Das Urteil — Adrian ist ein reifer Minderjähriger
Am Montag, dem 19. Juli, wurde die Verhandlung abgeschlossen, und Richter Wells fällte das Urteil, das später im Human Rights Law Journal (30. September 1993) abgedruckt wurde. Es folgen einige Auszüge:
„Aufgrund der angeführten Gründe wird der Antrag der Leiterin der Jugendhilfe abgewiesen; das Gericht hält das Kind nicht für schutzbedürftig; die Verwendung von Blut oder von Blutprodukten zum Zwecke einer Bluttransfusion oder einer Injektion hat sich als nicht notwendig herausgestellt und könnte sich angesichts der besonderen Umstände dieses Falles als schädlich erweisen.
Solange sich die Situation nicht verändert und damit keine weitere gerichtliche Anordnung erforderlich ist, ist eine Therapie, bei der Blut oder Blutprodukte zum Einsatz kommen, untersagt; das Gericht erklärt den Jungen zu einem reifen Minderjährigen, dessen Wunsch nach einer Behandlung ohne Blut oder Blutprodukte zu respektieren ist. . . .
Zweifelsohne ist dieser ‚Jugendliche‘ sehr mutig. Ich denke, er genießt die liebevolle Unterstützung und Zuwendung seiner Eltern, und er stellt sich seiner Krankheit heldenhaft. Gemäß seiner religiösen Überzeugung ist es unter anderem verkehrt, dem Körper Blutprodukte zuzuführen, zu welchem Zweck auch immer . . . Gestern konnte ich eine von A. verfaßte eidliche Erklärung lesen, ich konnte die Aussage seiner Mutter hören, und ich konnte mit A. persönlich sprechen.
Wie ich mich überzeugen konnte, glaubt er fest daran, daß die Verwendung von Blut verkehrt ist und daß unter den hier erwähnten Umständen eine aufgezwungene Bluttransfusion eine Verletzung seines Körpers, einen Eingriff in seine Intimsphäre und einen Eingriff in sein gesamtes Wesen darstellen würde, was seine Kraft und Fähigkeit, mit der schrecklichen Tortur, die er gegenwärtig durchmacht, fertig zu werden, in hohem Maße beeinträchtigen würde, ganz gleich, welchen Ausgang es nehmen mag.
Ich stimme mit der absolut vernünftigen Aussage des Arztes überein, daß nur dann echte Heilungsaussichten bestehen, wenn der Patient — was die Chemotherapie oder eine andere Krebstherapie angeht — in einer kooperativen und positiven Gemütsverfassung ist, und daß ein Patient, dem etwas aufgezwungen wird, was seiner tiefen religiösen Überzeugung zuwiderläuft, auf eine Behandlung wesentlich schlechter ansprechen wird. . . .
Durch seinen jetzigen Zustand hat A. einen Reifegrad erlangt, der für einen Fünfzehnjährigen, der nicht mit einer Krankheit wie A. leben und sich ihr nicht wie A. stellen muß, undenkbar wäre. Meiner Meinung nach macht er so ziemlich das Schlimmste durch, was jemand durchmachen kann, und vermutlich hält ihn und seine Eltern unter anderem ihr Glaube aufrecht. Seine durch das Erlebte erlangte Reife geht weit über die Reife hinaus, die man im allgemeinen von einem Fünfzehnjährigen erwartet. Der Junge, mit dem ich heute morgen gesprochen habe, unterscheidet sich infolge seiner tragischen Situation erheblich von einem normalen Fünfzehnjährigen.
Ich denke, er ist reif genug, seinen Standpunkt überzeugend darzulegen, und das hat er mir gegenüber getan . . . Außerdem bin ich davon überzeugt, daß es passend ist, . . . seinen Wünschen zu entsprechen, und das tue ich auch. Adrian lehnt Blutprodukte ab, und sollte der Krankenhausdirektor durch eine gerichtliche Verfügung diesen Wunsch auf irgendeine Weise unberücksichtigt lassen, dann würde es sich meiner Überzeugung nach ganz deutlich erkennbar negativ auf das Wohl des Patienten auswirken. . . . Sollte er seiner Krankheit tatsächlich zum Opfer fallen — was durchaus möglich ist —, dann würde er in Anbetracht seiner Glaubensansichten einen sehr traurigen und sehr unglücklichen Tod sterben, was wir ihm ganz und gar nicht wünschen. All diese Faktoren ziehe ich in Betracht. . . .
Unter Würdigung aller Umstände des Falles halte ich es für richtig, den Antrag auf Verwendung von Blutprodukten bei der Behandlung von A. abzulehnen.“
Adrians Botschaft an Richter Wells
Es war eine bemerkenswert gut durchdachte Botschaft, die Adrian, der wußte, daß er sterben würde, Richter Wells durch seinen Anwalt David Day übermitteln ließ, der folgendes sagte: „Es wäre ein Versäumnis, wenn ich Ihnen nicht im Namen meines Mandanten Adrian, den ich heute nach Ihrem Besuch im Krankenhaus kurz gesprochen habe, ein von Herzen kommendes Dankeschön ausspreche — und Adrian hat wirklich ein weites Herz —, und zwar dafür, daß Sie seinen Fall unverzüglich, feinfühlig und absolut fair behandelt haben. Sie können sich nicht vorstellen, wie dankbar er Ihnen ist, und ich würde es begrüßen, wenn das protokollarisch festgehalten würde. Haben Sie vielen Dank.“
Adrians Mutter berichtet, wie es mit ihrem Sohn weiterging.
„Nachdem das Gerichtsurteil feststand, fragte Adrian Dr. Jardine, wieviel Zeit ihm noch bleibe. Die Antwort lautete: ‚Ein oder zwei Wochen.‘ Mein Sohn schloß die Augen ganz fest, und ich sah, daß eine Träne das Gesicht hinunterkullerte. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, doch er sagte: ‚Nicht, Mutti. Ich bete gerade.‘ Einige Augenblicke später fragte ich ihn: ‚Und, Adrian, wie fühlst du dich?‘ Er antwortete: ‚Ach Mutti, ich werde sowieso leben, selbst wenn ich bald sterbe. Und wenn mir nur noch zwei Wochen bleiben, dann will ich sie genießen. Also laß den Kopf nicht hängen! ‘
Er wollte sich gern das Zweigbüro der Watch Tower Society in Georgetown [Kanada] anschauen. Das tat er auch. Er ging dort mit einem seiner Freunde ins Schwimmbad. Außerdem besuchte er ein Spiel der Blue Jays, einer Baseballmannschaft, und einige der Spieler ließen sich zusammen mit ihm fotografieren. Am bedeutendsten war jedoch, daß er sich in seinem Herzen Jehova Gott hingegeben hatte, und das wollte er gern durch die Wassertaufe symbolisieren. Da sich sein Zustand mittlerweile verschlechtert hatte, mußte er wieder ins Krankenhaus und konnte es nicht mehr verlassen. Die Krankenschwestern sorgten freundlicherweise dafür, daß wir eins der Wasserbecken aus Edelstahl im Raum für Heilgymnastik benutzen konnten. Adrian wurde dort am 12. September getauft, und am darauffolgenden Tag, dem 13. September, ist er gestorben.
Seine Begräbnisfeier war die größte, die jemals in der Leichenhalle stattgefunden hatte; Krankenschwestern, Ärzte, Eltern von Patienten, Klassenkameraden, Nachbarn und viele Glaubensbrüder und -schwestern aus Adrians Versammlung sowie aus anderen Versammlungen waren anwesend. Erst als Adrian so viel durchmachen mußte, wurde uns als Eltern bewußt, durch welche hervorragenden Eigenschaften sich unser Sohn auszeichnete und daß Freundlichkeit und Nachdenklichkeit Teil seiner sich heranbildenden christlichen Persönlichkeit waren. Der Psalmist schrieb unter Inspiration: ‚Söhne sind ein Erbe von Jehova.‘ Dieser Sohn war es bestimmt, und wir freuen uns darauf, Adrian in Jehovas gerechter neuer Welt wiederzusehen, die bald auf einer paradiesischen Erde erstehen wird“ (Psalm 127:3; Jakobus 1:2, 3).
Mögen wir alle der Zeit entgegensehen, in der sich Jesu Verheißung aus Johannes 5:28, 29 auch an Adrian erfüllen wird: „Wundert euch nicht darüber, denn die Stunde kommt, in der alle, die in den Gedächtnisgrüften sind, seine Stimme hören und herauskommen werden, die, welche Gutes getan haben, zu einer Auferstehung des Lebens, die, welche Schlechtes getrieben haben, zu einer Auferstehung des Gerichts.“
Adrian Yeatts lehnte Bluttransfusionen ab, durch die sein Leben möglicherweise verlängert worden wäre, und bewies dadurch, daß er zu den vielen jungen Menschen gehört, die Gott den Vorrang geben.