Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

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Halman
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#1021 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Halman » Mo 10. Aug 2015, 22:19

@Münek :thumbup:

Geht doch!

Das Problem, dass ich bei der Verbindung von kanonischer Exegese und historisch-kritische Methode sehe ist der "Spagat" von Synchronie und Diachronie.
Diachronie und Synchronie werden in den Fachwissenschaften als separate, sich methodisch ausschließende Ansätze betrachtet. Einige Wissenschaftler wie Jack Goody (Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, 1986/1990) setzen sich jedoch bewusst über diese methodologischen Einschränkungen hinweg.
Wenn es in der Ratzinger-Exegese gelingt, beide Hermeneutiken erfolgreich zu verbinden, sehe ich grundsätzlich kein Problem darin, denn immerhin absolvierte Joseph Ratzinger eine beeidruckende akadamische Laufbahn. Seine tiefen fachlichen Kenntnisse sind schwerlich redlich anzweifelbar. Allerdings muss ich auch zugeben, dess der emeritierte Papst kein unabhängiger Experte ist.
Auch Prof. Erich Zenger ist ein Vertreter der kanonischen Exegese und ich vermochte in seinen anspruchsvollen PDF-Dokumenten nichts unvwissenschsaftliches zu finden.

Zitat aus Kanonische Schriftauslegung am Beispiel des Psalters:
"Im Mittelpunkt des canonical criticism werden nicht die Einleitungsfragen nach Quellen und Einheitlichkeit stehen, die die Traditionsgeschichtler so sehr beschäftigt haben, sondern vielmehr die Fragen nach Wesen und Funktion der aufgenommenen Tradition. Wenn eine Tradition in einer bestimmten Situation zugrunde gelegt wird, müssen wir davon ausgehen, daß sie in dieser Lage als dienlich empfunden wurde: Sie sollte eine Aufgabe erfüllen, und aus diesem Grund nahm man sie auf. Im Zentrum des canonical criticism stehen die Fragen nach dem Wesen der Autorität und nach der Hermeneutik, der gemäß diese Autorität in der Situation, in der sie gebraucht wurde, eingesetzt wurde. Welcher Art waren die Bedürfnisse der Gemeinschaft und wie wurde ihnen begegnet?"
Lies sich diese Erklärung wirklich sooo unwissenschaftlich? Die Frage, warum gewisse Texte aufgenommen wurden und andere nicht, ist doch berechtigt. Die Textsammlung in Qumran spricht doch für einen "Kanon" (eine Textdradition mit gemeinsamer Textsammlung) oder nicht?
Folgender Satz bringt den hermeneutischen Ansatz meiner Meinung nach auf den Punkt:
Es geht diesem Ansatz also um die Identität einer Glaubensgemeinschaft, wie sie sich in den Texten ausdrückt, die sie akzeptiert und tradiert, weil sie als wichtig erkannt werden.
Ist dieser Ansatz nicht eine gute Ergänzung zur historischen-kritischen Exegese?
Bezüglich des "kanonischen Prozeßes" sei angemerkt:
Kanon ist also nicht nur ein statischer Begriff, der den Umfang von relevanten Büchern angibt, sondern eine dynamische Kategorie für den Prozeß der Normativitätsfindung von Texten in der Glaubensgemeinschaft.
Freilich gibt es auch ein Problem bei diesem hermeneutischen Ansatz, da sie vom Dreischritt-Aufbau des Kanons ausgeht, der zwar in beiden Testamenten zu finden ist, doch in der LXX findet sich ein Vierschritt-Aufbau.
... Die Gestalt des Kanons der hebräischen Bibel im Dreischritt Tora, Propheten, Schriften unterscheidet sich wesentlich von der ebenso absichtlichen Gliederung der Septuaginta in die vier Teile Tora, Geschichte, Weisheit, Prophetie.

Dieses Problem hat z.B. dazu geführt, daß in der neuesten katholischen Einleitung zum Alten Testament von Erich Zenger und anderen die dreigeteilte jüdische Bibel und das viergeteilte Alte Testament gleichermaßen ins Blickfeld gerückt werden.

Durch den canonical approach ist paradoxerweise stärker der Pluralismus in den biblischen Texten ins Bewußtsein getreten - mit all seinen Chancen und Problemen.
So Problematisch erscheint mir dies allerdings nicht nicht, wenn man die Torah in "Unvergleichlichkeits-Dimension" als Gründungsgeschehen versteht, worauf sich sowohl im Ersten - wie auch im Zeiten Testament ein Dreitschritt in Form von "Geschichte" (Vergangenheit), "Weisheit" (Gegenwart) und Prophetie (Zukunft) erkennen lässt.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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#1022 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Münek » Di 11. Aug 2015, 00:18

Halman hat geschrieben:Das Problem, dass ich bei der Verbindung von kanonischer Exegese und historisch-kritische Methode sehe ist der "Spagat" von Synchronie und Diachronie.
Diachronie und Synchronie werden in den Fachwissenschaften als separate, sich methodisch ausschließende Ansätze betrachtet. Einige Wissenschaftler wie Jack Goody (Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, 1986/1990) setzen sich jedoch bewusst über diese methodologischen Einschränkungen hinweg.

Vorab: Was glaubst Du, wieviele unserer Leser wissen, was unter den Begriffen "Synchronie" und "Diachronie"
zu verstehen ist? Wahrscheinlich so gut wie keiner - mich natürlich eingeschlossen.... :roll:


Zum Thema

Wie Du bestätigst, betrachten die Fachwissenschaftler die... ähm äh... "Dingsbums" (siehe oben) als sich metho-
disch ausschließende Ansätze.
Eine glasklare und richtige Feststellung, die allerdings einige "dogmatisch Frit-
tierte
" (der Ausdruck ist mir gerade so eingefallen :devil: , muss ich mir merken) so "nicht hinnehemen wollen"...

Ich habe es verständlicher ausgedrückt: Glaube und Wissenschaft sind nicht kompatibel.

Der Versuch die "historische Exegese" (Wissenschaft) mit der "kanonischen Exegese" (Gottesglaube) "irgendwie
zusammenzubringen
" - unter der Hegemonie (Vorherrschaft) des Glaubens selbstverständlich -, gleicht dem Ver-
such, ein "hölzernes Eisen" schmieden zu wollen.


Lieber Ratzinger, das wird nicht klappen...

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Zeus
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#1023 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Zeus » Di 11. Aug 2015, 00:44

Münek hat geschrieben:
Halman hat geschrieben:Das Problem, dass ich bei der Verbindung von kanonischer Exegese und historisch-kritische Methode sehe ist der "Spagat" von Synchronie und Diachronie.
Diachronie und Synchronie werden in den Fachwissenschaften als separate, sich methodisch ausschließende Ansätze betrachtet. Einige Wissenschaftler wie Jack Goody (Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, 1986/1990) setzen sich jedoch bewusst über diese methodologischen Einschränkungen hinweg.
Wie Du bestätigst, betrachten die Fachwissenschaftler die... ähm äh... "Dingsbums" (siehe oben) als sich methodisch ausschließende Ansätze. Eine glasklare und richtige Feststellung, die allerdings einige "dogmatisch Frittierte" (der Ausdruck ist mir gerade so eingefallen :devil: , muss ich mir merken) so "nicht hinnehemen wollen"...
Ich habe es verständlicher ausgedrückt: Glaube und Wissenschaft sind nicht kompatibel.
Der Versuch die "historische Exegese" (Wissenschaft) mit der "kanonischen Exegese" (Gottesglaube) "irgendwie zusammenzubringen" - unter der Hegemonie (Vorherrschaft) des Glaubens selbstverständlich -, gleicht dem Versuch, ein "hölzernes Eisen" schmieden zu wollen.
Lieber Ratzinger, das wird nicht klappen...
Es sei denn, der Ratzfatz würde sich bei dem Spagat ein Bein ausreißen. :lol:
e^(i*Pi) + 1 = 0
Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen, noch nicht einmal existieren muss.
(Charles Baudelaire, frz. Schriftsteller, 1821-1867)

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#1024 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Münek » Di 11. Aug 2015, 01:55

Halman hat geschrieben: Wenn es in der Ratzinger-Exegese gelingt, beide Hermeneutiken erfolgreich zu verbinden, sehe ich grundsätzlich kein Problem darin, denn immerhin absolvierte Joseph Ratzinger eine beeidruckende akadamische Laufbahn. Seine tiefen fachlichen Kenntnisse sind schwerlich redlich anzweifelbar. Allerdings muss ich auch zugeben, dess der emeritierte Papst kein unabhängiger Experte ist.

Ich bezweifle keine Sekunde, dass Ratzinger über "tiefe fachliche Kenntnisse" verfügt.

Aber... er ist in erster Linie Dogmatiker, also insofern - wie Du schon richtig schreibst - "kein unabhängiger Experte".
Er versucht aus seinem Glauben heraus die "Quadratur des Kreises", obwohl ihm sein hoher Verstand eigentlich sagen
müsste, dass dies nicht möglich ist.

Mir missfällt, wie er "von oben herab" und "von hintenherum" in seinem "Jesusbuch" mit der "historisch-kritischen Ausle-
gungsmethode" - meist auf "subtile" Art - ins Gericht geht. Anmaßend! Das erinnert mich an closs, der immer wieder ver-
sucht, die etablierte wissenschaftliche Exegese unsinnigerweise zur "Hilfswissenschaft" zu degradieren.


PS

Als ich vor Jahren Ratzingers Jesusbuch (Band I) zum ersten Mal gelesen habe, musste ich nicht nur einmal fassungslos
über seine "höchst eigenwillig-abwegigen Interpretationen der Evangelientexte" mit den Kopf schütteln. Dass ich mit
meiner laienhaften Fassungslosigkeit nicht ganz daneben lag, wurde mir später durch des Büchlein (153 Seiten) "Das Je-
susbild des Papstes - Über Joseph Ratzingers kühnen Umgang mit den Quellen"-
vom evangelischen Theologieprofes-
sor Gerd Lüdemann bestätigt.

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#1025 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Münek » Di 11. Aug 2015, 03:37

Halman hat geschrieben:Folgender Satz bringt den hermeneutischen Ansatz meiner Meinung nach auf den Punkt:
Es geht diesem Ansatz also um die Identität einer Glaubensgemeinschaft, wie sie sich in den Texten ausdrückt, die sie akzeptiert und tradiert, weil sie als wichtig erkannt werden.
Ist dieser Ansatz nicht eine gute Ergänzung zur historischen-kritischen Exegese?

Nein! Völlig ausgeschlossen. Die historisch-kritische Exegese bedarf keiner "kanonischen" Ergänzung.
Diese "Ergänzung" führte - um eines von Kurts Lieblingswörtern zu gebrauchen - zu ihrer "Kontaminati-
on
" (= Beschmutzung, Verunreinigung) - und letzendlich zu ihrem Untergang.

Wir sollten es vernünftigerweise beim Status quo belassen (haben wir eh nicht zu entscheiden ;) .) Näm-
lich hier die unabhängige Wissenschaft, dort die abhängige Dogmatik. Ich bin überzeugt davon, dass sich
die "Ratzinger-Exegese" (Interessierte bitte googeln) nicht an den theologischen Fakultäten etablieren wird.

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#1026 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Savonlinna » Di 11. Aug 2015, 10:49

Halman hat geschrieben:
Zitat aus Kanonische Schriftauslegung am Beispiel des Psalters:
"Im Mittelpunkt des canonical criticism werden nicht die Einleitungsfragen nach Quellen und Einheitlichkeit stehen, die die Traditionsgeschichtler so sehr beschäftigt haben, sondern vielmehr die Fragen nach Wesen und Funktion der aufgenommenen Tradition. Wenn eine Tradition in einer bestimmten Situation zugrunde gelegt wird, müssen wir davon ausgehen, daß sie in dieser Lage als dienlich empfunden wurde: Sie sollte eine Aufgabe erfüllen, und aus diesem Grund nahm man sie auf. Im Zentrum des canonical criticism stehen die Fragen nach dem Wesen der Autorität und nach der Hermeneutik, der gemäß diese Autorität in der Situation, in der sie gebraucht wurde, eingesetzt wurde. Welcher Art waren die Bedürfnisse der Gemeinschaft und wie wurde ihnen begegnet?"
Lies sich diese Erklärung wirklich sooo unwissenschaftlich?
Ja, sie liest sich ab einem bestimmten Punkt auf tückisiche Weise unwissenschaftlich.

Ich werde das jetzt versuchen zu erklären.
Muss allerdings davon absehen, dass ich den Kontext dieser Erklärung nicht kenne und dadurch möglicherweise den Ausschnitt falsch verstehe.
Ich tue jetzt also so, als sei dieser Text "wissenschaftlich" in der Form, wie Du ihn liest, und zeige auf, dass das nicht der Fall ist.
Dass der Text in Wirklichkeit also vielleicht auf ganz anderes hinauswill, klammere ich hier aus.

Was Du hier schreibst ->

Halman hat geschrieben: Die Frage, warum gewisse Texte aufgenommen wurden und andere nicht, ist doch berechtigt. Die Textsammlung in Qumran spricht doch für einen "Kanon" (eine Textdradition mit gemeinsamer Textsammlung) oder nicht?
ist natürlich eine richtig gestellte Frage.

Der Text oben aber macht einen raffinierten Schlenker, verwischt - möglicherweise bewusst - die Grenze zwischen wissenschaftlicher Fragestellung und unwissenschaftlicher Antwort, und das zeige ich jetzt mal auf:

Diese Aussage hier
Im Mittelpunkt des canonical criticism werden nicht die Einleitungsfragen nach Quellen und Einheitlichkeit stehen, die die Traditionsgeschichtler so sehr beschäftigt haben, sondern vielmehr die Fragen nach Wesen und Funktion der aufgenommenen Tradition
und ihre Fragestellung ist wissenschaftlich korrekt. Denn:

Wir haben seit langem in der Literaturwissenschaft die "Rezeptionsgeschichte" (Historie der Deutungen) und "Rezeptionswissenschaft" (Wissenschaft der Deutungen)- sie untersucht also, und das fasse ich als Teil der historisch-kritischen Forschung auf -, wie sich die Sicht auf ein Werk im Laufe der Jahrhunderte oder gar Jahrtausende gewandelt hat.

Das ist gerade für die Theologie ein gutes wissenschaftliches Instrument, weil die Evangelien selber bereits Deutung oder Interpretation sind von Ereignissen, die historisch kaum fassbar sind.
Die Evangelien wären dann sozusagen das erste Rezeptionsdokument.
Und dann kommt natürlich die Fragestellung irgendwann hinein, und sie entspricht wissenschaftlichen Anforderungen:
Wie kam die Kanonbildung zustande?

Das wird sowohl von Dir - siehe Zitat - als auch von dem von Dir zitierten Ausschnitt zur Kanonbildung gefragt, und diese Frage ist wissenschaftlich sowohl korrekt gestellt als auch beantwortbar.
Denn die Kanonbildung ist ein entscheidender Teil der Rezeptionsgeschichte der Evangelien und der biblischen Bücher überhaupt.
Da hört die Rezeptionsgeschichte natürlich nicht auf, es kommen die verschiedenen Übersetzungen, die verschiedenen kirchlichen Deutungen und außerkirchlichen Deutungen etc. hinzu.

So. Das von mir Zitierte scheint mir also eine wissenschaftlich korrekte Fragestellung.
Dann kommt der nächste Satz, den ich nun zitiere ->

Wenn eine Tradition in einer bestimmten Situation zugrunde gelegt wird, müssen wir davon ausgehen, daß sie in dieser Lage als dienlich empfunden wurde:
Was ich blau markiert habe, beinhaltet das, was ich als den "unwissenschaftlichen Schlenker" charakterisiert habe.
"müssen wir davon ausgehen" - ist keine korrekte wissenschaftliche Aussage.
Damit wird nämlich bereits beantwortet, was erst wissenschaftlich untersucht werden müsste:
wie die Kanonbildung zustande kam.
In den jungen Gemeinden war es zwar vermutlich tatsächlich so, dass man Texte sammelte, die für den Gottesdienst "dienlich" waren - aber die Kanonbildung insgesamt ging weit darüber hinaus und hatte jede Menge anderer Gründe, politischer Natur usw..
Dieses "dienlich" ist so vage gefasst, dass es aussehen soll, als sei das was Gutes, dem sich die heutige Gemeinde zu unterwerfen habe.
Wenn es aber "dienlich" für Machtinteressen war, dann ist es nichts Gutes mehr, und das wird verschwiegen.

Die Antwortsuche wird hier also kanalisiert, ein wissenschaftlich-ordentliches Sammeln, Ordnen und Auswerten aller Kriterien der Kanonentstehung wird durch die Einengung blockiert.
Genau an dieser Stelle hat sie den Boden der wissenschaftlichen Untersuchung verlassen und wird tendenziös.

Halman hat geschrieben:Folgender Satz bringt den hermeneutischen Ansatz meiner Meinung nach auf den Punkt:
Es geht diesem Ansatz also um die Identität einer Glaubensgemeinschaft, wie sie sich in den Texten ausdrückt, die sie akzeptiert und tradiert, weil sie als wichtig erkannt werden.
Ist dieser Ansatz nicht eine gute Ergänzung zur historischen-kritischen Exegese?
Ich habe keine Ahnung, was Du unter "hermeneutischem Ansatz" verstehst.

Hermeneutisches Lesen heißt erst mal nur: Ich lese ein Buch durch, und wenn ich den Schluss kenne, lese ich noch mal von vorne, weil sich nun der erste Satz aus dem ganzen Buch heraus anders liest, als ich das Buch in seiner Gesamtheit noch nicht kannte.

Das ist eine METHODE, die in der Literaturwissenschaft ganz selbstverständlich ist. Man kann doch nicht den ersten Absatz einer Abhandlung verstehen - und deuten -, bevor man nicht den Geist der ganzen Abhandlung drauf hat. Also: ein Teil muss das Ganze einbeziehen, das Ganze muss die Teile einbeziehen.
Und was "das Ganze" ist, ist bei einem Buch eigentlich klar.
Bei einer Kanonbildung aber ist es nicht klar, weil die historisch entstanden ist.

Was Dein Zitat ausdrückt, hat ein ganz anderes Ziel und hat mit Wissenschaft überhaupt nichts mehr zu tun.
Die Antwort, die gegeben wird - "weil sie als wichtig erkannt werden" - ist eine Behauptung, die eine wissenchaftliche Untersuchung wahrscheinlich widerlegen würde. Sie ist einseitig und darum tendenziös.
Die Kanonbildung soll als "sinnvoll" der Gemeinde erläutert werden, und das ist ein extremer Mangel an Ergebnisoffenheit.
Das ist so, als würde man in der DDR jemanden beauftragt haben, "nachzuweisen", dass die Bildung der DDR gut für die Leute sei.

Wissenschaften haben solche Ziele nicht zu verfolgen, weil sie dann werten und bewusst nur das aufnehmen, was dem gestellten Ziel - nachweisen, dass das Dingen was Gutes und Sinnvolles ist - dient. Das andere wird nicht aufgenommen.

Halman hat geschrieben: Bezüglich des "kanonischen Prozeßes" sei angemerkt:
Kanon ist also nicht nur ein statischer Begriff, der den Umfang von relevanten Büchern angibt, sondern eine dynamische Kategorie für den Prozeß der Normativitätsfindung von Texten in der Glaubensgemeinschaft.
"Normativ", also Normen vorgebend ist das Gegenteil von Wissenschaft. Insofern versteht sich dieser Text selber höchstwahrscheinlich gar nicht als wissenschaftlich.


Münek hat geschrieben:
Halman hat geschrieben:Das Problem, dass ich bei der Verbindung von kanonischer Exegese und historisch-kritische Methode sehe ist der "Spagat" von Synchronie und Diachronie.
Diachronie und Synchronie werden in den Fachwissenschaften als separate, sich methodisch ausschließende Ansätze betrachtet. Einige Wissenschaftler wie Jack Goody (Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, 1986/1990) setzen sich jedoch bewusst über diese methodologischen Einschränkungen hinweg.
Vorab: Was glaubst Du, wieviele unserer Leser wissen, was unter den Begriffen "Synchronie" und "Diachronie"
zu verstehen ist? Wahrscheinlich so gut wie keiner - mich natürlich eingeschlossen.... :roll:

Die Begriffe stammen ursprünglich aus der Sprachwissenschaft.

Beispiel:
Das Wort "Geist" kann sprachhistorisch erklärt werden - also man zeigt auf, wie dieser deutsche Begriff seit seiner Entstehungszeit sich in der Bedeutung und Vielfalt entwickelt hat. Das wäre DIACHRON, historisch, vertikal.

SYNCHRON wäre, wenn ich einen Querschnitt durch das Jahr 2014 mache bezüglich der Anwendung des Begriffes "Geist".
Da sammelt man alle Anwendungen und - das ist das Wichtigste - ordnet sie in das Sprachsystem ein.
Welche Begriffe gibt es, die so ähnlich sind wie "Geist", worin unterscheiden sie sich, und - noch wichtiger - was ist ihr Gegenbegriff.
Die Funktion des Begriffes "Geistes" wird dadurch erforscht in der Gesellschaft des Jahres 2014.

Diachronische Untersuchung fragt also nach den historischen Sinn-Veränderungen des einen Wortes "Geist",
synchrone Untersuchung fragt nach der FUNKTION des Wortes "Geist" innerhalb der sprechenden deutschsprachigen Bevölkerung in einem engen Zeitraum.
Beides sind wissenschaftliche Methoden.

Theoretisch kann man sie auch kombinieren, indem man das synchrone Ergebnis von 2013 mit dem synchronen Ergebnis von 2012 vergleicht, was dann eine hinzugefügte, ergänzende historische Fragestellung wäre.

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#1027 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Münek » Do 13. Aug 2015, 21:53

Savonlinna hat geschrieben:
Halman hat geschrieben:Bezüglich des "kanonischen Prozeßes" sei angemerkt:
Kanon ist also nicht nur ein statischer Begriff, der den Umfang von relevanten Büchern angibt, sondern eine dynamische Kategorie für den Prozeß der Normativitätsfindung von Texten in der Glaubensgemeinschaft.
"Normativ", also Normen vorgebend ist das Gegenteil von Wissenschaft. Insofern versteht sich dieser Text selber höchstwahrscheinlich gar nicht als wissenschaftlich.

Dieser Analyse und Schlussfolgerung ist nichts hinzuzufügen.

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sven23
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#1028 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von sven23 » So 13. Sep 2015, 08:10

Der Theologe Gerd Lüdemann schreibt in seinem Buch: "Warum die Kirche lügen muß":

"Nun hat die seit 250 Jahren betriebene historische Kritik jeden einzelnen Vers der Bibel als Menschenwort zu verstehen gelehrt, so dass vom heiligen Status der Bibel wenig übrig geblieben ist. Wie hat man in der Kirche darauf reagiert?
....
Die Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984 samt Vorrede ist somit ein Beispiel für die heutige Stellung und für den Gebrauch der Bibel im Lager der evangelischen Kirche, das von der Bibelkritik geprägt ist.
Allerdings ist sofort darauf hinzuweisen, dass die Ergebnisse der historischen Kritik nicht konsequent in die Lutherbibel Eingang fanden. Im folgenden greife ich nur zwei Punkte heraus, die fast beliebig vermehrt werden könnten:
Erstens: In der Übersetzung des Alten Testaments sind unter anderem diejenigen Stellen fettgedruckt, die die Christenheit seit 2000 Jahren als Voraussagen auf Jesu Kommen angesehen hat und die alljährlich in Weihnachts- oder Karfreitagsgottesdiensten vorgelesen werden, Ich zitiere hier nur zwei:
Jes 7.14 dient als Prophezeiung der jungfräulichen Geburt Jesu:
"Siehe. eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel."
Jes 53,4-5 wird verstanden als Voraussage des Leidens Jesu:
"Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre, Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünden willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt."

Nun hat aber die Bibelkritik ein für allemal gezeigt, dass diejenigen Stellen des Alten Testaments, die von der christlichen Kirche als Voraussagen auf das Kommen Jesu angeführt werden, nichts mit diesem zu tun haben, sondern Personen der damaligen Zeit im Blick haben."


Lüdemann zeigt, daß die historische Kritik in der evangelischen Kirche weit mehr Berücksichtigung findet als in der katholischen, wenngleich auch nicht bis zur letzten Konsequenz.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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#1029 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von closs » So 13. Sep 2015, 08:47

sven23 hat geschrieben:Der Theologe Gerd Lüdemann schreibt in seinem Buch: "Warum die Kirche lügen muß"
Das sind die richtigen Titel für wissenschaftliche Bücher. :lol:

sven23 hat geschrieben:Lüdemann zeigt, daß die historische Kritik in der evangelischen Kirche weit mehr Berücksichtigung findet als in der katholischen
Die evangelische Kirche hat eine sehr unzureichende Fundamental-Theologie - da dreht sich schon mal das Fähnchen im Wind.

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sven23
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#1030 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von sven23 » So 13. Sep 2015, 08:52

closs hat geschrieben:Das sind die richtigen Titel für wissenschaftliche Bücher. :lol:
Lüdemann begründet es aber auch inhaltlich.

closs hat geschrieben: Die evangelische Kirche hat eine sehr unzureichende Fundamental-Theologie - da dreht sich schon mal das Fähnchen im Wind.
Oder sie geht einfach ehrlicher um mit den Erkenntnissen der HKM. Kanonische Exegese steht dem natürlich im Weg.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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