Thaddäus hat geschrieben:Hypothese: Kanonische Exegese ist nicht intersubjektiv nach Plausibilitätskriterien nachvollziehbar.
Beweis: Die Anwendung der kanonischen Exegese erfordert die vorausgehende explizite Glaubensentscheidung, dass die biblischen Schriften als einheitlicher Kanon auf Jesus als Christus, also auf Jesus als Erlöser und Gottessohn, zu interpretieren sei.
Deine Argumentation ist intelligent und nachvollziehbar - diesbezüglich keine Kritik meinerseits. - Trotzdem ist weder Deine Hypothese richtig noch Deine Begründung ein Beweis.
1) Deine Hypothese beinhaltet zwei Probleme:
1.1) Was ist "intersubjektiv"? - Aus meiner Sicht: Wenn eine Argumentationsführung auf Basis ihrer Vorannahmen von jedem intelligenten Menschen nachvollziehbar ist. - Wenn ich also setze, dass Du 4 Augen hast, ist es intersubjektiv nachvollziehbar, dass Du bei Sehschwäche eine Brille mit 4 Gläsern brauchst.
1.2) Was ist Plausibilität? - Aus meiner Sicht - auch hier: Was ist einleuchtend auf Basis einer Vorannahme? - Bei der Vorannahme eines naturalistischen Wirkungszusammenhangs (also bspw. keine Wunder) ist es plausibel, dass die leibliche Auferstehung ein Mythos, also historisch nicht real ist, während bei der Vorannahme der Existenz Gottes als Entität die leibliche Auferstehung einleuchtend ist.
Thaddäus hat geschrieben:Die "richtige" Interpretation eines Textes ist damit von einem expliziten vorausgehenden Glaubensentscheid abhängig und nicht davon, ob diese Interpretation Plausibilitätskriterien genügt.
Beispiel: closs eigene Uminterpretation der nachweislichen jesuanischen Nah- in eine unbesimmte Fernerwartung des kommenden Himmelreichs.
1) Auch Deine Interpretation ist von einem expliziten Glaubensentscheid abhängig, nämlich: "Ich glaube an ein Weltbild, wonach es einen naturalistischen Wirkungszusammenhang in der Geschichte gibt, also keine Wunder Teil der Geschichte sein können.
2) Die jesuanische (apokalyptische) Naherwartung ist Interpretation im Sinne Deines Glaubensentscheids (was nicht heißen soll, dass die Argumente dafür schlecht sind). - Die jesuanische Fernerwartung bzw. spirituelle Naherwartung ist Interpretation im Sinne meines Glaubensentscheids. - Wobei der Begriff "Entscheid" zu differenzieren ist - denn man muss nicht selber daran glauben, um etwas geistig nachvollziehen zu können und in diesem Sinne zu argumentieren.
Thaddäus hat geschrieben:Beispiel: Die textkritische Grundregel der "lectio difficilior potior" (die schwierigere Lesart ist die ursprünglichere).
Das ist sicher ein empirischer Wert, der zwar kein Gesetz ist (es gibt auch schwarze Schwäne), aber ganz sicher wertvoll ist bei der Untersuchung von Texten. - Ich würde übrigens einen anderen hinzufügen: Eine ältere Handschrift ist empirisch als authentischer zum Original zu verstehen als eine spätere. - Das Problem liegt woanders:
1) Was ist "Original"? - Normalerweise ist das Original der Ausgangspunkt dessen, worum es geht: Da hat einer meinetwegen im Jahr 1000 erstmals einen Text zum Thema x geschrieben, der seitdem mehrfach bearbeitet wird. - Wie auch immer man diese Abschriften/Rezeptionen qualifiziert: Das Original ist diese eine SChrift aus dem Jahr 1000.
Bei der Bibel ist es anders: Der Ausgangspunkt dessen, worum es geht, ist NICHT die erste (uns bekannte oder unbekannte) Evangelien-Quelle, sondern Jesus selbst. - Das heißt: Das, was die HKM als "Original" bezeichnet, ist bereits eine Rezeption.
2) Was ist "Rezeption" (= die geistige Aufnahme und Verarbeitung von etwas)? - Darunter kann man verstehen, was Du als Beispiel genannt hast: Die markinischen Jesusworte passen nicht mehr so sehr in die Landschaft, also interpretiert man sie um - man glättet. - Euphemistisch könnte man auch sagen: Man formuliert so, dass das Volk verstehen kann.
Nur - welche der Rezeptionen über die Zeiten ist geistig am nähesten am Original Jesus? - Ist es Markus, weil er am ältesten ist? Oder ist es Ratzinger, weil er es am besten begriffen haben könnte? - Nicht dass ich das behaupten würde - es geht hier um den Grundgedanken.
Thaddäus hat geschrieben:Diese Analyse folgt den methodischen Plausibilitätskritereien der Textkritik innerhalb der historisch-kritischen Methodik
Richtig - aber was sagt das über Jesus aus? - Über die Originale (in Definition der HKM - also die Rezeptions-Texte) sagt diese Analyse sicherlich viel aus - aber über das, was Jesus historisch gedacht und gemeint hat?
Mit anderen Worten: Du hast als Systematikerin recht - aber was war Jesus WIRKLICH (und somit historisch)? - Denn gleichsetzen kann man "systematisches Erkennen von Quellen über Jesus" und "geistiges Erkennen von Jesus selbst" nicht.
Nun brauchen wir nicht darüber zu reden, dass "geistig" gerne als Freibrief für jeglichen Unsinn missbraucht wird - aber das ändert nichts an der prinzipiellen Unterscheidung zwischen historisch-kritischem und geistigen Zugang zu Jesus.
Thaddäus hat geschrieben:Eine Verpflichtung auf den Glauben an Jesus als den Erlöser als Gottessohn oder eine dogmatische Einheit des christlichen Kanons (von AT und NT) oder den Naturalismus oder auf Descartes und den Glauben an die Realität der res extensae oder sonstigem Unfug ist weder erforderlich noch nötig.
Das ist nicht richtig - denn wenn die HKM auf einen naturalistischen Wirkungszusammenhang von Historie besteht, ist dies eine weltanschauliche Vorannahme.
Deshalb meine These:
HKM ist eine Methodik, die unter naturalistischen Vorbedingungen primär die Quellen über Jesus und nicht Jesus selbst untersucht.
In diesem Sinne versteht DIE Theologie, zu der ich über Theologen Zugang habe, die historisch-kritische Exegese als Basis/Rohstoff-Lieferant/Halbzeug-Lieferant für die eigentliche christliche Hermeneutik (H. = "Wie ist ein Text zu VERSTEHEN?" - siehe Apg. 8,30). - In Bezug auf unser Fallbeispiel hört man dann wirklich oft: "Die HKM muss aufgrund ihrer inneren Logik zum Ergebnis der apokalyptischen Naherwartung kommen, was aber unter christlich-hermeneutischen Gesichtspunkten falsch ist". - Und dann kommt ein Argumentarium, das intersubjektiv nachvollziehbar ist, wenn man die Vorannahmen der christlichen Hermeneutik kennt.
Wie stellt sich das aus Deinen viel frischeren Eindrücken aus der Theologie dar?