Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

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piscator
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#61 Re: Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

Beitrag von piscator » Di 23. Sep 2014, 14:03

Doch - sie zeigt, dass jede Kultur, die sích neu formiert, Jahrhunderte braucht, bis sie funzt. - Gedankenexperiment: Glaubst Du, dass das Mittelalter wesentlich anders ausgesehen hätte, wenn es die klerikale Macht NICHT gegeben hätte? Hätte es dann schnellere technische Zivilisation gegenben? - Wenn ja: Von wem?
Technik und technologische Anwendungen entwickeln sich nur dann, wenn diese gebraucht werden, aber das ist kein Problem des Mittelalters und der Neuzeit, wo Technik und technologische Anwendungen regelrecht aufblühten.

Man muss weiter zurückgehen, bis in die Römerzeit, dort liegt m.E. der eigentliche Grund dafür, warum in Europa die technische Zivilisation sich erst spät entwickelt hat. Rom war eine Sklavenhaltergesellschaft, bei der die damalige Industrie durch billig verfügbare menschliche Arbeitskraft geprägt war. Wo Arbeitskräfte verfügbar sind, besteht kein Bedarf für die Entwicklung von Dampfmaschinen und dergleichen. Das gleiche sieht man an der Entwicklung des Geldwesens. Wer ein ausreichend großes Gebiet beherrscht und prägt, hat keinen Bedarf für Handelsstrukturen, wie diese Jahrhunderte später im heutigen Norditalien entwickelt wurden.

Das Mittelalter hatte andere Rahmenbedingungen, Völkerwanderung, Bevölkerungszuwachs und eine Anzahl vieler Fürstentümer, Königreiche und Einflussgebiete andere Art, waren die Initialzündung für den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt. Die Religion spielt da m.E. nur eine geringe Rolle, sofern ihre Machtstellung nicht angegriffen wird.
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Pluto
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#62 Re: Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

Beitrag von Pluto » Di 23. Sep 2014, 20:21

closs hat geschrieben:Außerdem bestreitet doch keiner, dass es mit der Entwicklung Europas immer mehr Zivilisation kam - natürlich war es unterm Strich im 16 Jh. besser als im 11. Jh. - Es wird hier nur der Eindruck erweckt, als hätte das klerikale Mittelalter sein Volk im Dreck gewälzt, bis dann die Aufklärung kam, die dem mit Wohlgerüchen aller Art ein Ende gesetzt habe. :lol:
Das hat mit Wohlgerüchen weniger zu tun, als mit der Freiheit des Denkens in einer Gesellschaft die dem Fortschritt positiv gegenüber steht.

Bestes Beispiel ist hier die Blütezeit Baghdads vom 9. - 11. Jahrhundert. Die Stadt war ein Schmelztiegel der unterschiedlichsten Völker. Juden, Christen, Mohammedaner und Ungläubige trafen sich an öffentlichen Orten um zu diskutieren und um neue Ideen zu besprechen.Dieser Gedankenaustausch förderte neue Ideen. Eine Welle der Aufklärung ging durch die Stadt, die in 200 Jahren zum Kultur und Technologiezentrum der damals bekannten Welt wurde. Die Blütezeit dieses "Silicon-Valley des Mittelalters" ging jäh zu Ende, als der ultrakonservative religiöse Fanatiker Hamid Al-Ghazali (1058-1111) an die Macht kam und alle Nicht-Moslems aus Baghdad vertreiben liess.

Technologischer Fortschritt war immer von Denk- und Glaubensfreiheit abhängig.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#63 Re: Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

Beitrag von closs » Di 23. Sep 2014, 20:41

Pluto hat geschrieben:Bestes Beispiel ist hier die Blütezeit Baghdads vom 9. - 11. Jahrhundert.
Das ist ein tolles Beispiel - es gibt sicherlich auch andere dieser Art. - Da gibt es zum Beispiel das Zusammenleben von Juden und Christen in Mittelalter und Neuzeit - wenn es einvernehmlichen Frieden gab, boomte die Volkswirtschaft. - Oder das Zusammenleben von Juden, Christen und Moslems im islamischen Spanien - wenn es Ruhe gab, war es gut für alle. - Oder die Politik Kaiser Friedrichs, der von Apulien aus das Deutsche Reich regierte - er war ein großer Araber-Freund, was zu einem regen Austausch geführt hat.

Pluto hat geschrieben:Freiheit des Denkens
Die Menschen haben sich schon im Mittelalter gedacht, was sie wollten. - Man wusste - wie in allen Systemen - , wo man besser stillhält, und ansonsten konnte man geradeheraus wirken.

Pluto hat geschrieben:Technologischer Fortschritt war immer von Denk- und Glaubensfreiheit abhängig.
Das ist leider nicht richtig - wenn Du mal guckst, was in er nationalsozialistischen Zeit an Erfolgs-Druck erfolgreich umgesetzt wurde (Kriegswirtschaft), oder dass der Sputnik aus der kommunistischen UdSSR kam.

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#64 Re: Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

Beitrag von Janina » Di 23. Sep 2014, 21:43

closs hat geschrieben:Gedankenexperiment: Glaubst Du, dass das Mittelalter wesentlich anders ausgesehen hätte, wenn es die klerikale Macht NICHT gegeben hätte? Hätte es dann schnellere technische Zivilisation gegenben? - Wenn ja: Von wem?
Man hätte vielleicht einfach die der Römer behalten? :roll:

closs hat geschrieben:Immerhin hat man sich von Napoleon bis Bush und Putin auf Vernunft bezogen - oder nicht?
Bush bezog sich eher auf Stimmen, die nur er hörte. Putin steht offen zu sich selbst. Vielleicht ist es in Russland wirklich vernünftig, für Putin zu sein. Vielleicht bleibt man dann länger am Leben. :lol:

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#65 Re: Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

Beitrag von Janina » Di 23. Sep 2014, 21:47

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Freiheit des Denkens
Die Menschen haben sich schon im Mittelalter gedacht, was sie wollten.
Höchstens was sie konnten. Guck doch R.F. an. Denken ist heute zwar jedem erlaubt, doch vielen bleibt es trotzdem erspart.

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#66 Re: Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

Beitrag von closs » Di 23. Sep 2014, 21:55

Janina hat geschrieben:Man hätte vielleicht einfach die der Römer behalten?
Die waren doch weg. - Und wie soll ein (ursprünglich nicht christlicher) Chlodwig eine technische Zivilisation nördlich der Alpen aus dem Boden stampfen. - Mit den Limes-Resten und ein paar Castra und Straßen? - Und "Italien" war weit weg - die Alpen.
Zuletzt geändert von closs am Di 23. Sep 2014, 21:55, insgesamt 1-mal geändert.

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#67 Re: Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

Beitrag von Pluto » Di 23. Sep 2014, 21:55

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Bestes Beispiel ist hier die Blütezeit Baghdads vom 9. - 11. Jahrhundert.
Das ist ein tolles Beispiel - es gibt sicherlich auch andere dieser Art.
Ja. Ich dachte, das Beispiel würde dir gefallen. :mrgreen:
Da gibt es zum Beispiel das Zusammenleben von Juden und Christen in Mittelalter und Neuzeit - wenn es einvernehmlichen Frieden gab, boomte die Volkswirtschaft.
Wann gab es denn solche Zeiten einvernehmlichen Friedens?

closs hat geschrieben:wenn Du mal guckst, was in er nationalsozialistischen Zeit an Erfolgs-Druck erfolgreich umgesetzt wurde (Kriegswirtschaft), oder dass der Sputnik aus der kommunistischen UdSSR kam.
Solche totalitäre Regime waren natürlich zu Einzelleistungen fähig, aber diese sprichwörtlichen "Erfolge" bewährten sich nicht uf Dauer. Die heutigen Namen von 80% aller mit bloßem Auge sichtbaren Sterne stammen aus jener Zeit in Baghdad. Wer erinnert sich noch an die Erfloge der Nazis oder an den Sputnik?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#68 Re: Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

Beitrag von closs » Di 23. Sep 2014, 22:08

Pluto hat geschrieben:Wer erinnert sich noch an die Erfloge der Nazis oder an den Sputnik?
Naja - jetzt versuchst Du Deinen Ansatz geschmeidig zu machen. ;)

Pluto hat geschrieben:Wann gab es denn solche Zeiten einvernehmlichen Friedens?
Wenn Ruhe war - egal ob es absolutistische oder "demokratische" Ruhe war. - Die Kalifate konnten Religionsfreiheit gewähren (und taten es auch gerne, wenn sie konnten, weil sie selber etwas davon hatten) - trotzdem waren es absolutistische Regierungsformen.

Vor ewigen Zeiten habe ich mal A. Hausers "Soziolgeschichte der Kunst und Literatur" gelesen - da stand vieles über den Alltag der Menschen in Früh-, Mittel- und Spätmittelalter drin - auch über deren Denkweisen. - Wenn ich mich recht erinnere, stand da, dass das System selbstverständlich formal autoritär war, man aber system-konform gut durch kam (wie heute halt auch).

Und immer wieder: Es gibt bestimmt Wissenschaftler, die in der Lage sind, Bevölkerungsdichte und Fortschritt zu korellieren. - Die Bevölkerung stieg im Hochmittelalter sehr stark an (auch bedingt durch eine "Mini-Warm-Zeit" über einige Generationen - die Pest steht im Zusammenhang mit dem Ende dieser "Min-Warm-Zeit") - die Städte wuchsen - es war Dynamik da - die Voraussetzungen für eine rasch wachsende Infrastruktur war in den Jahrhunderten zuvor geschaffen worden. - Und 1453 fiel dann auch noch Ostrom, dessen Gelehrten mehrheitlich in den Westen flohen. - Und so baut sich aus Urwald-Zuständen im Früh-Mittelalter nach und nach eine Zivilisation auf. - Und wie Du siehst: Diese Begründung funktioniert mit oder ohne Christentum.

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#69 Re: Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

Beitrag von Pluto » Di 23. Sep 2014, 22:36

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Wer erinnert sich noch an die Erfloge der Nazis oder an den Sputnik?
Naja - jetzt versuchst Du Deinen Ansatz geschmeidig zu machen. ;)
Ich erinnere nur an Tatsachen. :idea:

closs hat geschrieben:Wenn ich mich recht erinnere, stand da, dass das System selbstverständlich formal autoritär war, man aber system-konform gut durch kam (wie heute halt auch).
Ja. Man kam gut durch, aber die technologischen Fortschritte waren vor der Renaissance eher bescheiden. Die einzige dem Frieden dienende Erfindung, die ich kenne, war der Kehrpflug.

Es gibt bestimmt Wissenschaftler, die in der Lage sind, Bevölkerungsdichte und Fortschritt zu korellieren.
Wo findet man solche Korrelationen?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#70 Re: Die Vorherrschaft der westlichen Kultur

Beitrag von closs » Mi 24. Sep 2014, 01:31

Pluto hat geschrieben: die technologischen Fortschritte waren vor der Renaissance eher bescheiden.
Mag ja sein - aber wie ich ausgeführt habe, kann man das evolutionär erklären. - Wenn man im Busch anfängt, eine Kultur aufzubauen, dauert es eben Jahrhunderte. - Dass der Fall (des christlichen!!) Ostroms/Konstantinopel ein Segen für Mitteleuropa war, ist doch nicht bestritten. Es war halt ein Unterschied, ob man sein (christliche) Kultur in bereits kulturell vorbereiteten Gegenden aufbauen konnte oder jenseits der Alpen, wo vorher so gut wie nichts war.

Pluto hat geschrieben:Wo findet man solche Korrelationen?
Da würde ich bei Kultur- und Zivilisations-Forschern suchen - an unserer Uni war sogar ein Kultur-Geograph, der Zivilisation vom geographischen Aspekt beleuchtet hat.

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