sven23 hat geschrieben: Je näher man zeitlich ran kommt, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer noch nicht völlig verfälschten Version.
Das ist auch prinzipiell richtig:
Quelle 1: Urquelle = Autograph = Original (die Abschrift des originären Verfassers - wäre hier: Jesus-Evangelium)
Quelle 2: 50 Jahre später. - Jemand schreibt ab und "verbessert" das, was er meinetwegen nicht versteht und so "verbessert", dass es jetzt nach seiner Ansicht verstanden wird.
Quelle 3: 100 Jahre später und auf Basis von Quelle 2: Man schreibt wieder ab und es ist wieder nicht identisch mit der Vorlage. - Logisch, dass Quelle 2 dann authentischer ist als Quelle 3.
Das ist die Regel (wie man mit der Zeit aus vielen Beispielen aus der HKM weiss), weshalb eine Analogie-Bildung bei anderen, neuen Beispielen naheliegend ist:
"Wir haben 5 Quellen aus den Jahren 50, 70, 120, 150 und 180 n.Chr. - die damit einhergehenden Änderungen deuten wir so, dass sich eine jüngere immer un-authentischer ist als eine ältere Quelle". - Wirklich naheliegend - so war es bei uns in den Literaturwissenschaft auch.
Aber es ist kein Automatismus. - Denn wir hatten auch mal in den Literatur-Wissenschaften folgenden Fall:
Quelle 1: Urquelle = Autograph
Quelle 2: 50 Jahre später. - Der Schreiber hat ein dezidiertes Interesses, sachliche Änderungen vorzunehmen. - Vielleicht war es ein Mönch, der Sex-Szenen im Text streichen wollte

.
Quelle 3: 100 Jahre später, aber auf Basis von Quelle 1: Jemand hat dieses Interesse des Mönchs NICHT und lässt diese Szenen drin - und ist somit authentischer zum Urtext als die ältere Quelle 2.
Solche Fälle gibt es - UND: Die HKM hat solche Sachen normalerweise im Griff - zumindest weiss sie um solche Möglichkeiten. - Also auch hier ein Hoch auf die HKM. - So - bei der Bibel haben wir aber einen ganz besonderen Fall:
Quelle 1: Autograph. - Gibt's nicht - das Original hat nichts geschrieben.
Geistiger Hintergrund: Es geht hier nicht nur um ein literarisches Werk, sondern um einen gesellschaftlichen/religiösen Paradigmen-Wechsel, der nicht auf Anhieb verstanden wird. - Es wird also darum gerungen: Was ist eigentlich damit gemeint? - Was hat er gemeint? - Was soll das mit "Erlösung"? - Wer war Jesus eigentlich? - Was hat das alles zu bedeuten.
Quelle 2: Das könnte die Quelle "Q" sein. - Gibt es nicht, könnte aber mal gefunden werden.
Quelle 3: Eine Abschrift, in der der Verfasser das Gehörte (life von Jesus von gehört von Jüngern, die Jesus gehört haben) niederschreibt sowie das, was nach dessen Tod passiert, gedacht und von Evangelisten/Jüngern geschrieben wurde, nach seinem Verständnis interpretiert.
Quelle 4: Beschäftigung damit und geistige Verarbeitung desselben - also im Grunde eine Mischung aus Abschrift und Interpretation.
Quelle 5: Abschrift mit bewusster Absicht der Fälschung in diese oder jene Richtung.
Quelle 6: Abschrift auf Basis Q5 oder Q3 oder sonstwas. - Ab hier läuft es dann "normal" weiter.
Das Besondere hier:
Die Analogie "je älter, desto authentischer" kann hier genau falsch gedacht sein, weil die Verfasser erst mit der Zeit gecheckt haben, was das eigentlich geistig zu bedeuten hatte, was Jesus gemeint hat. - Und was wäre "Authentizität" anderes als Übereinstimmung mit dem Original Jesus?
Wie die HKM solche Konstellationen inhaltlich auflösen soll, ist mir ein Rätsel. - Bis auf weiteres sage ich: Sie KANN es nicht lösen, weil ihre eigenen Regeln dies nicht zulassen können. - Und das ist dann die Stunde der kanonischen Exegese - oder um es zu entschärfen: der spirituellen Fraktion.
Insofern immer wieder mein Plädoyer: HKM und kanonische Exegese müssen Hand in Hand arbeiten, weil keiner der beiden alles leisten kann, was zur authentischen Entschlüsselung der Bibel nötig ist.
sven23 hat geschrieben: unabhängig davon, ob der Forscher gläubig ist oder nicht
"Gläubig" muss man nicht sein - aber man muss in spirituellen Dimensionen "daheim" sein können.
sven23 hat geschrieben:wenn man sauber mit der historisch-kritischen Methode arbeitet - wie das ja auch in der Forschung gemacht wird - dann kommt man zu diesem Ergebnis
Dann hat man halt das Ergebnis einer Methodik - manche interessiert aber auch, wie es WIRKLICH gewesen sein könnte.
