Thaddaeus hat geschrieben: ↑Mo 19. Aug 2019, 20:12
Claymore hat geschrieben: ↑So 18. Aug 2019, 18:48
Thaddaeus hat geschrieben: ↑Sa 17. Aug 2019, 22:39
Wenn man fragt dann entfaltet diese rhetorische Frage nur deshalb auch seine rhetorische Überzeugungskraft, weil wir eine bestimmte Vorstellung von der Materie anlegen, nämlich die mechanistische, post-cartesische.
Die folgende Frage
lol hat geschrieben:Was, wenn nicht die Summe aller Elektronenfunktionen, soll das Coulomb-Potential eines Elektrons schon sein?
erscheint dagegen
offensichtlich absurd. Warum? Naja, weil ein Elektron ein Elementarteilchen ist und es nach augenblicklichem Kenntnisstand sinnfrei ist, da irgendetwas über Interaktionen der Einzelbestandteile (die es nicht gibt!) zu erklären.
Auf
aristotelische Weise interpretiert, ist ein Elektron eine Verbindung aus seiner substantiellen Form, der Elektronen-Form, und einem
abstrakten “Stoff” (der bei Zerstörung des Elektrons, z. B. bei Paarvernichtung, mit einer anderen Form wie der Photonen-Form verbunden ist). Das Coulomb-Potential des Elektrons ist dann etwas, was aus seiner Elektronen-Form hervorgeht.
Ich denke, ich verstehe deine Argumentation, und ich unterschreibe deine Diagnose, dass die Schwierigkeiten beim Verstehen der Verbindung von Körper und Geist, von Materie und Bewusstsein etc. letztlich darin begründet liegen, dass wir
"eine bestimmte Vorstellung von der Materie anlegen, nämlich die mechanistische, post-cartesische". Diese postcartesische Vorstellung bewirkt andererseits die dann intuitive Neigung, Geist, Bewusstsein, Qualia u.ä. selbst als mechanistisch bzw. sogar materiell aufzufassen, was aber (natürlich) nicht gelingen kann (da die Form nicht berücksichtigt wird).
Deine Lösung ist ein Rückgriff auf die aristotelische
Form, als demjenigen Nicht-Mechanistischem, welches hinzukommen muss zur Materie, damit aus Etwas das besondere individuelle Ding wird, welches es eben ist und das am Ende seine
Substanz ausmacht. (Wenn ich dich nicht korrekt interpretiere, musst du mich korrigieren).
So weit hast du mich richtig verstanden.
Ich teile deine Problemdiagnose.
Ich glaube aber, dass ein Rückgriff auf die aristotelische Ontologie der Materie-Form-Unterscheidung nicht radikal genug ist. Sie ist in meinen Augen nicht radikal genug, weil sie immer noch einer dichotomischen Wirklichkeitsbeschreibung Vorschub leistet, die zwar nicht so schlimm(!) ist wie Descartes radikale und unheilvolle Trennung von res extensa und res cogitans, aber das Begriffspaar Materie-Form spaltet eben das Materielle, welches als die Wirklichkeit aufgefasst wird, einfach nur wieder auf in eben Materie und Form.
Wobei bei Aristoteles “Materie” verdammt abstrakt zu verstehen ist. Nämlich als das, was die Veränderung der substantiellen Form überdauert.
Ich interpretiere Markus Gabriels Ontologie (die ich im Moment recht überzeugend finde) als radikalere Lösung des Problems:
Der stellt zunächst fest, dass es (aus formal logischen Gründen) ohnehin KEIN EINZELNES WELTBILD geben kann (egal welches), das die Wirklichkeit vollumfänglich beschreiben könnte. (So kommt er zu seinen Sinnfeldern. Zu existieren heißt in einem Sinnfeld zu erscheinen.)
Geist, Qualia, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Intelligenz, Zahlen, Mathematik, fiktionale Gegenstände und Figuren, also alle Äußerungsformen des menschlichen Geistes etc.etc. gehören immer schon zur Wirklichkeit. Sie sind exakt genau so wirklich, wie ein Tisch, eine Wand oder ein Stein, der irgendwo herumliegt. Die Menge aller in der Raumzeit überhaupt physisch existierenden Dinge und die physischen Dinge unserer makroskopischen Welt nennt Gabriel das Universum.
Die Wirklichkeit besteht aber aus der Menge aller Tatsachen, wozu es selbstverständlich gehört, dass Sherlock Holmes Pfeife raucht. Und das Holmes Pfeife raucht ist so real und wirklich wie der Mond als Erdtrabant oder der Tisch, an dem ich sitze.
Das Problem ist, dass mir das eine sehr “barocke” Ontologie zu sein scheint. Die Existenz von aristotelischen Formen anzunehmen ist noch dagegen relativ sparsam.
Vor allem sehe ich nicht, was der Erklärungsgehalt dieser Ontologie sein soll – ich hab Gabriel nicht gelesen, aber ich habe so gewisse Befürchtungen, dass das ganze zu
“es ist wie’s ist” kippt.
An anderer Stelle habe ich dies fassbar zu machen versucht durch folgendes:
Wenn wir eine Raumkapsel in den Orbit schießen, dann haben wir lauter dinglich-real existierende Dinge: eine Raumkapsel, Elektronik, Treibstoff, möglicherweise Astronauten als Besatzung, den Planeten Erde mit seiner Gravitation etc. Wir können aber auch exakt berechnen, wie der Flugverlauf sein wird und in welchem Winkel die Raumkapsel in die Atmosphäre eintreten muss, damit sie und der Astro- oder Kosmonaut darin nicht verglüht.
Wieso können aber unsere (geistigen) Berechnungen (und unsere Gedanken) auf die raumzeitliche Wirklichkeit passen? Weil sie zurWirklichkeit immer schon gehören! Die Flugbahn einer Raumkapsel korrekt zu berechnen ist nichts "Geistiges", welches merkwürdigerweise passt. Es passt vielmehr, weil es immer schon zu einer Raumkapsel gehört, die man in den Himmel schießt und die - wegen der Gravitation - wieder herunter kommt.
Die Erklärung, dass es zu einer Raumkapsel im Gravitationsfeld gehören muss, sich so zu bewegen wie die Theorie vorhersagt,
wenn die Theorie ihre Bewegungen vorhersagen kann – das ist offensichtlich wahr. Nur irgendwie tautologisch?
Was “merkwürdig” ist, ist sicherlich keine exakte Wissenschaft.
Üblicherweise wird der Rationalismus als merkwürdig angesehen, da nach ihm, in seiner moderatesten Formulierung, die Vernunft zu Wissen gelangen kann, das sich nicht (allein) aus Beobachtungen ergibt. Die Analysis im 17. Jahrhundert war z. B. zuallererst ein Werkzeug, Beweise eleganter durchzuführen als mit den Instrumenten der klassischen Geometrie. Als dann klar wurde, dass sie Erkenntnisse weit darüber hinaus liefern kann, fanden das viele damals merkwürdig. Warum kann der Mensch geistig Raum und Zeit so tief erfassen? Dass wir mit infinitesimalen Größen so herumhantieren können, müsste ja nicht so sein. Es sind mysteriöse Konstrukte (vgl.
The Analyst von George Berkeley).
Oftmals ging die Mathematik der Physik ja voraus, wie bei den komplexen Zahlen (Quantenmechanik) oder den Mannigfaltigkeiten (Relativitästheorie).
Ist es nicht auch umgekehrt so, dass eine Abweichung vom Gedachten überhaupt erst den Menschen auf eigenartige Kausalzusammenhänge aufmerksam macht? Wenn man 48 ml Wasser mit 52 ml Ethanol vermischt, ergibt das 96,3 ml Mischung und nicht 100 ml. Man belässt es in diesem Falle doch nicht dabei zu sagen “Hier ist die Mathematik halt nicht anwendbar, weiter geht’s”?
Die Trennung der Wirklichkeit in res extensa und res cogitans war der vermutlich schlimmste Fehler, der in der Philosophie je gemacht worden ist. Er manifestiert philosophisch ein intuitives Missverständnis des Menschen, nur die raumzeitlich existierenden Dinge für die Wirklichkeit zu halten.
Eigentlich mag ich Descartes.

Das Problem ist nur, dass ich mir sehr sicher bin, dass er komplett falsch liegt. Wie ich an anderer Stelle schon geschrieben habe:
Claymore hat geschrieben: ↑So 24. Mär 2019, 18:36
Descartes ist zwar der coole Philosoph des Cyberpunk (er hat
Ghost in the Shell inspiriert und allein dafür müsste man ihm dankbar sein) und sein System ist wirklich überaus faszinierend, wunderschön, elegant und – auch wenn es niemand zugeben mag – fundamental für die Naturwissenschaften und Moderne im Allgemeinen (“Far from being merely a passing episode in the history of philosophy, Cartesianism is in fact the secret history of Western civilization during the last three hundred years.” –
William Barrett) – aber ach je,
komplett falsch! Natürlich ist der wirkliche Descartes weitaus erträglicher als der im closs’schen Zerrspiegel erscheinende, aber trotzdem!