Nein, was du meinst, ist die Rezeption, also das, was man posthum aus ihm gemacht hat. Zunächst muss man das verstehen, was Jesus, auf Basis der Textquellen, gelehrt und verkündet hat.closs hat geschrieben: ↑So 24. Mär 2019, 08:58Vollkommen richtig. - Aber Zeiten und somit eine Verständnis-Hermeneutik ändern sich - das ist das, was ich als "neutestamentarischen Paradigmen-Wechsel" bezeichne. - Mit anderen Worten: Man muss Jesus auch unter neuer Verständnis-Hermeneutik untersuchen.
Was dann daraus gemacht wurde, ist eine andere Geschichte und wird hier von Kubitza kurz umrissen.
Es wäre nun jedoch sehr naiv anzunehmen, dass sich in den neutestamentlichen
Schriften die Wahrheit findet oder dass, wie die Kirche lange behauptet hat, der Heilige
Geist dafür gesorgt hat, dass im neutestamentlichen Kanon nur reine Lehre vorhanden
ist. Auch bereits in den neutestamentlichen Schriften findet sich frommer Betrug zur
höheren Ehre Gottes leider oft an der Tagesordnung, wenn auch nicht so dreist und
unverschämt wie in späteren Schriften. Es ist ein Glücksfall, dass wir in den synoptischen
Evangelien studieren können, wie die Evangelisten mit dem vorgefundenen Stoff
umgegangen sind. Hätten wir nur ein einziges Evangelium, könnten wir hierzu kaum
etwas sagen.
Vor allem wenn man vergleicht, was Lukas und Matthäus aus der Markusvorlage
gemacht haben, ergeben sich für den forschenden Historiker, aber auch für den kritischen
Christen erschreckende Ergebnisse. An Hunderten von Stellen haben Lukas und
Matthäus die Markusvorlage nicht nur sprachlich verbessert und ergänzt, umgestellt und
neu zusammengestellt, sondern auch mit ganz neuen Akzenten versehen und mit
unterschiedlicher theologischer Ausrichtung ausgestattet. Dazu wurden vielfach aus der
Feder der Evangelisten neue Worte und Taten Jesu ohne Skrupel hinzugefügt, andere
weggelassen. So viele Veränderungen allein in einer einzigen Stufe der Überlieferung,
noch dazu bei einer schriftlichen Vorlage! Dem Historiker graust es bei der Vorstellung,
welcher Wandel die Überlieferung von Jesus in der mündlichen Überlieferung schon
gehabt haben muss. Und die Änderungen wurden mit größter Selbstverständlichkeit
ausgeführt. Nirgendwo hat man den Eindruck, dass die Evangelisten bei ihrem Tun
irgendwelche Bedenken gehabt haben. Rücksicht auf die Quellen, Vorsicht bei derÜberlieferung,
Behutsamkeit bei der Tradierung – Tugenden eines modernen Historikers
sucht man bei den frommen Männern der frühen Kirche vergebens. Man hat viel mehr
den bestürzenden Eindruck, dass es den Evangelisten weniger um die genaue
Überlieferung von Jesus als vielmehr um die Illustrierung ihrer eigenen Theologie
mithilfe von Jesusworten gegangen ist. Denn man schreckte selbst davor nicht zurück,
Worte von Jesus, wenn es opportun schien, hinzuzuerfinden oder wegzulassen. Scheu
oder gar Ehrfurcht vor den Worten Jesu ist heute noch in vielen frommen Bibelkreisen
ein Grundgefühl. Mit solchen Sentimentalitäten jedoch haben sich die Evangelisten nicht
aufgehalten. Man strich, verbesserte, positionierte um, verstärkte, schwächte ab,
korrigierte, erfand hinzu, beschönigte, entschärfte, interpretierte, theologisierte und
konstruierte. Die Evangelisten waren eher Schöpfer als Bewahrer, ihre Werke mehr
Predigten als Biografien.
Kubitza, Der Jesuswahn