Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

ThomasM
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#281 Re: Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

Beitrag von ThomasM » Fr 4. Dez 2015, 20:53

sven23 hat geschrieben: Kubitza hat da eine interessante Erklärung, warum die Sünde im Christentum so einen hohen Stellenwert hat.

"Der Grund für den christlichen Sündenwahn liegt außerhalb der Anthropologie. Er liegt im Tode
Jesu begründet bzw. darin, dass Jesus einen gewaltsamen Tod erlitten hat. Dieser Tod Jesu wurde
von seinen ersten Anhängern noch nicht als heilbringend angesehen, sondern nur als das „typische“
Schicksal eines Propheten oder gerechten Mannes verstanden und beklagt, also als negatives
Geschehen interpretiert. Doch dann suchten seine Gläubigen – er war ja inzwischen vom Verkündiger
zum Verkündigten geworden – auch seinem Tode einen Sinn abzugewinnen. Es konnte der „Messias“
oder der „Sohn Gottes“ doch nicht ohne Grund einen solchen Tod gestorben sein. Wie Gläubige
überall einen göttlichen Plan erkennen wollen, so musste bei Jesu eigenem Tod das Gefühl der
kognitiven Dissonanz besonders schmerzhaft sein. Um dem zu begegnen, entwickelte man den
Gedanken, dass Jesus freiwillig einen solchen Tod gestorben war. Und dass er es stellvertretend für
die Menschen getan hat. Damit wurde sein Tod nun positiv gesehen. Wenn es aber nötig war, dass ein
Gott (als der Jesus ja letztlich angesehen wurde) für die Menschen sterben musste; dann muss die
Sünde der Menschen ja aber viel größer und weitreichender gedacht werden als dies das Judentum
bisher meinte. Aus diesem Grund haben die Christen den Sündenbegriff aufgeblasen, radikalisiert und
ins Phantastische gesteigert."

Kubitza, Dogmenwahn
Sie mag interessant sein, ist aber argumentativ an allen Haaren herbeigezogen. Man sieht geradezu, wie bemüht Kubitza seinen eigentlich unbegründbaren Standpunkt herbeizwingen will. Ein Musterbeispiel eines "ich kenne das Ergebnis, jetzt muss ich nur noch ein Argument finden"

Hätte er sich doch einfach nur einmal mit Geschichte beschäftigt.

Die Basis des christlichen Fokus auf den Begriff der Sünde liegt in der Herkunft des Christentums aus dem Judentum.
Das Judentum ist definiert durch den Satz "Die Juden sind das eine Volk, denen Gott sein Gesetz anvertraut hat und die damit diesem Gesetz unterliegen"
Das Judentum ist also definiert durch das Gesetz und den Bemühungen, es zu halten. Das hat auch die stark gesetzesorientierten Bewegungen wie Pharisäer und Sadduzäer hervorgerufen.
Nun war es den normalen Menschen praktisch unmöglich, das Gesetz zu halten (es gab einfach zu viele Vorschriften). Dadurch wurde ein beständiges schlechtes Gewissen und das Gefühl des Verloren-Seins hervorgerufen.

Jesus hat damit Schluss gemacht, er hat die Menschen von dem Zwang des Gesetzes befreit. Gerade Leute wie Paulus oder Luther (woraus man sieht, dass in langen Perioden des Christentums eher jüdisch gedacht wurde als christlich) haben das als starke Befreiung empfunden.
Nun haben die Christen aber ein Problem. Wenn die mehrheitlich heidnischen Menschen gar keinen Wert mehr auf das Gesetz legen, wenn ihnen das geradezu schnurz ist, wie soll man ihnen klarmachen, dass sie durch Jesus davon befreit sind?
Werfen die Menschen das Gesetz fort, dann wird auch ein wichtiger Punkt christlicher Verkündigung fortgeworfen.

Viele christliche Verkündiger haben bis heute darauf reagiert, indem sie die Sünde in den Vordergrund gestellt haben. Ein Weg, den ich absolut nicht gutheiße, weil er schlicht falsch ist.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.

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#282 Re: Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

Beitrag von closs » Fr 4. Dez 2015, 21:59

Münek hat geschrieben:Jesus war nicht Christ, sondern Jude. Das sollte langsam Allgemeingut sein.
Er gehörte nicht zu seinen eigenen Anhängern - das ist korrekt.

Münek hat geschrieben:Die "Erbsünde" ist auch nicht philosophisch begründbar
:|

sven23 hat geschrieben: Im Christentum fiel diese Möglichkeit weg. Die Kirche bot sich zum Ersatz als vermittelnder Retter des Seelenheils an.
Das klingt plausibel, sagt aber nichts darüber aus, was das Wort "Sünde" eigentlich soll. - Warum gibt es überhaupt die "Sünde", wäre die Frage vorher.

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#283 Re: Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

Beitrag von Pluto » Fr 4. Dez 2015, 22:31

closs hat geschrieben:Warum gibt es überhaupt die "Sünde", wäre die Frage vorher.
Keine Ahnung. Gibt es die Sünde überhaupt?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#284 Re: Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

Beitrag von closs » Fr 4. Dez 2015, 23:24

Pluto hat geschrieben:Gibt es die Sünde überhaupt?
Im säkularen Sinne NEIN - es gibt übrigens im säkularen Sinne auch keine Ehe.

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#285 Re: Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

Beitrag von Pluto » Fr 4. Dez 2015, 23:29

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Gibt es die Sünde überhaupt?
Im säkularen Sinne NEIN - es gibt übrigens im säkularen Sinne auch keine Ehe.
Ich würde sagen, Letzteres gibt es sehr wohl. Nur eben im biblischen Sinn nicht.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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sven23
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#286 Re: Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

Beitrag von sven23 » Sa 5. Dez 2015, 06:25

closs hat geschrieben:Im säkularen Sinne NEIN - es gibt übrigens im säkularen Sinne auch keine Ehe.

Stimmt, Ungläubige dürfen nicht heiraten. :lol:
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sven23
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#287 Re: Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

Beitrag von sven23 » Sa 5. Dez 2015, 07:12

ThomasM hat geschrieben: Das Judentum ist definiert durch den Satz "Die Juden sind das eine Volk, denen Gott sein Gesetz anvertraut hat und die damit diesem Gesetz unterliegen"
Das Judentum ist also definiert durch das Gesetz und den Bemühungen, es zu halten. Das hat auch die stark gesetzesorientierten Bewegungen wie Pharisäer und Sadduzäer hervorgerufen.
Nun war es den normalen Menschen praktisch unmöglich, das Gesetz zu halten (es gab einfach zu viele Vorschriften). Dadurch wurde ein beständiges schlechtes Gewissen und das Gefühl des Verloren-Seins hervorgerufen.

Auch darauf verweist Kubitza:
"Der Begriff „Sünde“ begegnet zwar schon im Alten Testament. Er meint dort die Störung eines
behaupteten Gemeinschaftsverhältnisses zwischen Gott und Mensch, die Nichtbeachtung der
göttlichen Gebote, ein Abweichen vom rechten Weg, die Verfehlung eines Zieles, im Frühjudentum
dann konkret die Nichteinhaltung des jüdischen Gesetzes. Nicht zuletzt diente der Opferkult, das
rituelle Töten von Tieren oder das Verbrennen von Feldfrüchten etc. dazu, dieses gestörte
Gemeinschaftsverhältnis wieder zu kitten."



ThomasM hat geschrieben: Jesus hat damit Schluss gemacht, er hat die Menschen von dem Zwang des Gesetzes befreit. Gerade Leute wie Paulus oder Luther (woraus man sieht, dass in langen Perioden des Christentums eher jüdisch gedacht wurde als christlich) haben das als starke Befreiung empfunden.

Ich poste mal den ganzen Abschnitt, damit es klarer wird.

"Die Christen haben einerseits die Sünde bis zur Unerträglichkeit aufgeblasen, andererseits aber den
Menschen den klassischen Weg zur Entsühnung durch Opfer abgeschnitten. Gefangen und ausgeliefert
an die Macht der Sünde sitzt der Mensch nun im Kerker seiner selbst und kann nur durch Christus
befreit werden, der natürlich durch die Kirche und ihre Sakramente vermittelt wird. Sie verwaltet den
einzigen offenen Notausgang im brennenden Welttheater. Wer ihn nicht nutzt, wird sterben.
Besonders die Reformatoren haben sich alle Mühe gegeben, den Menschen in einem möglichst
schlechten Licht erscheinen zu lassen. Denn je schlimmer der Mensch als Sünder beschrieben wurde,
desto leuchtender konnten sie die göttliche Gnade über ihm leuchten lassen. Alle Menschen sind, so
stellt die confessio augustana (CA II) fest, „von Mutterleib an voll böser Lust und Neigung“, sie sind
„in Sünden empfangen“ worden. Für Luther ist der Mensch
„… der Macht des Teufels unterworfen, der Sünde und dem Tod, beiden mit eigenen
Kräften unüberwindbaren Übeln auf ewig ausgeliefert.“442
Die Sünde wird mehrfach als Seuche oder Krankheit beschrieben, die den Menschen gefangen hält
und die noch dazu angeboren ist. Und während die Katholiken zumindest noch die Möglichkeit des
Menschen zum Guten einräumten, kannten die protestantischen Gnadentheologen eben eine solche
Gnade nicht. Der lutherische Theologe Matthias Flacius (gest. 1575) wollte gar die Sünde als das
substanzhafte Wesen des Menschen definieren.443
Nichts war mehr zu spüren vom aufrechten Menschen der Antike oder auch nur vom positiven
Menschenbild der Renaissance oder des Humanismus. Schon die christlichen Theologen der Antike
haben aus den Menschen Kranke gemacht, die auf die durch die Kirche vermittelten Gnadenmittel
angewiesen sind. Sie haben eingebildete Kranke produziert, die sich tatsächlich zunehmend als krank
empfanden, je länger man ihnen dies einredete."

Kubitza, Dogmenwahn




ThomasM hat geschrieben: Viele christliche Verkündiger haben bis heute darauf reagiert, indem sie die Sünde in den Vordergrund gestellt haben. Ein Weg, den ich absolut nicht gutheiße, weil er schlicht falsch ist.
Da bist du mit Kubitza (und mir) einer Meinung.
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#288 Re: Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

Beitrag von sven23 » Sa 5. Dez 2015, 07:16

Hier ein Beispiel für eine etwas positvere Sicht des mythologischen Begriffs der "Sünde".
@closs. Kommt dir das nicht bekannt vor?

"Paul Tillich, der vor den Nazis in die USA emigrieren musste, und dessen Theologie sich eng
anlehnt an philosophische Begrifflichkeiten vor allem des Existentialismus, ist ein Beispiel für ein
positives Verständnis vom Sündenfall. Denn auch das ist möglich, ja wurde sogar von der
Philosophie vorgedacht. Vor allem im Deutschen Idealismus wurde der Sündenfall positiv gesehen.
Immerhin geht es ja in der biblischen Geschichte um das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen.
Und natürlich will sich ein Philosoph so etwas nicht sagen lassen, auch nicht von einem Gott. Was ist
das auch für ein seltsames Verbot? Selbstverständlich beachtet man das Verbot, Erkenntnisse zu
erlangen, nicht, und selbstverständlich lässt man sich nicht vorschreiben, wo man erkennen darf und
wo nicht. Für Hegel ist die heile Welt des Urstands vor dem Fall auch ein Stadium der
Bewusstlosigkeit. Aus diesem muss der Mensch heraus, um wahrhaft Mensch zu werden. Deshalb
war der Sündenfall geradezu notwendig. Der Mensch muss die Erfahrung von Gut und Böse machen,
will er nicht wie ein Tier dahindämmern, der Sündenfall wird nicht nur zum Schritt in die Erkenntnis,
sondern ist auch ein Schritt in die Freiheit. In den Bahnen Hegels nun versteht Paul Tillich den
Sündenfall als den „Übergang von der Essenz zur Existenz“, aus der „träumenden Unschuld“ hinein in
die Selbstverwirklichung.462 Erst so ist wahres Menschsein möglich."

Kubitza, Dogmenwahn
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#289 Re: Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

Beitrag von closs » Sa 5. Dez 2015, 08:38

sven23 hat geschrieben: Kommt dir das nicht bekannt vor?
Ja - entspricht meiner Auffassung. - Was aber nicht heisst, dass deshalb Sünde "gut" ist - sie bleibt "böse". Wenn ich Dir den Hals abschneide, ist dies auch mit dieser Begründung nicht entschuldbar - es kann nur entschuldet werden.

Die Gefahr besteht hier, dass der eine oder andere plötzlich "Sünde" nicht mehr als "Sünde" ansieht, weil sie heilsgeschichtlich eine notwendige Funktion hat. - Das würde nämlich einer Rechtfertigung der Sünde gleichkommen: "Ich möchte ein bewusster Mensch werden, also kill ich mal den Nachbarn". ;)

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Zeus
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#290 Re: Theologie - Wissenschaft oder überholtes Relikt?

Beitrag von Zeus » Sa 5. Dez 2015, 09:27

sven23 hat geschrieben:
ThomasM hat geschrieben: Viele christliche Verkündiger haben bis heute darauf reagiert, indem sie die Sünde in den Vordergrund gestellt haben. Ein Weg, den ich absolut nicht gutheiße, weil er schlicht falsch ist.
Da bist du mit Kubitza (und mir) einer Meinung.
Mit mir auch. :D
Ich hatte mich gewundert, warum der gute ThomasM sich so gegen Kubitzas Ausführungen ereiferte und dann schließlich zum gleichen Ergebnis kam.
Das absolute Desaster, der Tod jesu am Kreuz, wurde von Paulus umgedeutet als ein plangemäßes Süneopfer zur Rettung der sündigen Menschheit vor der gerechten Strafe Gottes.
Kubitza hat doch nur die Entstehung dieser Grundlage des christlichen Glaubens erklärt.
Für die Missionare war es natürlich ganz besonders wichtig auf der angeborenen Sündhaftigkeit der Menschen zu bestehen, denn wozu brauchten sog. Heiden Erlösung? Sie waren aufrechte Menschen, hatten ihre eigenen Gesetze und respektierten sie.
Dazu folgende Anektdote:
Eskimo: 'If I did not know about God and sin, would I go to hell?'
Priest: 'No, not if you did not know.'
Eskimo: 'Then why did you tell me?'
Quelle
e^(i*Pi) + 1 = 0
Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen, noch nicht einmal existieren muss.
(Charles Baudelaire, frz. Schriftsteller, 1821-1867)

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