closs hat geschrieben:Zudem: Ich habe den Eindruck, dass die sog. "Aufklärung" viel Gewicht auf den Einzelnen verschoben hat. - Man scheint sich deshalb gelegentlich überhaupt nicht mehr vorstellen zu können, dass es "Realität" jenseits der eigenen Wahrnehmung und Vorstellung geben kann - und ist somit verführt, alles an der eigenen Wahrnehmung/Messung zu messen.
Vielleicht war das vor hundertzwanzig Jahren so, und auch da nur in gewissen Gruppierungen: inzwischen ist das längst anders.
Was meinst Du, warum der faschistoide Rausch - unter anderem - eingetreten ist:
weil man in der Masse und im Gehorsam gegen einen "Führer" sein Ego aufgeben kann. Es ist zwar ein kranker und gefährlicher Versuch, die Grenzen der Individualität
in dieser Forum zu sprengen, aber nichtsdestotrotz als dieser Versuch erkennbar.
Die Gegenbewegung dazu nach 1945 versuchte diese kranke Gegenbewegung und ihre Auswüchse gegen den bereits verkalkten Rationalismus durch eine Haltung zu ersetzen, die ethisch hochwertig war: sie entschied sich, Wissenschaft auf - soweit es menschenmöglich war - Freiheit von Vorurteil zu gründen.
Damit haben wir, grob gesprochen, folgende Schritte innerhalb der geistigen Historie, und ich möchte Dich bitten, closs, das durchzumeditieren:
- Autoritäres Gehabe in der mittelalterlichen Kirche, Unterdrückung des Individuums und seiner Entfaltung
- Gegenbewegung der Aufklärung: Befreiung aus der geistigen Versklavung durch die Kirche, das Individuum muss sich entfalten
- Die Aufklärung wird teilweise einseitig, es zählt nur noch der Verstand, nicht mehr die innnere Wahrnehmung
- Gegenbewegung gegen diese verkalkte Aufklärung: das Gefühl, der Rausch wird wieder aktualisiert (Epochen des Sturm und Drang, der Romantik)
- Dann wieder Gegenbewegung gegen diesen Rausch
- Rationalismus und Irrationalismus wechseln sich ab bis zur Katastrophe in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts
- Nach 1945: Versuch der Selbstreinigung, indem man aus der Wissenschaft jegliche Ideologie, egal welcher Couleur, zu bannen sucht.
Ab den Sechziger Jahren treten diese beiden Pole - Rationalismus und Irrationalismus - erneut auf, in einer etwas anderen Spielart, aber deutlich erkennbar als der alte Kampf: zwischen Ich-Realisierung und Aufgabe des Ich.
In den späten Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts bis zur Jahrtausendwende erstarkt wieder der Irrationalismus, als Gegenbewegung zu der inzwischen als Übermacht empfundenen durchrationalisierten Welt:
- einerseits in religiösen Gruppierungen, wo der Führerkult wieder auflebt und die Sucht nach Aufgabe des Ichs überhand nimmt: Menschen lassen sich massenweise hypnotisieren durch unter anderem christliche Gurus,
- andererseits in der Popkultur, wo Massenfilme als Mainstream entstehen, in die die halbe Welt flüchtet, um dort ihr "Ich" zu vergessen und mit dem Kinopublikum gemeinsam an einer irrationalen Welt teilzuhaben.
Als Gegenbewegung zu diesen hypnotisierenden religiösen Gruppierungen entsteht ihrerseits nun wieder eine Gegenbewegung: der Neu-Atheismus.
Wer das nicht erkennt, wie unsere Kultur darum ringt, durch Auswüchse in beide Richtungen, etwas Drittes zu finden, das beides in sich vereinigt:
der ist selber zu sehr in diese Kämpte verwickelt, als dass er über sich selbst hinausgucken kann.
closs hat geschrieben: - Damit hat man sich eigentlich schon weitgehend gegen einen Gott-Glauben immunisiert - und merkt nicht mal das Opfer, das man damit bringt.
Das ist viel zu kurz gesehen und - wie ich immer meine - aus Nicht-Vertrauen zu "Gott" heraus gesprochen.
Du bist für mich der Prototyp desjenigen, der im 20. Jahrundert Gott nicht mehr sehen kann und unentwegt
die anderen anklagt, sie würden an die Existenz Gottes nicht mehr glauben.
Dieser "Glaube an" ist Ausdruck eines Verlustes von Urvertrauen.
Das erinnert mich ein bisschen an Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" von 1947, wo ein jammernder und hilfloser Gott auftritt, an den niemand mehr glaube, der aber keines der Argumente des - an Leib und Seele - todkranken Kriegsheimkehrers aufnimmt, der in einer Schlacht des Zweiten Weltkrieges sämtliche Werte verloren hat, weil er dem brutalen Tier im Menschen pur ins Gesicht hat sehen müssen.
Borcherts Gott hat keine Lösung dafür, er reflektiert das nicht. Er jammert nur.
Dein Urteil, closs, über die heutige Zeit, ist aus der Lieblosigkeit geboren, aus einem kalten und herzlosen Richten heraus - auch wenn Du persönnlich vermutlich ein warmherziger Mensch bist.
Aber wer das Bedürfnis nach Richten über andere in sich hat - und Du scheinst das in hohem Maße in Dir zu haben - landet bei der Selbstgerechtigkeit.
Er beurteilt alles nur noch auf der Basis seiner Person, die in dem Fall Gott nicht mehr in allem Geschehen sehen kann.
Du hörst den Schrei der Menschheit nicht.