Thaddäus hat geschrieben: Die wissenschaftstheoretischen wurden bereits genannt, von dir aber nicht gewürdigt, obwohl sie plausibel sind.
Dem steht gegenüber, dass Erfahrungswerte aus anderen Literaturgattungen nicht unbedingt per Analogie-Bildungen übertragbar sind.
So kann das Argument "Wir stellen aus anderer Literatur fest, dass ältere Quellen authentischer zum Ursprung sind" im Fall der Bibel gerade falsch sein - Begründungen dafür habe ich ebenfalls mehrfach gegeben - ohne Resonanz, geschweige denn Verarbeitung. - Auch meine Version ist plausibel. Wer entscheidet nun, welche Plausibilität gültig ist?
Thaddäus hat geschrieben:Zu diesen Prämissen gehört, dass man den Kanon nur vom Jetztstandpunkt christlich (katholischen) Glaubens, der Tradition (der rkK) und einiger ihrer zentralen Dogmen "richtig" verstehen kann
So habe ich es nie verstanden - sogar die RKK räumt meines Wissens ein, dass Dogmen weiter entwickelt werden können (kam mir neulich bei einem Google-Link vor die Flinte).
Unter "Dogma" verstehe ich eigentlich eine Lehraussage der RKK "So sehen wir es". - Dogmen, deren Begründungen ich verfolgt habe, erschienen mir sehr fundiert zu sein - aber eben geistig und nicht historisch begründet.
Thaddäus hat geschrieben:nicht aber vom "bloß" wissenschaftlichen Standpunkt der HKM
Kannst Du mir mal auf die Sprünge helfen und ein Dogma nennen, das per HKM falsifiziert werden könnte? - Ich kenne nicht alle katholishen Dogmen, aber diejenigen, die ich kenne, sind rein geistiger Natur und fundamental sehr gut begründet. - Wo hat hier die HKM etwas zu suchen?
Thaddäus hat geschrieben:Du benutzt die Prämisse, um z.B. die historisch-kritisch belegbare Naherwartung Jesu umzudeuten in eine Fernerwartung
Die historisch-kritischen Belege sind aus meiner Sicht Fehldeutungen aufgrund von falschen Analogie-Bildungen - stelle Dir folgendes Szenario vor:
Jesus wäre tatsächlich "Gott im Menschen", also nicht ein beliebiger Wanderprediger - nicht falsifizierbar. - Und nun käme "Gott im Menschen" alias Jesus, um einen Paradigmen-Wechsel zu verkünden - "ich aber sage Euch". - Weiter würde er die äußeren Zeichen einer Religions-Zugehörigkeit durch innere Zeichen ersetzen - "innere statt äußere Beschneidung". - Kommt alles in der Bibel vor.
Als "Gott im Menschen" würde Jesus weiterhin sagen können "Mit mir und meiner Auferstehung ist das Reich Gottes unwiderruflich nah" - kommt auch con variazione an jeder Ecke in der Bibel vor. - So - und jetzt kommt die HKM und sagt "Nee, nee - es ist nachgewiesen <also Faktum>, dass Jesus eine Naherwartung hatte". - Würde Jesus nicht auferstanden sein, würde er sich bei solchen Aussagen im Grab umdrehen.
Und somit haben wir den Fall, dass Jesus eine Naherwartung hatte, wenn man den methodischen Erfahrungswerten der HKM folgt - eine Methode übrigens, die nicht umhin kann, Jesus NICHT als "Gott im Menschen" zu sehen, weil es ja nicht falsifizierbar ist. - Die HKM muss also eine so nicht genannte, aber als solche wirkende Prämisse voranstellen mit dem Inhalt "Jesus ist nicht Gott im Menschen". - Und dann kann sehr wohl folgerichtig das rauskommen, was Du sagst - unbenommen.
Was ist dann Wissenschaft, wenn sie nur den einen Fall von zwei möglichen berücksichtigen kann?
Thaddäus hat geschrieben:Es ist zwar höchst unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen, dass noch ein "Evangelium" von Jesus selbst gefunden wird. ... Wenn in diesem Jesus-Ev. nun stünde, was die HKM als wesentliche Erkenntnisse herausgefunden hat, nämlich z.B. seine Naherwartung, dass er ein Jünger des Johannes war, dass er als zentrale Botschaft das nahe Gottesreich verkündete, dass er keine Naturwunder gewirkt hat
Dann würde das System RKK zusammenbrechen. - Dann wäre der Glaube der RKK falsch gewesen.
Aber stelle Dir auch vor, dass ein Jesus-Evangelium gefunden werden würde, das Ratzinger voll bestätigt: Jesus sah sich selbst als Nähe des Gottesreichs, die durch seine Auferstehung bleibend fürs Dasein ist. - Was würde dann die HKM sagen, die vorher Gegenteiliges als nachgewiesenes Faktum bezeichnet hätte?
Deshalb: Ich verstehe nach wie vor nicht, warum die WISSENSCHAFT HKM nicht beide Möglichkeiten durchspielt:
1) Wie interpretieren wir, falls Jesus lediglich EINER von vielen Wanderpredigern war?
2) dito "Gott im Mensch" war?
Meinst Du wirklich, es sei Voraussetzung für den ergebnisoffenen Umgang mit einem Werk, dass man es geistig NICHT versteht? - Genau so kommt es rüber.
Thaddäus hat geschrieben:Damit hätten wir den Fall, dass selbst eine höchstwahrscheinlich authentische Jesus-Quelle die hermeneutische Prämisse der kanonischen und Ratzinger-Exegese (sowie deine) nicht widerlegen oder auch nur korrigieren könnte.
Zunächst: Ich bin nicht die Rkk, nicht einmal Mitglied derselben. - Ich bilde mir nur ein, die Qualität deren Argumentationen nachvollziehen zu können, und finde deren Argumentations-Niveau i.d.R. anspruchsvoller als anderes.
Davon abgesehen:
Käme ein Jesus-Evangelium auf, das allseits als authentisch angesehen werden würde - das wollen wir der Einfachheit halber voraussetzen - , hätten wahrscheinlich die Juden recht, die in Jesus nur einen Propheten erkennen würden. - Mich würde dies sehr überraschen, aber nicht aus den Latschen hauen. - Dann müsste man die geistigen Erkenntnisse, als deren Quelle man Jesus vorher gesehen hätte, anders zuordnen. - Denn an den Erkenntnissen ändert sich ja nichts.
Welche geistigen Erkenntnisse (nein, nicht intersubjektiv nachweisbar, aber milliardenfach geteilt) wären dies? - Bspw. dass der Mensch PRIMÄR nicht aus Materie kommt, sondern aus dem Geist. - Dass Gott - modern gesprochen - die Aufhebung der Dialektik ist ("Gott ist die Liebe" ist im Grunde dasselbe - aber dann müsste man diskutieren, was "Liebe" eigentlich ist - und schon wird's wieder fundamental - aber dazu braucht man kein NT).
Dass Leid der Indikator für die Differenz zwischen göttlichem Sein und menschlichem Dasein ist. - Dass "Sündenfall" die Chiffre für die Differenz zwischen Gott-Aufhebung und Ich-Orientierung ist - die durch Jesus aufgehoben wird - das ist ja der Gag der sog. "Erlösung". - Etc., etc. - abendfüllend.
Das alles bliebe, nur dass der Schlussstein der Auflösung/Erlösung/Aufhebung nun doch noch nicht da wäre - für den Fall, dass eine Jesus-Evangelium etwas ganz anderes sagen würde, als es die RKK glaubt zu wissen. - Dann wären wir halt in einem anderen geistigen Zeitalter, als wir gedacht haben. - Wie gesagt: Würde mich sehr überraschen, aber es würde für mich nichts ändern, weil Überzeitliches alias Geistiges unabhängig von zeitlichen Abläufen funzt.
Mit anderen Worten: Auch ich würde nicht ausschließen, dass die Juden recht haben. - So what?
Thaddäus hat geschrieben: Der Großinquisitor erklärt Jesus Christus, dass er besser nicht wiedergekehrt wäre, weil dies nur Unruhe und Zweifel in den christlichen Geist der Menschen bringen könne.
Eine sehr wahre Geschichte, die den Nagel auf den Kopf treffen lassen. - "Fundamental-geistig" wäre hier eher Dostojewski zu nennen - bravo.
Auf mich trifft dies nicht zu - ist auch irrelevant - und wie ich glaube, auch nicht auf Ratzinger. - Ich denke, dass er sehr viel differenzierter denkt, als hier dargestellt wird.
Thaddäus hat geschrieben:Deine und Ratzingers hermeneutische Glaubens-Haltung, die eine Irrtumslosigkeit des Jetztstandpunktes christlich (katholischen) Glaubens voraussetzt, entspricht exakt dieser Haltung des Großinquisitors.
Meine sowieso nicht. Ich bin erst zum Christentum gestoßen, NACHDEM ich auf anderem Weg geistige Kontexte erkannt habe - die ich dann - für mich überraschenderweise!!!! - im Christentum wiedergefunden habe. - Das hat - anderes Thema - etwas mit Dialektik und Ontologie zu tun - im Ursprungssinne dieser Begriffe, also nicht im Sinne von speziellen Schulen. - Aber das wäre wirklich ein anderes Thema.
Thaddäus hat geschrieben: Die Absurdität dieser Haltung ergibt sich zwingend daraus, dass sie selbst durch ein authentisches Jesus-Evangelium bzw. authentische Jesusworte nicht widerlegbar oder korrigierbar ist
Doch - auch Dogmen sind falsifizierbar - nur halt nicht unbedingt im Dasein.
Thaddäus hat geschrieben:Die Absurdität ist eine Konsequenz der petitio principii, die deiner und Ratzingers hermeneutischer Haltung inhärent ist.
Letztlich gibt es diesen Zirkelbeweis auch bei der HKM - denn da sie aus methodischen Gründen nicht davon ausgehen darf, dass Jesus Gott ist, kann sie Jesu Worte nur als "normale" Menschenworte interpretieren. - Auch hier macht die Voraussetzung den Nachweis. Die HKM ist nur ergebnisoffen im Rahmen ihrer Prämissen. - Weshalb ich ja so sehr dafür plädiere, dass sie nur im Rahmen ihrer Prämissen forscht und sich geistiger Aussagen ("Jesus hatte eine Naherwartung" = Fakt) enthält.
Allerdings ist mir die RKK insofern sympathischer als die HKM (nach Deinem Verständnis), dass die RKK mit offenem Visier spricht - will heißen: Die Rkk bekennt sich dazu, etwas zu glauben und nicht zu wissen, während die HKM (im hier vorgetragenen Sinne) nicht weiss, dass sie ebenfalls glaubt, also - auch noch in überlegener Attitüde - meint, mit ihrem Methoden-Wissen qualitativ über einem hermeneutischen Glaubens-Wissen zu stehen. - Da wünschte ich mir manchmal etwas mehr intellektuelle Ambitioniertheit, indem man einfach über sein methodisches System hinausdenkt.
So weit erst mal.