II
(Fortsetzung)
Nehmen wir an, im Jahre 0000 (der "Faust" ist auf den Markt geworfen") ist die Akzeptanz des "Faust" mager.
Eine Generation später, sagen wir, im Jahre 0030, entdecken die Forscher und die Leser und Zuschauer neue Seiten am "Faust".
Das kann durch neue politische Situationen, neue andere Werke, oder allgemein durch Bewusstseinswandel passieren, passiert immer.
Der Rezeptionsforscher vergleicht nun einerseits ebenfalls für das Jahr 0030 so, wie er es für das Jahr 0000 gemacht hat, aber auch noch folgendes Entscheidende:
Er sagt, dass im Jahr 0030 anderes im Werk entdeckt wird als im Jahr 0000.
Und dass dies möglich ist, zeigt, dass das Werk kein billiger Schund ist, sondern eine gewisse Komplexität hat, die erst im historischen Ablauf stückweise aktualisiert wird. Denn Schund überlebt selten eine Generation.
200 Jahre später wird immer noch "Faust" rezipiert - sowohl gelesen als auch ständig auf den Bühnen aufgeführt -, und in jeder Generation entdeckte man Neues an dem Werk.
In der Sprache der Rezeptionstheorie: Das Werk ist dermaßen reichhaltig und komplex, dass es so vieler Generationen bedurfte, um alle diese vielen Schichten zu aktualisieren.
Und jetzt entsteht die Frage, und das betrifft auch die kanonische Exegese und deren Historie:
Wann ist "Faust" richtiger rezipiert worden: zu der Zeit, als der "Faust" erschien, oder 200 Jahre später, wo man das Absurde und Expressionistische des "Faust" im Werk entdeckte?
Die Rezeptionstheorie sagt: Erst alle Deutungen zusammen spiegeln die Kompexität des Werkes wider.
Alle diese Deutungen sind von Anfang an latent im Werk enthalten, durch seine Komplexität ermöglicht, können aber erst durch die Historie, die Geschichte aktualisiert werden.
So, und jetzt komme ich zur kanonischen Exegese. Laut Ratzinger - im "Jesus-Buch" - entfaltet sich das Verstehen von"Jesus" erst durch die Zeiten hindurch.
Das ist rezeptionstheoretisch korrekt. Das Jesusbild verändert sich mit der Zeit, und es sei nicht behauptbar, dass die Rezeption im Jahr oooo die Wichtigste ist. Sie sagt - laut Rezeptionstheorie - nur etwas darüber aus, wie die Leute in diesem Jahr auf das Erzählen über Jesus reagiert haben.
Aber erst die Entfaltung der Wirkungen durch die Jahrhunderte zeige, was an Vielschichtigkeit in dem Ursprungswerk - ich meine jetzt die Bibel - enthalten sei. Alle Deutungen zusammen zeigen diese Vielschichtigkeit auf.
Wenn Ratzinger sagt, er beziehe sich in der Rezeption der biblischen Erzählungen nur auf die Tradition der katholischen Kirche - und klammere die Rezeption durch die Evangelische Kirche, durch die Nicht-Kirchlichen Menschen etc. aus -, dann ist das für mich zwar nicht befriedigend, aber wissenschaftlich und methodisch sauber.
Ich kann ja schließlich auch die Rezeption der Jesus-Figur in Afrika untersuchen, ohne überhaupt irgendeine europäische Kirche mit in die Untersuchung einzubeziehen, und das geht ebenfalls wissenschaftlich und methodisch sauber.
sven23 hat geschrieben:So wird bei nicht Gefallen eines historisch-kritischen Ergebnisses dieses flugs zu einem geisten Inhalt umettiketiert und die HKM für nicht zuständig erklärt. Im Zweifelsfalle bügelt die kanonische Exegese einfach die HKM-Ergebnisse weg. (so geht auch Ratzinger vor)
Ich hab das Jesus-Buch noch nicht durch, ich bin ein sehr langsamer Leser, und ich muss sehr viel beruflich lesen.
Darum jetzt nur zu closs:
Mir gefällt die Inflation des Begriffes "geistig" auch nicht.
Aber ich gehe jetzt mal kurz wieder zurück zu "Faust". Ich habe ihn x-mal gelesen, ein paarmal auf der Bühne gesehen und Teile daraus ab und zu für Zuschauer inszeniert.
Ich schiebe alle Erläuterungen über "Faust" weg, kenne sie auch kaum.
Es gibt da nur mich und das Werk, die beiden konfrontiere ich miteinander.
Egal, wie oft behauptet wird, man könne Faust II nur verstehen, wenn man die griechischen Anspielungen verstehe:
ich ignoriere das und lese das Werk so, wie ich bin, mit aller meiner Erfahrung und aller meiner Nicht-Erfahrung.
Ich bin glühend begeistert von dieser Wahnsinns-Phantasie des ollen Jöte, und es kommt mir so vor, als sei er besser als alle heutigen Dichter des Genres "Absurdes Theater". Als hätte er das Absurde der Existenz als Einziger zu gestalten vermocht - ohne es vielleicht selber zu wissen.
Es mustten also erst so und so viele Epochen vergehen, bis das Absurde als Phänomen überhaupt erst entdeckt wurde und im Werk Goethes aufgefunden werden konnte.
Darum halte ich es für legitim, so wie closs auch, das Werk ganz unabhängig von irgendeiner Rekonstruktion dessen, wie es zur Zeit Goethes verstanden wurde, zu lesen und zu verstehen.
Das ist auch der Alltag in der Literaturwissenschaft. Wir versuchen natürlich, zu rekonstruieren, wie es zu Goethes Zeit verstanden wurde, Aber wir verfallen nicht dem Wahn, dass die das damals richtiger verstanden haben.
Die HKM ist eine wichtige Methode, aber sie ist tatäschlich nicht maßgeblich für das, wie etwas verstanden werden muss.
In der Theologie untersucht sie die damaligen Texte und das damalige Bewusstsein.
Aber die Bedeutung der Jesus-Figur kann sich sehr wohl durch die Zeiten hindurch entwickeln, und es ist die Entscheidung des Rezipienten, was er davon als für sich gültig hält.
"Geistig lesen" - im Sinne von closs - ist eine subjektive Methode, die allerdings legitim ist. Je nach Maßgabe des jeweiligen geistigen Entwicklungsstandes bezieht man die Teile des Gelesenen aufeinander, und zwar so, dass man selber dadurch Klraheiten bekommt.
Ich mache das mit der Literatur auch. Ich bilde mir meinen persönlichen Kanon unter den Künstlern und filtere mir daraus, was ich für mein eigenes Leben benötige.
Dazu ist Kunst da. Dazu sind auch Religionen da.
Wenn mir jemand erzählt, dass die HKM nachgewiesen hat, dass kein Schwein zur Zeit Goethes das Werk im Sinne des "Absurden Theaters" verstanden habe, dann sage ich: "Na und?"
Goethe hat nicht für die Toten geschrieben, sondern für die Lebendigen.
Und die Rezeptionstheorie - die Ratzinger offenbar gut kennt - setzt auch auf die Lebendigen und nicht auf die Toten.
Wir heute brauchen geistiges Material. Die Bibel kann zur Zeit der Apostel die und die Bedeutung gehabt haben - nur hat sie heute eine andere Bdeutung. Im Sinne der Rezeptionstheorie aktualisieren wir heute erneut eine Deutungsschicht.