Halman hat geschrieben:
Zitat aus
Kanonische Schriftauslegung am Beispiel des Psalters:
"Im Mittelpunkt des canonical criticism werden nicht die Einleitungsfragen nach Quellen und Einheitlichkeit stehen, die die Traditionsgeschichtler so sehr beschäftigt haben, sondern vielmehr die Fragen nach Wesen und Funktion der aufgenommenen Tradition. Wenn eine Tradition in einer bestimmten Situation zugrunde gelegt wird, müssen wir davon ausgehen, daß sie in dieser Lage als dienlich empfunden wurde: Sie sollte eine Aufgabe erfüllen, und aus diesem Grund nahm man sie auf. Im Zentrum des canonical criticism stehen die Fragen nach dem Wesen der Autorität und nach der Hermeneutik, der gemäß diese Autorität in der Situation, in der sie gebraucht wurde, eingesetzt wurde. Welcher Art waren die Bedürfnisse der Gemeinschaft und wie wurde ihnen begegnet?"
Lies sich diese Erklärung wirklich sooo unwissenschaftlich?
Ja, sie liest sich ab einem bestimmten Punkt auf tückisiche Weise unwissenschaftlich.
Ich werde das jetzt versuchen zu erklären.
Muss allerdings davon absehen, dass ich den Kontext dieser Erklärung nicht kenne und dadurch möglicherweise den Ausschnitt falsch verstehe.
Ich tue jetzt also so, als sei dieser Text "wissenschaftlich" in der Form, wie Du ihn liest, und zeige auf, dass das nicht der Fall ist.
Dass der Text in Wirklichkeit also vielleicht auf ganz anderes hinauswill, klammere ich hier aus.
Was Du hier schreibst ->
Halman hat geschrieben:
Die Frage, warum gewisse Texte aufgenommen wurden und andere nicht, ist doch berechtigt. Die Textsammlung in Qumran spricht doch für einen "Kanon" (eine Textdradition mit gemeinsamer Textsammlung) oder nicht?
ist natürlich eine richtig gestellte Frage.
Der Text oben aber macht einen raffinierten Schlenker, verwischt - möglicherweise bewusst - die Grenze zwischen wissenschaftlicher Fragestellung und unwissenschaftlicher Antwort, und das zeige ich jetzt mal auf:
Diese Aussage hier
Im Mittelpunkt des canonical criticism werden nicht die Einleitungsfragen nach Quellen und Einheitlichkeit stehen, die die Traditionsgeschichtler so sehr beschäftigt haben, sondern vielmehr die Fragen nach Wesen und Funktion der aufgenommenen Tradition
und ihre Fragestellung ist wissenschaftlich korrekt. Denn:
Wir haben seit langem in der Literaturwissenschaft die "Rezeptionsgeschichte" (Historie der Deutungen) und "Rezeptionswissenschaft" (Wissenschaft der Deutungen)- sie untersucht also, und das fasse ich als Teil der historisch-kritischen Forschung auf -, wie sich die Sicht auf ein Werk im Laufe der Jahrhunderte oder gar Jahrtausende gewandelt hat.
Das ist gerade für die Theologie ein gutes wissenschaftliches Instrument, weil die Evangelien selber bereits Deutung oder Interpretation sind von Ereignissen, die historisch kaum fassbar sind.
Die Evangelien wären dann sozusagen das erste Rezeptionsdokument.
Und dann kommt natürlich die Fragestellung irgendwann hinein, und sie entspricht wissenschaftlichen Anforderungen:
Wie kam die Kanonbildung zustande?
Das wird sowohl von Dir - siehe Zitat - als auch von dem von Dir zitierten Ausschnitt zur Kanonbildung gefragt, und diese Frage ist wissenschaftlich sowohl korrekt gestellt als auch beantwortbar.
Denn die Kanonbildung ist ein entscheidender Teil der Rezeptionsgeschichte der Evangelien und der biblischen Bücher überhaupt.
Da hört die Rezeptionsgeschichte natürlich nicht auf, es kommen die verschiedenen Übersetzungen, die verschiedenen kirchlichen Deutungen und außerkirchlichen Deutungen etc. hinzu.
So. Das von mir Zitierte scheint mir also eine wissenschaftlich korrekte Fragestellung.
Dann kommt der nächste Satz, den ich nun zitiere ->
Wenn eine Tradition in einer bestimmten Situation zugrunde gelegt wird, müssen wir davon ausgehen, daß sie in dieser Lage als dienlich empfunden wurde:
Was ich blau markiert habe, beinhaltet das, was ich als den "unwissenschaftlichen Schlenker" charakterisiert habe.
"müssen wir davon ausgehen" - ist keine korrekte wissenschaftliche Aussage.
Damit wird nämlich bereits beantwortet, was erst wissenschaftlich untersucht werden müsste:
wie die Kanonbildung zustande kam.
In den jungen Gemeinden war es zwar vermutlich tatsächlich so, dass man Texte sammelte, die für den Gottesdienst "dienlich" waren - aber die Kanonbildung insgesamt ging weit darüber hinaus und hatte jede Menge anderer Gründe, politischer Natur usw..
Dieses "dienlich" ist so vage gefasst, dass es aussehen soll, als sei das was Gutes, dem sich die heutige Gemeinde zu unterwerfen habe.
Wenn es aber "dienlich" für Machtinteressen war, dann ist es nichts Gutes mehr, und das wird verschwiegen.
Die Antwortsuche wird hier also kanalisiert, ein wissenschaftlich-ordentliches Sammeln, Ordnen und Auswerten aller Kriterien der Kanonentstehung wird durch die Einengung blockiert.
Genau an dieser Stelle hat sie den Boden der wissenschaftlichen Untersuchung verlassen und wird tendenziös.
Halman hat geschrieben:Folgender Satz bringt den hermeneutischen Ansatz meiner Meinung nach auf den Punkt:
Es geht diesem Ansatz also um die Identität einer Glaubensgemeinschaft, wie sie sich in den Texten ausdrückt, die sie akzeptiert und tradiert, weil sie als wichtig erkannt werden.
Ist dieser Ansatz nicht eine gute Ergänzung zur historischen-kritischen Exegese?
Ich habe keine Ahnung, was Du unter "hermeneutischem Ansatz" verstehst.
Hermeneutisches Lesen heißt erst mal nur: Ich lese ein Buch durch, und wenn ich den Schluss kenne, lese ich noch mal von vorne, weil sich nun der erste Satz aus dem ganzen Buch heraus anders liest, als ich das Buch in seiner Gesamtheit noch nicht kannte.
Das ist eine METHODE, die in der Literaturwissenschaft ganz selbstverständlich ist. Man kann doch nicht den ersten Absatz einer Abhandlung verstehen - und deuten -, bevor man nicht den Geist der ganzen Abhandlung drauf hat. Also: ein Teil muss das Ganze einbeziehen, das Ganze muss die Teile einbeziehen.
Und was "das Ganze" ist, ist bei einem Buch eigentlich klar.
Bei einer Kanonbildung aber ist es nicht klar, weil die historisch entstanden ist.
Was Dein Zitat ausdrückt, hat ein ganz anderes Ziel und hat mit Wissenschaft überhaupt nichts mehr zu tun.
Die Antwort, die gegeben wird - "weil sie als wichtig erkannt werden" - ist eine Behauptung, die eine wissenchaftliche Untersuchung wahrscheinlich widerlegen würde. Sie ist einseitig und darum tendenziös.
Die Kanonbildung soll als "sinnvoll" der Gemeinde erläutert werden, und das ist ein extremer Mangel an Ergebnisoffenheit.
Das ist so, als würde man in der DDR jemanden beauftragt haben, "nachzuweisen", dass die Bildung der DDR gut für die Leute sei.
Wissenschaften haben solche Ziele nicht zu verfolgen, weil sie dann werten und bewusst nur das aufnehmen, was dem gestellten Ziel - nachweisen, dass das Dingen was Gutes und Sinnvolles ist - dient. Das andere wird nicht aufgenommen.
Halman hat geschrieben:
Bezüglich des "kanonischen Prozeßes" sei angemerkt:
Kanon ist also nicht nur ein statischer Begriff, der den Umfang von relevanten Büchern angibt, sondern eine dynamische Kategorie für den Prozeß der Normativitätsfindung von Texten in der Glaubensgemeinschaft.
"Normativ", also Normen vorgebend ist das Gegenteil von Wissenschaft. Insofern versteht sich dieser Text selber höchstwahrscheinlich gar nicht als wissenschaftlich.
Münek hat geschrieben:Halman hat geschrieben:Das Problem, dass ich bei der Verbindung von kanonischer Exegese und historisch-kritische Methode sehe ist der
"Spagat" von
Synchronie und Diachronie.
Diachronie und Synchronie werden in den Fachwissenschaften als separate, sich methodisch ausschließende Ansätze betrachtet. Einige Wissenschaftler wie Jack Goody (Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, 1986/1990) setzen sich jedoch bewusst über diese methodologischen Einschränkungen hinweg.
Vorab: Was glaubst Du, wieviele unserer Leser wissen, was unter den Begriffen "
Synchronie" und "
Diachronie"
zu verstehen ist? Wahrscheinlich so gut wie keiner - mich natürlich eingeschlossen....
Die Begriffe stammen ursprünglich aus der Sprachwissenschaft.
Beispiel:
Das Wort "Geist" kann sprachhistorisch erklärt werden - also man zeigt auf, wie dieser deutsche Begriff seit seiner Entstehungszeit sich in der Bedeutung und Vielfalt entwickelt hat. Das wäre DIACHRON, historisch, vertikal.
SYNCHRON wäre, wenn ich einen Querschnitt durch das Jahr 2014 mache bezüglich der Anwendung des Begriffes "Geist".
Da sammelt man alle Anwendungen und - das ist das Wichtigste - ordnet sie in das Sprachsystem ein.
Welche Begriffe gibt es, die so ähnlich sind wie "Geist", worin unterscheiden sie sich, und - noch wichtiger - was ist ihr Gegenbegriff.
Die Funktion des Begriffes "Geistes" wird dadurch erforscht in der Gesellschaft des Jahres 2014.
Diachronische Untersuchung fragt also nach den historischen Sinn-Veränderungen des einen Wortes "Geist",
synchrone Untersuchung fragt nach der FUNKTION des Wortes "Geist" innerhalb der sprechenden deutschsprachigen Bevölkerung in einem engen Zeitraum.
Beides sind wissenschaftliche Methoden.
Theoretisch kann man sie auch kombinieren, indem man das synchrone Ergebnis von 2013 mit dem synchronen Ergebnis von 2012 vergleicht, was dann eine hinzugefügte, ergänzende historische Fragestellung wäre.