closs hat geschrieben:Halman hat geschrieben:Wenn dies stimmen würde, würde gelten:
der Weg ≡ Jesus
die Wahrheit ≡ Jesus
das Leben ≡ Jesus
Dies ist offenkundig falsch, da das Individium Jesus nicht kongruent mit den abstrakten Begriffen "der Weg", "die Wahrheit" und "das Leben" ist.
Formal stimmt das - mein Gedanke geht woanders hin:
WER darf so etwas sagen außer Gott?
Gottes Sohn.
closs hat geschrieben:Halman hat geschrieben: Der Sohn Gottes ist nicht Lógos im abstrakt-allgemeinen Sinne, sondern konkret und bestimmt ὠΛόγος (ho Lógos).
Das Konkrete nützt aber nix, wenn es nicht universal, also allgemein gültig ist - sonst wäre es eine x-beliebige Meinung.
Nun bekomme ich den Eindruck, dass wir uns möglicherweise missverstehen.
Das griechische Wort λόγος ist ein ganz normaler Begriff. Meiner Meinung nach gebraucht Johannes dieses Wort in einem speziellen und tieferen Sinn, nicht in den profanen, allgemeinen Sinn. Er konkretisiert dies sogar in Joh 1:14 auf Jesus Christus, womit sich doch erst eine universale Bedeutung für die Menschheit ergibt.
closs hat geschrieben:Halman hat geschrieben:Der Begriff λόγος (lógos) ist ein ganz normales griechisches Wort und meint "Wort" nicht im Sinne eines Einzelwortes, sondern im Sinne einer Rede und im tieferen Sinne als Vernunft.
Wenn man dieses Wort ergründen will, muss man ins hebräische Wort "memra", welches noch viel universaler besetzt ist. - "Logos" ist eine verlustreiche Übersetzung ins Griechische, so wie "Wort" eine noch verlustreichere Übersetzung ins Deutsche ist.
Welchen Bedeutungsraum entfaltet den das aramäische Wort
Memra?
Dass die deutsche Übersetzung "Wort" verlustreich ist, stimmt natürlich. Aber dies offenbart doch auch etwas: Nämlich dass im deutschen Johannesevangelium der Begriff "Wort" nicht im allgemeinen, profanen Sinne gemeint ist, sondern in einem tieferen theologischen Sinn, einem spizielleren als der einfache Begriff "Wort" in unserer Sprache hat.
Wenn ich Dir z.B. die Bibel hinhalte und erkläre:
"Dies ist das Wort", dann wird diese Aussage doch nicht dadurch nichtig, dass man sagen könnte:
'Ist zu speziell und daher nicht universal.' Das Gegenteil ist der Fall. Dadurch, dass ich den Begriff "Wort" auf die Bibel konkretisiere, gebe ich in meinem Satz dem Begriff eine tiefere Bedeutung.
Das Johannesevangelium wurde meiner Kenntnis ~98 n. Chr. geschrieben (lt. Bibelwissenschaft 100-110 n Chr.). In dieser Zeit war Jerusalem und der heilige Tempel seit Dekaden zerstört und die Juden lebten in der Diaspora. Die johanneische Perspektive war eine rüchschauende aus dem hellenistisch-römisch geprägten Kulturkreis auf das vergangene Israel.
Der Schreiber setzte keine Kenntniss über hebräische und aramäische Fremdworte voraus, sondernd erklärt sie in
Joh1,38;
Joh1,41-42 und
Joh1,41-42. Auch jüdische Bräuche werden erklärt, z.B. in
Joh11,55 und
Joh18,28.
Selbst das bei Juden nur zu gut gespannte Verhältnis zu den Samarithern wird in
Joh4, erläutert.
Ferner verwandte Johannes offenbar im Gegensatz zu den Synoptikern die
römische Stundenangabe (s. bitte auch
HIER.
Daher gehe ich davon aus, dass der Urtext des Johannesevangeliums in Altgriechisch (
Koiné) abgefasst wurde und somit der Schreiber ganz bewusst den Begriff
Logos verwandte (ohne ihn näher zu erklären) und dabei die bekannte Bedeutung beim antiken Empfängerkreis voraussetzte und durch den konkreten Bezug zu Jesus eine tiefere Bedeutung zum Ausdruck bringen wollte.
Vielen, vielen Dank für Deine sehr ausführliche Erklärung des Hermeneutischen Zirkels.
closs hat geschrieben:Ein anderes Beispiel im Sinne des Hermeneutischen Zirkels:
Einem Bergsteiger, der vor sich einen Berg aufragen sieht, der nach kurzer Zeit in Wolken verschwindet, bleibt der Blick auf dem Gipfel logischerweise verwehrt. Das Vorwissen des Bergsteigers besteht darin, dass er sieht, dass etwas vor ihm aufragt, und er auch im Ansatz Routen erkennt, diesen Berg zu besteigen. - Im ersten Schritt projiziert er Schlussfolgerungen aus seinem Vorwissen, indem er annimmt, dass der Berg jenseits der Nebelgrenze nicht einfach abbricht, sondern weiter aufsteigt – das entspricht unserer Setzung, dass es Wahrheit gibt, wenn auch unbekannterweise.
Daraufhin macht er gutausgerüstet seine erste Bergtour – das entspricht unserer Ausrüstung des Dialektischen Denkens. – Diese erste Bergtour und die folgenden führen dazu, dass in den nächsten Phasen immer mehr wachsendes und sich immer mehr stabilisiertes Wissen zu immer realistischeren Schlussfolgerungen führt, wie Routen zu ändern sind und wie die beste Gipfelroute wirklich aussieht – das entspricht dem Hermeneutischen Prozess. - Das Entscheidende jedoch ist nicht, ob und wann er den Gipfel erreicht, sondern etwas anderes, nämlich dass die Besteigungsversuche kontinuierlich stattfinden – und zwar deshalb, weil er Bergsteiger „ist“ – wie wir Menschen „sind“ - und er seine Beziehung zum Berg – wie der Mensch seine Beziehung zur Wahrheit - als wichtigen Inhalt seiner Existenz, also seiner eigenen Wahrheit, ansieht.
Er kann als Bergsteiger also gar nicht anderes, als vom Berg her eine Anziehungskraft zu spüren. Genauso wie der Mensch nicht anders kann, als vom Ursprung seines eigenen Seins her, also dessen, was wir als „Wahrheit“ definiert haben, auf Dauer eine Anziehungskraft zu spüren. - Die Alternative für den Bergsteiger: Man trennt sich innerlich vom wolkenverhüllten Berg, vielleicht weil man nur auf Anhieb überschaubare Anhöhen besteigen will. Dann gibt es zwar keinen Hermeneutischen Prozess, weil man ja nur beschreitet, was man schon kennt. Jedoch wird jeder echte Bergsteiger unbefriedigt sein, wenn er sich zwar auf Hügelkuppen sonnen kann, die jedoch umgeben sind von Wolken-Bergen, die hinter den Wolken ganz offensichtlich weiter nach oben ragen. Man kann wegschauen, aber sie sind da.
Vom Beispiel zurück ins Allgemeine: Grundlage der Wahrnehmung im Sinne des Hermeneutischen Prozesses ist im Unterschied zur Naturwissenschaft somit nicht die Objektivierbarkeit der eigenen Wahrnehmung, sondern die Realisierung menschlicher Identität, oder wie Emil Staiger sagt: "Dass wir begreifen, was uns ergreift." - Den Bergsteiger interessiert zwar sehr wohl auch die objektiv beschreibbare Beschaffenheit der Felsen, die ihm begegnenden Arten von Flora und Fauna sowie Wetter und Klima. Ihn interessiert jedoch viel mehr der Gipfel selbst und der Weg dorthin. – Analog: Den spirituellen Menschen interessiert zwar sehr wohl sein irdisches Umfeld, in dem er lebt und wirkt. Ihn interessiert jedoch viel mehr sein eigener Ursprung und sein eigener Zugang dazu.
Somit ist Hermeneutik auf Basis der Hegelschen Dialektik das spirituelle Handwerkszeug oder, wenn man so will, die spirituelle Methode zur Annäherung an Wahrheit, die über Methodik der Naturwissenschaften aus deren anders ausgerichteten Fragestellung nicht leistbar ist.
Könnte man sagen, das Hermeneutik aus Erfahrung, Intuition und Ideen schöpft? Wenn ich von "Idee" spreche, meine ich dies in diesem Zusammenhang positiv. So ist die
Vorstellung, dass der von Wolken verhüllte Berggipfel existiere doch eine
Idee bzw. eine
Vorstellung. Es mag unwahrscheinlich erscheinen, dass der zum Teil verhüllte Berg wie der
Devils Tower beschaffen ist.
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Oder wie der Berg Sinai.
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