Novalis hat geschrieben:Halman hat geschrieben:
Man sollte schon bedenken, über welche Zeiten wir hier sprechen. Alister McGrath und Joanna Collicutt McGrath schrieben in ihrem Buch
Der Atheismus-Wahn auf Seite 114 unter dem Kapitel
"Wie man das Alte Testmant lesen sollte":
Natürlich finden viele moderne, jüdische und nicht-jüdische Leser aufgrund ihrer kulturellen Distanz zu der längst vergangenen Ära viele Teile des Alten Testaments merkwürdig, vielleicht sogar entsetzlich.
Auch mir geht es ähnlich. Doch schauen wir weiter, was McGrath hierzu auf den Seiten 114-115 sagt:
Historisch betrachtet ist es wichtig anzuerkennen, dass diese antiken Texte inmitten eines Volkes entstanden, das darum rang, eine Art von Gruppen- oder Nationalidentität zu bewahren, während es von allen Seiten angegriffen wurde. Es versuchte, sich seine menschliche Situation in Beziehung zu einem Gott zu erklären, über dessen Wesen es im Laufe der Zeit immer mehr lernte. Während der zirka 1.000-jährigen Entwicklung seines Gottesverständnisses entstand das Material, aus dem die Schriften des Alten Testaments bestehen, und zwar sowohl mündlich als auch schriftlich.
Wie schön, ja geradezu putzig, welches Mitgefühl Du für den biblischen Text aufbringst

ich frage mich nur, weshalb Du dazu nicht imstande bist, wenn es um Koranexegese geht, die ebenfalls historisch-kritisch erfolgen sollte, wie auch die Lektüre der Bibel.
Dies hatte ich doch mehrfach erklärt, auch mit Logan5-Zitaten.
Ein bloßes Herauspicken von Versen ist keine seriöse Religionskritik. Als Beispiel nehme ich die
Steinigung. Lass uns mal Folgendes voraussetzen (hypothetisch):
1. Wir sind gegen Steinigung (okay, dies ist sicher nicht nur hypothetisch).
2. Unsere Kritik erfolgt auf Basis von Steinigungsversen in den heiligen Schriften der abrahamitischen Offenbarungsreligionen.
3. Unter "heiligen Schriften" verstehen wir die Bibel, den Talmud und den Koran.
4. Kontexte interessieren uns nicht, lediglich das Vorliegen von Steinigungsversen ist Gegenstand unserer Kritik.
Dann stellen wir fest, dass in der Torah Steinigungsverse stehen. Da diese sowohl Teil der Bibel wie auch Teil des Talmuds ist, kritisieren wir diese Schriftreligionen wegen der Beführwortung der Steinigung.
Ferner stellen wir fest, dass im Koran KEIN Steinigungsvers vorkommt. Daher loben wir den Islam als fortschrittlichere Religion.
Im nächsten Schritt schauen wir uns die Religionspraxen der Glaubenssysteme an und kommen zu einem gegenteiligen Ergebnis: Weder im Judentum, noch im Christentum, wird die Steinigung praktiziert. Doch im Islam wird sie praktiziert.
Nun könnte man folgern: Die Vertreter der abrahamitischen Religionen interpetieren ihre heiligen Schriften falsch. Denn bei richtiger Intepretation müsste der Tatbestand entgegengesetz sein.
Merkst Du, was hier passiert? Unser Kardinalfehler war Punkt 4. Die Praxis zeigt, dass offenbar nicht allein der Befund von Versen entscheidend ist, sondern in welchen
religiös-theologischen Kontext sie stehen und welche
normative Kraft sie entfalten.
Warum die Steinigungsverse im Judentum keine normative Kraft entfalten, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich nehme an, dass dies mit der jüdischen Diaspora und der talmudischen Tradition zusammenhängt. Der Tanach und insesondere ihr heiligster Teil, die Torah, stehen nicht unkommentiert im Raum. Ich schätze, dass jede Seite im Tanach von sieben Seiten im Talmud (Mischna und Gemara) kommentiert wird. Eine fundierte Kritik am Judentum kann nur derjenige redlich betreiben, wer über die nötigen Grundkenntnisse des Talmuds verfügt.
Nehme ich mal ein anderes Beispiel, zum dem ich mehr sagen kann. Gemäß der Torah sind Tieropfer geboten, welche im Tempel dargebracht werden müssen. Doch wie sollen Juden in der Diaspora, ohne Tempel, diesen Geboten nachkommen? Die Erfahrung im babylonischen Exil bot ihnen ein historisches Vorbild, auf dass die Rabbiner zurückgreifen konnten. Anstelle der Brandopfer wurde nun mehr der Fokus auf das Schriftstudium in den Synagoge und das Fasten gelegt.
Im Zentrum des Judentums stehen nun:
- „Teschuwa“ – Schuwa (Umkehr)
- Tefillah (Gebet, insbesondere Beten von Psalmen)
- Zedaka (Mitmenschlichkeit)
Mehr dazu in meinem Beitrag vom
Do 11. Jun 2015, 01:37.
Beim Judentum ist es also wichtig, etwas über ihre Geschichte und die rabbinische Tradition zu wissen.
Zwar gibt es im Christentum keine talmudische Tradition, aber auch hier wird das erste Testament "kommentiert" und gedeutet und zwar durch das christologische Prisma des zweiten Testaments. Die Torah steht also keineswegs isoliert und unkommentiert im Raum, sondern wird insbesondere durch Jesu Bergpredigt ausgelegt.
Im Lichte des zweiten Testaments gelten die Tieropfer durch Jesu Märtyrer-Opfer als "erfüllt" und die Steinigung wurde abgeschaft. Diesen Wandel drückt besonders „Die Perikope von der Ehebrecherin“ (Joh 7,53-8,11) aus. Damit wäre unsere obere hypothetische Kritik gegenstandslos.
Ein weiterer Fehler in der obigen hypothetischen Kritik ist die Verengung auf die heiligen Schriften. Die Unterschiede der großen Kirchen lassen sich allein durch die Bibel nicht verstehen.
Zum Beispiel kann die katholische Theologie ohne Kenntnis Augustinischer Theologie überhaupt nicht verstanden werden. Dies wäre in etwa so, als wollte man die evangelische Kirche ohne Luther verstehen.
Auch die Katechismen entfalten eine normative Kraft für die christlichen Glaubenssysteme.
Will man den Islam kritisieren, sollte man angeben, auf welche islamische Strömung man sich überhaupt bezieht. Ich wähle den sunnitischen Islam aus. Darin gibt es neben dem Koran zehn weitere Quellen, welche für die sunnitische Identität sehr bedeutsam sind.
Zitat aus
Gibt es „den“ Islam?:
Al-Bukhary (gest. 870)
Muslim (gest. 875)
Abu Dawud (gest. 888)
Tirmidhi (gest. 892)
Nasa’i (gest. 915)
Ibn Madja (gest. 886)
Geschichts- und Biographiewerke:
1. Sira von Ibn Hisham (gest. 833), die angeblich auf einer nicht überlieferten Version von Ibn Ishaq (gest. 768) basiert.
2. Kitab Al-Maghaazy (Geschichte der Kriegszüge) von Al-Waqidi (gest. 822)
3. Tabaqaat („Klassen“ / „Generationen“) von Ibn Saad (gest. 845)
4. Tarikh („Annalen“) von Al-Tabary (gest. 922)
Erst dadurch kann verstanden werden, warum Muslime fünf mal am Tag beten und warum die Steinigung im Islam praktiziert wird. Zwar gibt es keinen Steinigungsvers im Koran, aber sehr wohl in "authentischen" Hadithen. Der Steinigungsvers gilt demnach als "offenbart" und zwar in der letzten Sure, welche verloren ging. Dieser Steinigungsvers in der Sunnah entfaltet im Islam normative Kraft und darauf kommt es an.
Novalis hat geschrieben:Dagegen mögen sich die religiösen Fanatiker wehren, aber mal ernsthaft: das sind die Dorftrottel im globalen Dorf.
Die
Kairoer Erklärung der Menschenrechte (KEM) geht ganz sicher nicht auf Dorftrottel zurück, sondern repräsentiert mit 56 isalamischen Staaten die Mehrheit in der islamischen Welt, welche die
Scharia als Rechtsordung ansehen.
Dementsprechend steht auch das Recht auf Leben in Artikel 2a) der Kairoer Erklärung unter dem Vorbehalt der Scharia: "es ist verboten, einem anderen das Leben zu nehmen, außer wenn die Scharia es verlangt."
Novalis hat geschrieben:Mein Maßstab sind Liebe und Vernunft. Hast Du den Koran mal aus dieser Perspektive gelesen, mit einem kritischen, aber wohlwollenden Blick?
Entscheidend sind nicht unsere christlichen und westlichen Maßsstäbe, sondern die Maßstäbe der Mullahkratien.
Novalis hat geschrieben:Es gibt in der islamischen Theologie schon die Lehre der Offenbarungsanlässe (Asbab An-Nuzul), die das historische Wissen um den Grund und die Situation der Entstehung einzelner Verse (Ayat) thematisiert, was - wie auch bei der Bibel - unerlässlich ist, um die Bedeutung des Textes zu erfassen. Wenn Du diese differenzierte Lesart für deinen eigenen Glauben reklamierst, musst Du es auch den Muslimen zugestehen.
Ja, aber sicher doch. Dazu gehört auch die chronologische Einordnung der Suren. Daraus folgt, dass bei Widersprüchen zwischen Versen, die
Abrogation – Aufhebung mancher Koranstellen durch andere gilt.
Auslegungsfragen und die Abrogation
Die Anordnung der Suren ist im Koran nicht in chronologischer Reihenfolge gegeben. In der Koranauslegung spielen jedoch die „Gründe der Offenbarung“ (asbab al nuzul) eine wichtige Rolle, d. h. auch die Frage, ob es sich um eine frühe Sure aus der Zeit in Mekka oder um eine Sure nach der Hidschra (622), also aus der Zeit in Medina handelt.
Analog auch eine andere Erklärung bezüglich der
„Anlässe der Offenbarung“ (sabab an-nuzul):
Einen Koranvers zu datieren. Das war wichtig für die Rechtswissenschaft, denn ein jüngerer Koranvers „abrogiert“ ggf. einen älteren (d.h. schafft ihn ab, *naskh). Deshalb wollte man wissen, welche Verse früher und welche später datieren.
Leider führt dieses Prinzip im sunnitischen Islam dazu, dass die harten Schwertverse aus der medinensischen Phase Vorrang vor den relativ toleranten Versen der mekkanischen Phase haben, mit der Folge, dass einige mekkanische Verse durch Sure 9 abrogiert werden. Es ist also genau umgekehrt als in der Bibel, jedenfalls nach sunnitischer Koranexegese.