach
2.1. Programmatische Schlußtexte (Epiloge/Kolophone) der drei Teile
a) Dtn 34,10-12 ist Schlußtext der gesamten Tora: ("Niemals wieder ist in Israel ein Prophet aufgestanden wie Mose...")
• die Mosetora ist unüberbietbare und ewig gültige Offenbarung und Lebensweisung
• Hauptaufgabe "der Propheten" - Auslegung der Tora;

• Exodus wird in Unvergleichbarkeitsdimension aufgenommen und ist ein Gründungsgeschehen

b) Mal 3,22-24 ist (geschichteter) Schluß des gesamten Prophetenkorpus: ("Gedenket der Tora des Mose...")
• Prophetie - Aktualisierung der Tora
• Tora ist JHWH-Tora
• Tora ist gebündelt in Dtn (Ausdruck "Gesetz und Rechtsvorscgriften")
• Elija ist Schüler des Mose par excellence, weil er JHWH gehört hat. Er wurde in Himmel entrückt und kann deswegen wiederkommen, um Israel zur familiären Tora-Lerngemeinschaft zu machen;
• Bei der Tora-Auslegung der Propheten geht es um die Beziehung Gott - Israel - Land;
• Prophetie legt die Tora in eschatologisches aus, im Hinblick auf den "Tag JHWHs".

Prof. Erich Zenger war m. W. einer der bedeutensten Exegeten und Alttestamentler seiner Zeit. Damit will ich nicht zum Ausdruck bringen, dass ich in allem seiner Exegese folge, meine bescheidene Perspektive ist natürlich verschieden von der fachlichen Sicht Zengers, doch vermag ich in Zengers Dokumenten den Wert der kanonischen Exegese durchaus zu erkennen.
Ich gehe davon aus, dass die Bibelschreiber gläubige Juden waren, für die die bereits bestehenden Schriften natürlich höchst bedeutsam waren, insbesondere die Torah.
Die Schreiber des NT leiteten ihren "Weg" ganz selbstverständlich aus dem Tanach her.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

Benutzeravatar
Halman
Beiträge: 4016
Registriert: Di 25. Feb 2014, 20:51

#2 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » Mi 30. Mär 2016, 00:36

In meinem Beitrag v. Mo 10. Aug 2015, 21:19 nahm ich auf die Kanonische Schriftauslegung bezug:
Nicht nur rekonstruierte Fragmente historischer Vorstufen der biblischen Texte sind theologisch relevant, sondern die von den Endgestaltern der Bibel konstruierten kanonischen Textformen, welche man jedoch nur mit Hinsicht auf ihren Werdegang deuten kann. Nach Childs kann das Alte Testament in theologischer Hinsicht nicht wie eine historische Quelle benutzt werden, sondern als ein Glaubenszeugnis. Der Kanon stellt dabei keineswegs bloß eine lose Sammlung verschiedener Literaturwerke dar, sondern ein durchdachtes und wohl durchkomponiertes Ganzes. Dieses übergreifende Ganze des Kanons in seiner Endgestalt muß für die Interpretation aller seiner Teile herangezogen werden.

Mir gefällt diesbezüglich die Herangehensweise des Exegeten Prof. Erich Zenger, denn: Schriftauslegung ist mehr als profane Wissenschaft.
Die jüdische Schriftauslegung verdiene hohe Wertschätzung und könne als Bereicherung christlicher Bibelauslegung aufgenommen werden, dürfe aber die historische bzw. historisch-kritische Exegese nicht ersetzen, betont Erich Zenger. Bewahre doch die historische Bibelauslegung davor, „dass wir allzu leicht in die Bibel das eintragen, was uns genehm ist, und dass die einzelnen biblischen Texte ihre provozierende Fremdheit sowie ihre theologische Singularität verlieren“.

Der Gefahr der Nivellierung und des Fundamentalismus, den die kanonische Bibelauslegung in sich trage, müsse die historische Bibelauslegung entgegenwirken. „Deshalb brauchen wir beide Formen der Schriftauslegung. In methodentechnischer Sprache heißt dies: Wir brauchen die diachrone und die synchrone Bibellektüre. Wir brauchen die alten und die neuen Wege christlicher Schriftauslegung.“
(Zengers wörtliche Rede habe ich durch Textformatierung hervorgehoben.)

Die Methoden müssen also gar nicht miteinander konkurren, sie können sich auch gegenseitig fruchtbar ergänzen.

Prof. E. Zenger trat besonders als Exeget der Psalmen hervor (Psalter-Exegese). In der Uni Bamberg mahnte er einen sorgfältigen Umgang mit der Bibel an:
Gleichzeitig mahnte Zenger einen sorgfältigen Umgang mit der Bibel als dem Wort Gottes an. So müssten genaue Übersetzungen erarbeitet werden und scheinbar unverständliche Passagen nicht einfach der Harmonie halber gestrichen werden – so geschehen im kirchlichen Stundengebet, wo aus Psalm 139 die Verse 19 bis 22 getilgt wurden. Sie lauten: „Wolltest du, Gott, doch den Frevler töten! Ihr blutgierigen Menschen, lasst ab von mir! Sie reden über dich voll Tücke und missbrauchen deinen Namen. Soll ich die nicht hassen, Herr, die dich hassen, die dich verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse euch mit glühendem Hass; auch mir sind sie zu Feinden geworden.“ Eine solche Passage aus dem Gebet zu tilgen, sei keine Lösung, so Zenger. Vielmehr müsse man den Gläubigen klar machen, was Menschen in alttestamentlicher Zeit unter „Hass“ verstanden. Hier habe sich nämlich eine Bedeutungsverschiebung ergeben: Hass meine nicht wie heute ein blindes, irrationales Gefühl gegenüber jemandem. „Die beste Übersetzung für Hass, wie ihn die Bibel versteht, wäre: Mit Leidenschaft gegen das Böse in der Welt kämpfen“, erklärte Zenger.
(Zengers wörtliche Rede habe ich durch Textformatierung hervorgehoben.)

In seiner Rezension Erich Zenger - Das Jesus-Buch von Benedikt XVI. - Im Licht des Alten Testaments erklärt der Exeget:
Zitat von Erich Zenger:
Die kanonische Perspektive war auch über die Jahrhunderte hinweg eine im Christentum übliche Leseweise, deren Basisaxiom lautete: Sacra Scriptura sui ipsius interpres. Diese Methode hat gewiss die Gefährdung, dass sie in den biblischen Texten das findet, was sie finden will, also zur Eisegese mutiert. Der Siegeszug der historisch-kritischen Exegese in der Neuzeit hängt auch mit derartigen Fehlentwicklungen dieser Methode zusammen. Ihre aktuelle Wiederaufnahme durch die christliche Bibelwissenschaft wurde zum einen durch den christlich-jüdischen Dialog angestoßen, zum anderen hat sie nicht nur mit der skizzierten Bewertung des komplexen Prozesses der Kanonisierung der biblischen Schriften zu tun, sondern auch mit den neuen kulturwissenschaftlichen Einsichten über die Funktion von heiligen und kanonischen Texten überhaupt. Ich kann dies alles hier leider nicht breiter und differenzierter darstellen. Aber ich möchte festhalten, dass die Option des Papstes für die kanonische Lektüre bibel- und kulturwissenschaftlich begründbar ist.
Ausführlicher ist seine Erörterung: IV „Hermeneutik der kanonischen Dialogizität“: Der Ansatz Erich Zengers / Einleitung

Bei Erstellung dieses Themas habe ich folgende Beiträge, in den mich mit umfangreichen Zitaten mit Quellenverweisen zur kanonische Exegese Stellung bezog, herausgesucht und damit ich sie im Verlaufe nicht nochmal raussuchen muss und ihr sie gleich zur Verfügung habt :) , verlinke ich sie nachfolgend:
- Beitrag vom Sa 29. Aug 2015, 10:48
- Beitrag vvom Do 24. Dez 2015, 14:15
- Beitrag vvom Do 31. Dez 2015, 19:55
- Beitrag vvom Sa 2. Jan 2016, 19:06
- Beitrag vvom Di 5. Jan 2016, 00:35
Meine Absicht ist es, später auf die darin enthaltenen Argumente zurückzukommen (oder eben dann, wenn jemand darauf Bezug nimmt ;) ).

Abschließend möchte ich nicht versäumen, die Erläuterung der Universität Duisburg-Essen zur historisch-kritische Methode der Textinterpretation zu verlinken. Dieser möchte ich die Kritik von Dr. Jacob Thiessen gegenüberstellen.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

Benutzeravatar
Savonlinna
Beiträge: 4300
Registriert: So 2. Nov 2014, 23:19

#3 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Savonlinna » Mi 30. Mär 2016, 12:55

Halman hat geschrieben: So wie ich dies bei aller Bescheidenheit verstehe, geht man gem. der kanonischen Hermeneutik von der Prämisse aus, dass der Bibelkanon im Gesamtkontext zu interpretieren ist.
Nicht zu interpretieren sei, sondern so auch interpretiert werden kann.

Ich möchte erst einmal unterscheiden zwischen „kanonischer Exegese“ und „kanonischer Forschung“.
Ich unterscheide beides genauso wie ich unterscheide zwischen „rezeptionsorientierter Interpretation“ und „rezeptionsorientierter Forschung“.

Das heißt, ich versuche genauer zu bestimmen, was von dem Erwähnten als wissenschaftlich gelten kann, und was nicht als wissenschaftlich gelten kann.

Den Begriff „Hermeneutik“ möchte ich hier weglassen, da er nichts zu der Frage – Wissenschaft oder nicht – beiträgt, sondern ein Riesenfass aufmacht, das der Klärung der Frage undienlich ist. Man braucht den vieldeutigen, schillernden und letztlich unklaren Begriff der „Hermeneutik“ nicht für die Kanon-Frage.

Gehe ich erst mal zu „rezeptionsorientierter Forschung“ bzw. zu „kanonishcer Forschung“.

Ein Unterbegriff zu ersterem wäre „Rezeptionsgeschichte“, zu zweiterem Geschichte der kanonischen Deutungen.
Untersucht ein Forscher also auf der Basis wissenschaftlicher Darlegung nicht Goethes „Faust“ selber, sondern die Wirkungsgeschichte – ist ein anderes Wort für Rezeptionsgeschichte – des „Faust“, dann ist diese Darlegung in dem Moment wissenschaftlich, wo die Darlegung eben wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.

Der Forscher kann also ganz unwissenschaftliche Interpretationen in seine Darlegung einbeziehen und dennoch wissenschaftlich sein.
Genau wie in der Filmwissenschaft die Karl-May-Filme – mit Sicherheit haben die nichts Wissenschaftlches an sich – wissenschaftlich untersucht werden können. Wie sie im Laufe der Jahrzehnte auf die Filmegucker gewirkt haben, kann wissenschaftlich untersucht werden.

Nicht also der untersuchte Gegenstand macht die Wissenschaftlichkeit aus, sondern die Methode, mit der man die eigenen Gedanken zu dem Gegenstand ordnet.

Untersucht ein Forscher nun die Geschichte der kanonischen Deutungen, so ist diese Untersuchung in dem Moment wissenschaftlich, wo die Ergebnisse des Forschers in korrekter Weise – korrekt im Sinne der wissenschaftlichen Darlegung – vorgelegt werden.

Daran besteht kein Zweifel, und also hat die Geschichte der kanonishcen Deutungen an einer wissenschaftlichen Universiät selbstredend dann einen Platz, wenn die Darlegung wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.

Jetzt also habe ich gerade einen Unterpunkt zur Rezeptionsforschung bzw. Kanonforschung thematisiert: die Rezeptionsgeschichte bzw. die Geschichte der kanonischen Auslegung.

Ein weiterer Unterpunkt zur Rezeptionsforschung bzw. Kanonforschung wäre:
Was IST Rezeptionsforschung, was IST Kanonforschung?
In der Literaturwissenschaft wäre das ein Teilgebiet der „Literarischen Methodik“, in der theologischen Wissenschaft ein Teilgebiet der „Theologischen Methodik“.

Auch hier: Wenn die Darlegung aller literarischen Methoden und die Einbettung der Rezeptionstheorie in das Konzert aller bisher bekannten literarischen Methoden wissenschaftlich erfolgt – also selber sauber methodisch untersucht und beschreibt -, dann ist es eine wissenschaftliche Untersuchung.
Das Gleiche gilt für die Darlegung aller theologischen Methoden und die Einbettung der kanonischen Methode in das Konzert aller bisher bekannten theologischen Methoden:
Wenn die Darlegung selber wissenschaftlich erfolgt – also streng deskriptiv und ohne Wertung -, dann ist sie wissenschaftlich.

Auch hier gilt: nicht der untersuchte Gegenstand macht die Wissenschaftlichkeit aus, sondern die Methode der Darlegung: sie hat komplett alle Methoden zu erfassen und zueinander in logischen und geschichtlichen Bezug zu stellen, ohne Wertung, ohne geistige Sprünge, ohne Vorlieben.

Bisher also habe ich die Rezeptionsforschung und die Kanonforschung behandelt, die beide dann wissenschaftlich sind, wenn die Darlegung der Ergebnisse nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgt.


Jetzt komme ich zur Interpretion selber – innerhalb der Rezeptionstheorie – und zur Exege – innerhalb der Kanonauslegung.
Wann ist überhaupt eine Interpretation des „Faust“ wissenschaftlich, wann nicht? Und wann ist eine rezeptionstheoretische Interpretation des „Faust“ wissenschaftlich, wann nicht?

Was unterscheidet überhaupt eine „normale“ „Faust“-Interpretation von einer rezeptionstheoretischen?
Da innerhalb der Literaturwissenschaft die „normalen“ Interpretationen selber schon sehr vielfälig sind – es gibt die immanente, die strukturalistische Interpretation und viele mehr -,
zeichnet sich die rezeptionstheoretische von den anderen Methoden darin aus, dass sie nicht das Werk selber untersucht, sondern die Wirkung dieses Werkes.

Wenn also hier im Forum nicht das Jesus-Buch von Ratzinger selber untersucht wird, sondern nur die Wirkung des Buches in Form von Rezensionen oder Büchern über das Jesus-Buch zitiert wird, dann bedient man sich – zwar nicht wissenschaftlich, aber von der Sache her – rein rezeptions-theoretischer Methoden.
Nicht der Autor ist wichtig, sondern die Wirkung seines Werkes auf andere.

Wissenschaftlich wäre diese Methode erst dann, wenn man sämtliche Wirkungen sammelt und sie insgesamt miteinander nach streng-wissenschaflichen Kriterien vergleicht. Vorlieben dürfen da nicht vorliegen, sondern man muss einen kompletten Überblick geben und damit die eigene Zeit in ihren Widersprüchen einfangen.

Zurück zum „Faust“: Will ich das Werk rezeptionstheoretisch interpretieren, muss ich mich auf die Socken machen und alles sammeln, wie der „Faust“ gewirkt hat.
Klar kann ich mich da spezialisieren: ich kann nur die Theater-Aufführungen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunders bis heute untersuchen oder nur die wissenschaftlichen Arbeiten über den „Faust“ im gleichen Zeitraum.
Das ist dann zwar keine Komplett-Analyse der Rezeption, aber es liegt eine saubere Spezialisierung vor.

Will ich die Wirkung der Bibel auf Menschen oder Texte wissenschaftlich untersuchen, muss ich mich notgedrungen spezialisieren, da das uferlos wäre.
Ich kann auch da mich auf Verfilmungen spezialisieren oder auf die Rezeption des Johannesevangeliums innerhalb der letzten siebzig Jahre, Hauptsache: es wird sauber und wissenschaftlich präzise gearbeitet.

Und ich kann mich auf die kanonische Deutung spezialisieren.
Wenn ich klar sage, dass es eine Spezialisierung ist – ohne jeglichen Anspruch, diese Spezialisierung zu bevorzugen -, dann kann diese Spezialisierung, wenn die Darlegung der Egebnisse wissenschaftlich ist, an der Universität getätigt werden.

Noch mal zur Klarheit: die Darlegung innerhalb einer wissenschaftlichen ist immer gleich, die Anforderungen gelten für sämliche Themen und Methoden.
Also die Anwendung der Rezeptionstheorie unterscheidet sich in der Form der Darlegung überhaupt nicht von einer Anwendung der immanenten Methode oder der strukturalistischen Methode. In allen diesen Fällen muss korrekt belegt werden, muss Komplettheit angestrebt werden, dürfen Vorlieben keine Rolle spielen etc.

Einen Punkt habe ich bisher ausgelassen, den schwierigsten:
Kann ich den „Faust“ allein auf der Basis der historisch-kritischen Methode interpretieren und trotzdem wissenschaftlich sein?
Vorläufiges Fazit:
Es geht, aber es ist unbefriedigend.
Die historisch-kritische Methode setzt den Endpunkt: Veröffentlichung des Werkes.
Ich muss also aus meinem Kopf alle moderne Auffassung momentan entfernen und für eine Weile auf Eis legen.

Manche können das nicht, die sollen also besser anderes erforschen.
Wer das aber kann, der untersucht das Werk so, wie es, ich nehme mal nur „Faust II“, 1832 vorlag – da wurde es veröffentlicht - und nutze für meine Interpretation lediglich diejenigen Ergebnisse der Forschung, die zu dieser Veröffentlichung geführt haben.

Alles, was nach diesem Veröffentlichungsjahr intepretiert wurde, muss aus dem Kopf geschmissen werden, da es das Interpretations-Ergebnis ja verfälscht.

Da dies in der Regel nicht gelingt, für die Literaturinterpretation auch nicht weiter groß wichtig ist, nimmt man stets die eigene heutige Position dazu – die dann allerdings exakt beschrieben werden muss, sonst ist man draußen aus dem Wissenschafts-Karussell.

Ganz ähnlich ist es mit den Ergebnissen der historisch-kritischen Forschung bezüglich Neuem Testament.
Es muss alles aus dem Kopf geschmissen werden, wie man heute das Neue Testament auffassen würde – man muss sich auf den Stand von damals versetzen können, ansonsten man besser was anderes erforscht -, man untersucht lediglich, wie der damalige Text zustande gekommen ist und was er damals transportierte.

Da noch nicht einmal für den „Faust“ dergleichen heute genügt – wir wollen schließlich nicht auf den Stand von 1832 zurück, wenn wir den „Faust“ interpretieren -, genügt es auch nicht, die Evangelien auf dem Stand von kurz nach 0000 zu deuten.

Die Aufgabe ist weitaus komplexer, und sie führt tatsächlich immanent zur Rezeptionsforschung.
Die Rezeptionsforschung thematisiert ausdrücklich – und nicht nur auf Schleichwegen wie bei der historisch-kritischen Methode – den Wandel der Auffassungen.

Die Exegese also, die sich auf den Kanon beschränkt, ist dann wissenschaftlich - soweit mein vorläugiges Fazit -, wenn diese Exegese eingebettet ist in eine Darlegung sämtlicher Methoden und eine transparente Beschreibung vorliegt, weshalb man die kanonische Exegese benutzt.

Benutzeravatar
Münek
Beiträge: 13072
Registriert: Di 7. Mai 2013, 21:36
Wohnort: Duisburg

#4 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Münek » Do 31. Mär 2016, 02:55

Savonlinna hat geschrieben:Die Exegese also, die sich auf den Kanon beschränkt, ist dann wissenschaftlich - soweit mein vorläugiges Fazit -, wenn diese Exegese eingebettet ist in eine Darlegung sämtlicher Methoden und eine transparente Beschreibung vorliegt, weshalb man die kanonische Exegese benutzt.

Die kanonische Exegese setzt den Glauben an einen gerechten und barmherzigen allmächtigen Gott und einen göttlichen Heilsplan voraus, der u.a. vorsah, dass Jesus von Nazareth als der eingeborene präexistente Sohn des Allmächtigen zum ewigen Heil der Menschen einen qualvollen Sühnetod zu erleiden hatte, von den Toten auferstand und zu seinem himm-
lischen Vater zurückkehrte.


Was eine solche Prämisse mit historischer Wissenschaft zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Dem aufrichtigen Versuch, Geschichte bestmöglich ergebnisoffen "zu rekonstruieren", wird damit aus rein apologetischen Glaubensgründen ganz bewusst
gegen alle "intellektuelle Redlichkeit" der Riegel vorgeschoben.

Ich bin davon überzeugt, dass die "kanonische Exegese" wegen ihrer dogmatischen und damit un-
wissenschaftlichen Voraussetzungen an den theologischen Fakultäten keinen Fuß fassen wird.

Benutzeravatar
Halman
Beiträge: 4016
Registriert: Di 25. Feb 2014, 20:51

#5 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » Do 31. Mär 2016, 13:52

Savonlinna hat geschrieben:
Halman hat geschrieben: So wie ich dies bei aller Bescheidenheit verstehe, geht man gem. der kanonischen Hermeneutik von der Prämisse aus, dass der Bibelkanon im Gesamtkontext zu interpretieren ist.
Nicht zu interpretieren sei, sondern so auch interpretiert werden kann.
Danke für die Korrektur, mein Imperativ ist tatsächlich unangebracht. Da hatte ich mich unglücklich ausgedrückt.

Vielen Dank für Deine anspruchsvolle und lehrreiche Antwort, Savonlinna. :blumenstrauss:

Savonlinna hat geschrieben:Den Begriff „Hermeneutik“ möchte ich hier weglassen, da er nichts zu der Frage – Wissenschaft oder nicht – beiträgt, sondern ein Riesenfass aufmacht, das der Klärung der Frage undienlich ist. Man braucht den vieldeutigen, schillernden und letztlich unklaren Begriff der „Hermeneutik“ nicht für die Kanon-Frage.
Auch hier stimme ich Dir zu.

Savonlinna hat geschrieben:Gehe ich erst mal zu „rezeptionsorientierter Forschung“ bzw. zu „kanonishcer Forschung“.

Ein Unterbegriff zu ersterem wäre „Rezeptionsgeschichte“, zu zweiterem Geschichte der kanonischen Deutungen.
Untersucht ein Forscher also auf der Basis wissenschaftlicher Darlegung nicht Goethes „Faust“ selber, sondern die Wirkungsgeschichte – ist ein anderes Wort für Rezeptionsgeschichte – des „Faust“, dann ist diese Darlegung in dem Moment wissenschaftlich, wo die Darlegung eben wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.

Der Forscher kann also ganz unwissenschaftliche Interpretationen in seine Darlegung einbeziehen und dennoch wissenschaftlich sein.
Genau wie in der Filmwissenschaft die Karl-May-Filme – mit Sicherheit haben die nichts Wissenschaftlches an sich – wissenschaftlich untersucht werden können. Wie sie im Laufe der Jahrzehnte auf die Filmegucker gewirkt haben, kann wissenschaftlich untersucht werden.

Nicht also der untersuchte Gegenstand macht die Wissenschaftlichkeit aus, sondern die Methode, mit der man die eigenen Gedanken zu dem Gegenstand ordnet.

Untersucht ein Forscher nun die Geschichte der kanonischen Deutungen, so ist diese Untersuchung in dem Moment wissenschaftlich, wo die Ergebnisse des Forschers in korrekter Weise – korrekt im Sinne der wissenschaftlichen Darlegung – vorgelegt werden.

Daran besteht kein Zweifel, und also hat die Geschichte der kanonishcen Deutungen an einer wissenschaftlichen Universiät selbstredend dann einen Platz, wenn die Darlegung wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.
Danke für Deine einleuchtende Erklärung, Savonlinna. :Herz: Im oben zitierten Abschnitt habe ich einen Satz von Dir farblich hervorgehoben, welcher meiner Meinung nach den "Nagel auf den Kopf" trifft. Es geht also gar nicht darum, ob die Zusammenstellung des Bibelkanons in der Antike wissenschaftlichen Kriterien genügt oder nicht, oder ob die Bibel selbst wissenschaftlich ist oder nicht (in beiden von mir genannten Fällen müsste man die Wissenschaftlichkeit meiner Meinung nach verneinen*), sondern einzig und allein darum, ob die kanonische Exegese mit wissenschaftlicher Systematik erfolgt oder nicht, ob also die Forschung über den zu untersuchenden Gegenstand, dem Bibelkanon, wissenschaftichem Ansprüchen genügt oder nicht.
Da verwundere ich mich über die völlig andere Bewertung der kanonischen Exegese seitens der atheistischen "Fraktion" in diesem Forum. Mir scheint, dass wir alle die selbe Buchstabenfolge, nämlich "kanonische Exegese", verwenden, aber offensichtlich etwas völlig anderes darunter verstehen. Darum hatte ich dieses Thema eröffnet, um hier endlich Klarheit zu schaffen und uns zumindest - so meine Hoffnung - darüber zu einigen, was wir eigentlich meinen, wenn wir schreiben: kanonische Exegese.
Woran liegt das? Könnte es damit zusammenhängen, dass diese Form der Exegese durch Fehlgebrauch in Verruf geraten ist? Der Exeget Zenger schrieb diesbezüglich:
Zitat aus Das Jesus-Buch von Benedikt XVI. Im Licht des Alten Testaments:
Diese Methode hat gewiss die Gefährdung, dass sie in den biblischen Texten das findet, was sie finden will, also zur Eisegese mutiert. Der Siegeszug der historisch-kritischen Exegese in der Neuzeit hängt auch mit derartigen Fehlentwicklungen dieser Methode zusammen.
Prof. Zenger schreibt hier eindeutig von Fehlentwicklungen und erklärt weiter:
Ihre aktuelle Wiederaufnahme durch die christliche Bibelwissenschaft wurde zum einen durch den christlich-jüdischen Dialog angestoßen, zum anderen hat sie nicht nur mit der skizzierten Bewertung des komplexen Prozesses der Kanonisierung der biblischen Schriften zu tun, sondern auch mit den neuen kulturwissenschaftlichen Einsichten über die Funktion von heiligen und kanonischen Texten überhaupt. Ich kann dies alles hier leider nicht breiter und differenzierter darstellen. Aber ich möchte festhalten, dass die Option des Papstes für die kanonische Lektüre bibel- und kulturwissenschaftlich begründbar ist.
Warum wird hier der kompentente Aussage des Exegeten, gem. der die "kanonische Lektüre bibel- und kulturwissenschaftlich begründbar ist" widersprochen?

*Obwohl ich mir bezüglich der Kanonisierung nicht völlig sicher bin. Mir könnte man entgegenhalten, dass diese auf Basis antiker Theologie der jüdischen Schriftgelehrten und Kirchenväter basierte, die man als Theologen ihrer Zeit ansehen kann.

Savonlinna hat geschrieben:Ein weiterer Unterpunkt zur Rezeptionsforschung bzw. Kanonforschung wäre:
Was IST Rezeptionsforschung, was IST Kanonforschung?
In der Literaturwissenschaft wäre das ein Teilgebiet der „Literarischen Methodik“, in der theologischen Wissenschaft ein Teilgebiet der „Theologischen Methodik“.

Auch hier: Wenn die Darlegung aller literarischen Methoden und die Einbettung der Rezeptionstheorie in das Konzert aller bisher bekannten literarischen Methoden wissenschaftlich erfolgt – also selber sauber methodisch untersucht und beschreibt -, dann ist es eine wissenschaftliche Untersuchung.
Das Gleiche gilt für die Darlegung aller theologischen Methoden und die Einbettung der kanonischen Methode in das Konzert aller bisher bekannten theologischen Methoden:
Wenn die Darlegung selber wissenschaftlich erfolgt – also streng deskriptiv und ohne Wertung -, dann ist sie wissenschaftlich.

Auch hier gilt: nicht der untersuchte Gegenstand macht die Wissenschaftlichkeit aus, sondern die Methode der Darlegung: sie hat komplett alle Methoden zu erfassen und zueinander in logischen und geschichtlichen Bezug zu stellen, ohne Wertung, ohne geistige Sprünge, ohne Vorlieben.

Bisher also habe ich die Rezeptionsforschung und die Kanonforschung behandelt, die beide dann wissenschaftlich sind, wenn die Darlegung der Ergebnisse nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgt.
Ja, dem ist sicher so. Damit hast Du einen sehr bedeutsamen Punkt erklärt, nämlich den der Wertung. Zenger schrieb: Diese Methode hat gewiss die Gefährdung, dass sie in den biblischen Texten das findet, was sie finden will, also zur Eisegese mutiert. Diese Eisegese lässt sich vermeiden, wenn man der von Dir kurz umrissenen Methodik folgt und streng deskriptiv vorgeht. Genau dieser Aspekt wird hier offenbar von einigen Usern geleugnet. Warum ist mir schleierhaft.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

Benutzeravatar
Halman
Beiträge: 4016
Registriert: Di 25. Feb 2014, 20:51

#6 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » Do 31. Mär 2016, 13:55

Savonlinna hat geschrieben:Was unterscheidet überhaupt eine „normale“ „Faust“-Interpretation von einer rezeptionstheoretischen?
Da innerhalb der Literaturwissenschaft die „normalen“ Interpretationen selber schon sehr vielfälig sind – es gibt die immanente, die strukturalistische Interpretation und viele mehr -,
zeichnet sich die rezeptionstheoretische von den anderen Methoden darin aus, dass sie nicht das Werk selber untersucht, sondern die Wirkung dieses Werkes.

Wenn also hier im Forum nicht das Jesus-Buch von Ratzinger selber untersucht wird, sondern nur die Wirkung des Buches in Form von Rezensionen oder Büchern über das Jesus-Buch zitiert wird, dann bedient man sich – zwar nicht wissenschaftlich, aber von der Sache her – rein rezeptions-theoretischer Methoden.
Nicht der Autor ist wichtig, sondern die Wirkung seines Werkes auf andere.
Danke für die Erklärung. So wie ich dies verstehe, trifft dies konkret hier im Forum zu, als Münek die Kritik von Hans Küng zu Ratzingers Jesus-Buch anführte und ich widerholt auf die Rezension von Erich Zenger verwies.

Savonlinna hat geschrieben:Wissenschaftlich wäre diese Methode erst dann, wenn man sämtliche Wirkungen sammelt und sie insgesamt miteinander nach streng-wissenschaflichen Kriterien vergleicht. Vorlieben dürfen da nicht vorliegen, sondern man muss einen kompletten Überblick geben und damit die eigene Zeit in ihren Widersprüchen einfangen.

Zurück zum „Faust“: Will ich das Werk rezeptionstheoretisch interpretieren, muss ich mich auf die Socken machen und alles sammeln, wie der „Faust“ gewirkt hat.
Klar kann ich mich da spezialisieren: ich kann nur die Theater-Aufführungen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunders bis heute untersuchen oder nur die wissenschaftlichen Arbeiten über den „Faust“ im gleichen Zeitraum.
Das ist dann zwar keine Komplett-Analyse der Rezeption, aber es liegt eine saubere Spezialisierung vor.

Will ich die Wirkung der Bibel auf Menschen oder Texte wissenschaftlich untersuchen, muss ich mich notgedrungen spezialisieren, da das uferlos wäre.
Ich kann auch da mich auf Verfilmungen spezialisieren oder auf die Rezeption des Johannesevangeliums innerhalb der letzten siebzig Jahre, Hauptsache: es wird sauber und wissenschaftlich präzise gearbeitet.

Und ich kann mich auf die kanonische Deutung spezialisieren.
Wenn ich klar sage, dass es eine Spezialisierung ist – ohne jeglichen Anspruch, diese Spezialisierung zu bevorzugen -, dann kann diese Spezialisierung, wenn die Darlegung der Egebnisse wissenschaftlich ist, an der Universität getätigt werden.
Auch diese Spezialisierung scheint mir, wenn sie denn frei von Wertungen und Vorlieben erfolgen soll, eine Mammutaufgabe zu sein, da die Herauskristallisierung des Bibelkanons nach meiner Kenntnis bereits vor der Abfassung der Schriften des NT's begann und die Kanonisierung kein systematischer Prozess war. So ist der LXX-Kanon verschieden vom hebräischen Kanon.
Nun könnte man sich auf den hebräischen Kanon spezialisieren, doch wenn die Nennung dieser Prämisse versäumt wird und der Anspruch einer Gesamtbetrachtung erhoben wird, aber der LXX-Kanon schlicht ignoriert wird, dann würde man die wissenschaftliche Arbeitsweise verlassen, habe ich dies so richtig verstanden? Die Gefahr, auf Abwegen zu geraten, erscheint mir recht groß. Ich vermute mal, dass dieser Punkt in den Falkutäten kritisch diskutiert wird.

Savonlinna hat geschrieben:Noch mal zur Klarheit: die Darlegung innerhalb einer wissenschaftlichen ist immer gleich, die Anforderungen gelten für sämliche Themen und Methoden.
Also die Anwendung der Rezeptionstheorie unterscheidet sich in der Form der Darlegung überhaupt nicht von einer Anwendung der immanenten Methode oder der strukturalistischen Methode. In allen diesen Fällen muss korrekt belegt werden, muss Komplettheit angestrebt werden, dürfen Vorlieben keine Rolle spielen etc.
Die Begriffe immanenten Methode und strukturalistische Methode sind mir neu. Darf ich Dich bitten, diese Begriffe so einfach und kurz wie möglich zu erläutern, damit die Usergemeinde und ich verstehen, wovon hier die Rede ist?

Savonlinna hat geschrieben:Da noch nicht einmal für den „Faust“ dergleichen heute genügt – wir wollen schließlich nicht auf den Stand von 1832 zurück, wenn wir den „Faust“ interpretieren -, genügt es auch nicht, die Evangelien auf dem Stand von kurz nach 0000 zu deuten.

Die Aufgabe ist weitaus komplexer, und sie führt tatsächlich immanent zur Rezeptionsforschung.
Die Rezeptionsforschung thematisiert ausdrücklich – und nicht nur auf Schleichwegen wie bei der historisch-kritischen Methode – den Wandel der Auffassungen.

Die Exegese also, die sich auf den Kanon beschränkt, ist dann wissenschaftlich - soweit mein vorläugiges Fazit -, wenn diese Exegese eingebettet ist in eine Darlegung sämtlicher Methoden und eine transparente Beschreibung vorliegt, weshalb man die kanonische Exegese benutzt.
Dann ist diese Exegese sogar wichtig und ergänzt die HKM, indem sie sogar direkt daran anknüpft. Auf die kanonische Exegese zu verzichten, weil in der Vergangenheit offenbar auch ein Fehlgebrauch dieser Methode betrieben wurde (Zenger), würde uns also eines wichigen Zweiges der Rezeptionsforschung berauben, die ja gerade für Schriftreligionen so bedeutsam ist.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

Benutzeravatar
Halman
Beiträge: 4016
Registriert: Di 25. Feb 2014, 20:51

#7 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » Do 31. Mär 2016, 13:58

Münek hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Die Exegese also, die sich auf den Kanon beschränkt, ist dann wissenschaftlich - soweit mein vorläugiges Fazit -, wenn diese Exegese eingebettet ist in eine Darlegung sämtlicher Methoden und eine transparente Beschreibung vorliegt, weshalb man die kanonische Exegese benutzt.

Die kanonische Exegese setzt den Glauben an einen gerechten und barmherzigen allmächtigen Gott und einen göttlichen Heilsplan voraus, der u.a. vorsah, dass Jesus von Nazareth als der eingeborene präexistente Sohn des Allmächtigen zum ewigen Heil der Menschen einen qualvollen Sühnetod zu erleiden hatte, von den Toten auferstand und zu seinem himm-
lischen Vater zurückkehrte.


Was eine solche Prämisse mit historischer Wissenschaft zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Dem aufrichtigen Versuch, Geschichte bestmöglich ergebnisoffen "zu rekonstruieren", wird damit aus rein apologetischen Glaubensgründen ganz bewusst
gegen alle "intellektuelle Redlichkeit" der Riegel vorgeschoben.
Für den Fall, dass Deine Prämissen in deinem fett hervorgehobenen Absatz zutreffen. Kannst Du dies belegen? In meinen Quellen konnte ich nichts finden, was Deine Prämissen stützen würde. Habe ich was übersehen? Hast Du dich mit meinen Quellen auseinandergesetzt?

Münek hat geschrieben:Ich bin davon überzeugt, dass die "kanonische Exegese" wegen ihrer dogmatischen und damit un-
wissenschaftlichen Voraussetzungen an den theologischen Fakultäten keinen Fuß fassen wird.
Warten wir es ab. Derzeit wird sie offenbar kontrovers diskutiert und ist immerhin Thema an einigen Fakultäten, wie ich anhand von mehreren Quellen nachgewiesen habe.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

Lena
Beiträge: 4515
Registriert: So 1. Sep 2013, 18:33

#8 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Lena » Do 31. Mär 2016, 15:22

Lieber Halman

Es ist mir eine Freude Dir und andern hier zuzuhören, wie ihr miteinander sprecht. Gerne würde ich euch folgen können, aber ich kann nicht. Es ist mir viel zu hoch. Ich nehme an, das kann man nicht einfach in einfachen Worten erklären, oder doch?! Wenn ja, so wäre es super, Du würdest es erklären und wenn nicht, so freue ich mich einfach an der Begabung einiger Menschen, so tief über etwas nachdenken zu können.

Herzlichen Gruss
Maria
Kannst du mir helfen, dich richtig zu verstehen?
Erbreich 

Pluto
Administrator
Beiträge: 43975
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:56
Wohnort: Deutschland

#9 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Pluto » Do 31. Mär 2016, 16:08

Halman hat geschrieben:Für den Fall, dass Deine Prämissen in deinem fett hervorgehobenen Absatz zutreffen. Kannst Du dies belegen? I
Ich habs zwar nicht gelesen, aber ich vermute hier findest du die Antworten auf deine Zweifel: http://www.vatican.va/archive/DEU0035/_INDEX.HTM
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

Benutzeravatar
Halman
Beiträge: 4016
Registriert: Di 25. Feb 2014, 20:51

#10 Re: Ist die kanonische Exegese wissenschaftlich?

Beitrag von Halman » Do 31. Mär 2016, 19:13

Lena hat geschrieben:Lieber Halman

Es ist mir eine Freude Dir und andern hier zuzuhören, wie ihr miteinander sprecht. Gerne würde ich euch folgen können, aber ich kann nicht. Es ist mir viel zu hoch. Ich nehme an, das kann man nicht einfach in einfachen Worten erklären, oder doch?! Wenn ja, so wäre es super, Du würdest es erklären und wenn nicht, so freue ich mich einfach an der Begabung einiger Menschen, so tief über etwas nachdenken zu können.

Herzlichen Gruss
Maria
Vielen Dank für Deine löblichen Worte, ich wünsche ich wäre auch nur halb so schlau, wie Du schreibst. Für Dein Kompliment gibt es von mir einen :blumenstrauss:

Um zu klären, ob die kanonische Exegese wissenschaftlich ist, ist es natürlich notwenig, Deine Frage zu beantworten und da fängt das Problem schon mal an. Eine einfache Erklärung habe ich in „Hermeneutik der kanonischen Dialogizität“: Der Ansatz Erich Zengers Einleitung leider nicht gefunden.
Der Abschnitt in Kanonische Auslegung der Bibelwissenschaft hat es auch in sich.
Savonlinna kann diese Frage sicherlich viel besser beantworten, aber ich will mich nicht drücken.

Gem. der kanonischen Exegese geht man davon aus, dass die Bibelbücher Teile des Bibelkanons sind und von den jüdischen und christlichen Glaubensgemeinschaften in diesem Sinne eingeordnet und interpretiert wurden. Im NT finden sich hunderte von Zitate und Bezugnamen zum AT, was darauf schließen lässt, dass es damals ganz selbstverständlich war, all diese Schriften als verbindlichen Kanon anzuerkennen und folglich den Gesamtkontext des Kanons als Glaubensquelle zu verstehen.
Schon die Essener(?) in Qumran stellten uns bekannte Schriften des AT zusammen, auch die Septuaginta (die griechische Übersetzung jüdischer Schriftgelehrter ihrer hebräischen Bibel) spricht für einen Prozess der Kanonisierung, wenn auch die Septuaginta (LXX) etwas umfangreicher ist als die hebräische Bibel, da sie auch die Spätschriften zum AT enthält. Am Ende des ersten Jahrhunderts wurde der hebräische Kanon der jüdischen Bibel (AT) festgelegt:
Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem legte eine Synode in Jabne 90/95 nach Christus den Umfang der jüdischen Bibel fest auf 24 Bücher: Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium, Josua, Richter, Samuel, Könige, Jesaja, Jeremia, Ezechiel, die 12 Propheten, Psalmen, Ijob, Sprüche, Rut, Hohelied, Prediger, Klagelieder, Ester, Daniel, Esra/Nehemia, Chronik.
Dem jüdischen Kanon der Heiligen Schrift fügten die christlichen Schreiber das NT hinzu, dessen Kanon m Ende des vierten Jahrhunderts bestätigt wurde.
Offenkundig wurden diese Schriften von den Glaubensgemeinschaften in diesen für sie verbindlichem Kanones rezipiert (empfangen). Diese Rezeptionsgeschichte, die Bedeutung der Kanones in den jüdischen und christlichen Glaubensgemeinschaften, ist Forschungsgegenstand der kanonischen Forschung - jedenfalls nach meinem gegenwärten bescheidenen Verständnis.

In der ersten in diesem Beitrag verlinkten Quelle wird im Abschnitt IV.2 Die „Hermeneutik der kanonischen Dialogizität“ u.a. erklärt:
Zenger versteht darunter den Versuch, die vielgestaltigen Stimmen innerhalb des Kanons aus Altem und Neuem Testament miteinander in ein theologisches Gespräch zu bringen: „Letztlich geht es hier darum, den einzelnen biblischen Texten und im Bereich der christlichen Bibel den beiden Teilen Altes Testament und Neues Testament ihren Eigenwert und ihre Eigenbedeutung zu belassen und ihre unterschiedlichen Stimmen miteinander in den kanonisierten Diskurs zu bringen. Deshalb kann man diese Hermeneutik auch Hermeneutik des kanonischen Diskurses nennen. Methodisch bzw. dialogisch findet der Diskurs dann sozusagen auf gleicher Augenhöhe statt, wobei die jeweils vorgebrachten Gotteswahrnehmungen und Gotteseinsichten abgewogen, korreliert und gewichtet werden müssen.“ Wie Zenger seit Mitte der 1990er Jahre betont, handelt es sich bei dieser Methode um eine leserorientierte Hermeneutik, die über die historisch-kritische Erforschung der Autorenintention hinausgeht und von der jeweiligen Gestalt des Kanons abhängt.
Die Perspektive der kanonischen Exegese ist verschieden von der historisch-kritischen und kann alleine deshalb diese niemals ablösen. Das wäre in etwas so, als würde man versuchen Textkritik (vergleich verschiedener Handschriften) durch Gattungskritik (Bestimmung der Textgattungen, ob es sich z.B. um Lieder handelt und narrative Texte usw.) ersetzen zu wollen. Dies ist natürlich Unsinn, denn diese "Kritiken" sind Teil einer Methodik.

Im Folgeabschnitt IV.2.1 Die antimarcionitische Kanonentscheidung der frühen Kirche und ihre hermeneutische Relevanz wird erklärt:
Wie der vorangegangene Abschnitt verdeutlichte, hat der Angriff Marcions auf den Kanon für Zenger paradigmatische Bedeutung. Dies gilt auch für die Entscheidung der frühen Kirche, die sich gegen Marcions Versuch wehrte, das Alte Testament aus dem Kanon zu entfernen. Nach Zenger traf sie zwei wichtige Entscheidungen: „(1) Sie behielt alle Schriften der Bibel Israels bei, und sie stellte die »neuen« Schriften nicht vor, sondern hinter die Bibel Israels; so entstand die eine, zweigeteilte christliche Bibel. (2) Sie griff nicht in den jüdischen Wortlaut des ersten Teils ein, um ihn durch eine Überarbeitung zu christianisieren, auch nicht dort, wo in einem neutestamentlichen Text eine christologisch/ christlich motivierte Relecture eines alttestamentlichen Textes vorlag.“1018 Für Zenger hat dieses Vorgehen ein hohes theologisches Gewicht, denn es bindet das Christentum dauerhaft an die Bibel Israels und damit an das Judentum.
Ich empfehle insbesondere den letzten Abschnitt IV.5 Zusammenfassung: Die Hermeneutik der kanonischen Dialogizität als leserorientierter Ansatz (vor den Fussnoten und Endnoten) zu lesen. Diese drei Absätze fassen die lange Erörterung noch mal zusammen.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

Antworten