Sein und Wahrnehmung II

Säkularismus
Geistliches und Weltliches verbinden
JackSparrow
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#121 Re: Sein und Wahrnehmung II

Beitrag von JackSparrow » Mi 2. Dez 2015, 07:48

closs hat geschrieben:Sinnliches und Geistiges zwei unterschiedliche Arten der Perzeption - zwischen denen es selbstverständlich Verbindungen gibt.
Technisch betrachtet ist Vorstellung eine Teilmenge von Wahrnehmung. Bei beiden Vorgängen werden die gleichen Hirnregionen aktiv - bei der Vorstellung eben nur etwas weniger und in der umgekehrten Reihenfolge.

Also ist alles Denken in Wirklichkeit Erinnerung. Man setzt verschiedene Bruchstücke zusammen, die man von früher noch irgendwo gespeichert hatte, und schon hat man sich aus der Summe der Einzelteile ein ganz neues Ding erschaffen, das niemand je gesehen hat.

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Savonlinna
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#122 Re: Sein und Wahrnehmung II

Beitrag von Savonlinna » Mi 2. Dez 2015, 08:43

Thaddäus hat geschrieben: Sich einen Gott bzw. das Göttliche als transzendent zu definieren (weil Transzendenz vorstellen können wir uns nicht) bedeutet vor allem, dass dieser Gott sich selbst so offenbaren bzw. entäußern muss, dass der Mensch mit ihm Erfahrungen überhaupt machen kann. Ein transzendentes Wesen (wenn man an es glaubt) kann vom Menschen nicht erkannt werden, wenn es sich nicht selbst in die Welt des Menschen hinein offenbart und entäußert. Das ist also eine Einbahnstraße. Das kann religionshistorisch dadurch geschehen, dass der Gott irgendeine physische Gestalt annimmt oder auch, wie es die Israeliten glaubten, dass sich JHWH immer wieder in die besondere Geschichte des Volkes Israel eingreifend offenbart.

Der Mensch kann bei dieser Bestimmung von Transzendenz über keinen besonderen geistigen Sinn verfügen, mit dem er den transzendenten Gott unmittelbar erfahren kann, denn dann wäre dieser Gott eben nicht transzendent, weil er ja unmittelbar erfahren werden kann und es gäbe einen Erkenntnisweg vom Menschen zu Gott. So definiert das Christentum seinen Gott aber nicht. Der ev. Theologe Karl Barth definierte Gott dem gemäß konsequent als das "ganz Andere".

Ich kenne dieses Konstrukt.

Es ist ein raffiniertes Konstrukt - nichtsdestotrotz eine reine Kopfgeburt.
Raffiniert darum, weil man sich da alles Beliebige ausdenken kann und - je nach Charakter - hämisch sagen kann:
meine Kopfgeburt ist nicht "falsifizierbar", ätsch, ätsch.

Einem in der Weise konstruierten Gott kann man jede beliebige unbekannte Eigenschaft zusprechen - der so Zusprechende ist fein raus. Da diese Eigenschaft ja unerkennbar ist, kann sie beliebig behauptet werden - "ätsch ätsch" -, und kener kann was dagegen sagen.

Es ist in meinen Augen eine billige Masche, dann so weiter zu konstruieren, dass dieser unerkennbare Gott sich "offenbare" und der Mensch damit etwas von dem an sich unerkennbaren Gott "erführe".

Billige Masche darum, weil dieser Gott sich von Menschenseite so zurechtgebastelt wird - wieder auf der Basis Kopfgeburt -, dass er zwar unerkennbar, aber dann eben doch erkenntbar, sei.

Dieses Konstrukt ist - von der Folge her - identisch mit einem anderen Konstrukt: dass der Gott genau das ist, was der Mensch erfährt.
Diese beiden Konstrukte unterscheiden sich nur in Wortbehauptungen - also nur in ihrer menschlichen - konstruierten - Vorstellung, sind in ihren Folgen aber identisch. Denn in beiden Fällen weiß man nur um den erfahrenen und erfahrbaren Gott.
Der konstruierte Überbau - der, den keiner nachweisen kann und keiner erkennen kann, ätsch, ätsch - könnte aus dem Menschen erklärt werden, der derlei braucht. Warum er derlei braucht, ist eine interessante kulturpsychologische und auch individualpsyschologische Frage.

Ich bin nicht der Meinung, dass "das" Christentum diesem Aberwitz folgt.
Karl Barth ist da extrem, bei Tillich sieht es schon anders aus, bei Meister Eckehart auch. Rbinsons "Gott ist anders" hat ebenfalls mit diesem verkopften Denken nichs zu tun, und auch er repräsentiert das Christentum.

Für mich ist es eine Beleidigung des Christentums, es auf die erwähnte verlogene Konstruktion zu gründen.
Beleidigung darum, weil dieser "ätsch ätsch"-Charakter - "guck mal, ich kann was ganz Raffiniertes behaupten, und keiner kann mir was, haha" - dermaßen widerlich ist, dass es mir die Tiefe, mit der einige Theologen ihren Gott verstehen - "Gott ist in der Tiefe" -, nicht einmal im Ansatz erfasst.

Es gibt immerhin Christen - Sophie Scholl zum Beispiel -, die durch ein Verstehen von "Jesus" die Angst vor dem Henkerbeil nicht hatte.
Es ist ihr bestimmt nicht eingefallen, sich vor ihrem Tod mit einem "ätsch-Gott" - ha, ha, mir kann keiner was, ich bastele mir Gott so, dass keiner ihn falsifzieren kann - auseinanderzusetzen.
Vor solcher Wahrhaftigkeit, die der Tod einem jungen Menschen abverlangt, macht sich dieser konstruuierte ätsch-Gott lächerlich, er bricht in seiner Hohlheit zusammen.

Ich denke nach wie vor, dass nur glaubensunfähige Christen sich an solche raffinierten Konstrukte halten, sie auch nur darum aufgestellt haben, um ihre Glaubenslosgkeit zu kompensieren.
Sie verstehen unter "glauben" dann: etwas für wahr halten, was sie sich selber ausgedacht haben.
Darum sind gerade sie eine Widerlegung dessen, was vielen aus der Bibel entgegenspringt: das Begreifen, dass sie als Mensch zu noch anderem berufen sind als das, was sie zur Zeit noch sind.

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Thaddäus
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#123 Re: Sein und Wahrnehmung II

Beitrag von Thaddäus » Mi 2. Dez 2015, 08:46

JackSparrow hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben: Man kann somit in keiner Weise festlegen, dass eine „Ich-Instanz“ vorhanden sein muss, die sich selbst beobachtet.
Doch, genau das ist es, was man sogar unzweifelhaft feststellen kann.
Eine "Ich-Instanz" lässt nicht beobachten. Die lässt sich nur behaupten. Und wer etwas behauptet, was niemand beobachten kann, ist nichts anderes ein Betrüger.
Da diese Ich-Instanz transzendental (Achtung! Nicht transzendent!) gedacht werden muss, kann man sie selbstverständlich nicht beobachten, denn sie stellt die Voraussetzung jeder Beobachtungsmöglichkeit dar. Es ist eine denknotwenige Voraussetzung, denn Beobachtung ohne eine solche Instanz, wäre buchstäblich nichts. Beobachtung ohne etwas, welches beobachtet ist schlicht und einfach undenkbar.
Diesen eigentlich recht einfachen Sachverhalt haben Pluto und SilverBullet ebenfalls noch nicht verstanden.
Ich werde das demnächst kleinschrittiger erklären, vielleicht wird es euch dann klar werden.

closs
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#124 Re: Sein und Wahrnehmung II

Beitrag von closs » Mi 2. Dez 2015, 10:04

Thaddäus hat geschrieben:Der Mensch kann bei dieser Bestimmung von Transzendenz über keinen besonderen geistigen Sinn verfügen, mit dem er den transzendenten Gott unmittelbar erfahren kann, denn dann wäre dieser Gott eben nicht transzendent
Aber vielleicht mittelbar. - Wenn ich Pluto richtig verstanden haben, kann man Tesserakte physikalisch nachweisen, obwohl sie nicht Teil unserer Wahrnehmungs-Welt sind.

Thaddäus hat geschrieben: Das ist also eine Einbahnstraße.
Das sehen viele Christen anders - sie glauben, Gott spüren zu können. - Wo steht eigentlich geschrieben, dass geistige Wahrnehmung auf derselben Ebene stattfindet wie sinnliche Wahrnehmung?

Thaddäus hat geschrieben:Allenfalls kann der Mensch Gott indirekt über dessen Schöpfung "bemerken".
Und was ist mit der "Res cogitans"?

Savonlinna hat geschrieben:Beleidigung darum, weil dieser "ätsch ätsch"-Charakter - "guck mal, ich kann was ganz Raffiniertes behaupten, und keiner kann mir was, haha" - dermaßen widerlich ist
Im Alltag spielt das aus meiner Beobachtung keine Rolle - da lebt man seine Erkenntnisse (oder verstößt dagegen), aber man diskutiert sie nicht. - Diese Schiene kommt allenfalls dann auf, wenn - wie hier auf dem Forum - unterschiedliche Weltanschauungen kommunizieren. - Im Alltag erkennt man sich gegenseitig - oft ohne weitere Fragen - als Christ und spricht dann über Einkaufen, Urlaub, nächsten Autokauf, kranke Kinder, Berufsprobleme, Probleme in der Welt, Not bekannter Menschen, etc. - aber nicht über "Ich behaupte jetzt mal was Raffiniertes".

Dein Eindruck entsteht dadurch, weil das Forum stark mit Atheisten vertreten ist, nach deren Überzeugung nur intersubjektiv Nachweisbares "sein" könne - und da ist schon der Hinweis angebracht, dass auch intersubjektiv Nicht-Nachweisbares "sein" kann - "und keiner kann mir was".

Savonlinna hat geschrieben:Es gibt immerhin Christen - Sophie Scholl zum Beispiel -, die durch ein Verstehen von "Jesus" die Angst vor dem Henkerbeil nicht hatte.
Das ist ebenfalls ein "Keiner kann mir was" - weil ich Christ bin. - Und zwar nicht negativ wie in Deinem Beispiel, sondern positiv.

closs
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#125 Re: Sein und Wahrnehmung II

Beitrag von closs » Mi 2. Dez 2015, 10:14

JackSparrow hat geschrieben:echnisch betrachtet ist Vorstellung eine Teilmenge von Wahrnehmung. Bei beiden Vorgängen werden die gleichen Hirnregionen aktiv - bei der Vorstellung eben nur etwas weniger und in der umgekehrten Reihenfolge.
Klingt plausibel.

Jetzt stelle Dir mal vor, "geistiges Wahrnehmen" würde - Deine Worte - bedeuten, "verschiedene Bruchstücke zusammensetzen, die man von früher noch irgendwo gespeichert hatte". - Wobei "früher" der Ursprung in Gott wäre. - Dann hättest Du eine perfekte Definition von "geistigem Denken" geliefert - mit dem Schönheitsfehler, dass Dir das zugrunde liegende Weltbild persönlich komplett fremd ist.

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Savonlinna
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#126 Re: Sein und Wahrnehmung II

Beitrag von Savonlinna » Mi 2. Dez 2015, 13:36

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Beleidigung darum, weil dieser "ätsch ätsch"-Charakter - "guck mal, ich kann was ganz Raffiniertes behaupten, und keiner kann mir was, haha" - dermaßen widerlich ist
Im Alltag spielt das aus meiner Beobachtung keine Rolle - da lebt man seine Erkenntnisse (oder verstößt dagegen), aber man diskutiert sie nicht. - Diese Schiene kommt allenfalls dann auf, wenn - wie hier auf dem Forum - unterschiedliche Weltanschauungen kommunizieren. - Im Alltag erkennt man sich gegenseitig - oft ohne weitere Fragen - als Christ und spricht dann über Einkaufen, Urlaub, nächsten Autokauf, kranke Kinder, Berufsprobleme, Probleme in der Welt, Not bekannter Menschen, etc. - aber nicht über "Ich behaupte jetzt mal was Raffiniertes".

Dein Eindruck entsteht dadurch, weil das Forum stark mit Atheisten vertreten ist, nach deren Überzeugung nur intersubjektiv Nachweisbares "sein" könne - und da ist schon der Hinweis angebracht, dass auch intersubjektiv Nicht-Nachweisbares "sein" kann - "und keiner kann mir was".

Ja, Du redest Dich wieder raus.
Was soll ich machen.
Diesen "ätsch-"Charakter nutzt Du auch, um mir gegenüber klar zu machen, dass Du Tillich halt so verstehst, wie Du ihn verstehst, und dass ich da nichts machen könne.
Als "Begründung" nennst Du professionelle Deuter, die auch unterschiedlich deuten.
Dass Du selber aber grade mal ein paar Sätze von ihm gelesen hast und trotzdem sagst: "ätsch, Savonlinna, Du kannst gegen meine Umdeutung nichs machen, denn selbst professionelle Deuter ... etc", zeigt mir, wie unehrlich Du argumentierst.

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Es gibt immerhin Christen - Sophie Scholl zum Beispiel -, die durch ein Verstehen von "Jesus" die Angst vor dem Henkerbeil nicht hatte.
Das ist ebenfalls ein "Keiner kann mir was" - weil ich Christ bin. - Und zwar nicht negativ wie in Deinem Beispiel, sondern positiv.
Richtig. Aber sie machte es nicht mit argumentativen Tricks.
Auch jetzt hast Du wieder getrickst, indem Du Deine Tricks mit Sophies Ehrlichkeit gleichschaltest - obwohl Du mit Sicherheit verstanden hast, welchen Unterschied ich sehe zwischen ihrer Wahraftigkeit und Deinem Gedankengebäude, das Du Dir so raffiniert hast aufbauen wollen, dass es keiner "falsifizieren" kann.
Du kannst kaum den Mund aufmachen, ohne zu betrügen.

Es geht Dir immer nur um Deine Person, die verbal Sieger bleiben will.
Wie ein Verteidiger, den es nicht kümmert, ob die Person, die er verteidigt, das Übel begangen hat - sondern nur verbal was für sich selber raushauen will.

Dein Gott wird sich nach Deinen Tricks auch schwerlich richten.
Du kannst nur erreichen, dass man einen Abscheu vor so einem Gott bekommt, der nur mit Tricks konstruiert werden kann.

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Thaddäus
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#127 Re: Sein und Wahrnehmung II

Beitrag von Thaddäus » Mi 2. Dez 2015, 13:43

JackSparrow hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Sinnliches und Geistiges zwei unterschiedliche Arten der Perzeption - zwischen denen es selbstverständlich Verbindungen gibt.
Technisch betrachtet ist Vorstellung eine Teilmenge von Wahrnehmung. Bei beiden Vorgängen werden die gleichen Hirnregionen aktiv - bei der Vorstellung eben nur etwas weniger und in der umgekehrten Reihenfolge.
:lol:

closs
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#128 Re: Sein und Wahrnehmung II

Beitrag von closs » Mi 2. Dez 2015, 15:49

Savonlinna hat geschrieben:Diesen "ätsch-"Charakter nutzt Du auch, um mir gegenüber klar zu machen, dass Du Tillich halt so verstehst, wie Du ihn verstehst, und dass ich da nichts machen könne. Als "Begründung" nennst Du professionelle Deuter, die auch unterschiedlich deuten.
Das ist erst mal richtig wiedergegeben. - Nur geht es nicht darum, dass Du "da nichts machen könntest" - an so was denkt doch keiner.

Deine inhaltliche Aussagen stoßen bei mir in der Regel auf große Zustimmung - sobald man daran etwas interpretiert, was Dein Weltbild - oder wenn Du keines hast: Dein Denken - berührt, flippst Du aus.

Ja - ich habe aus den kurzen Passagen von Tillich etwas herausgelesen, was in mein Weltbild passt. - Damit behaupte ich nicht, dass Tillich es genau so meint wie ich, sondern lediglich, dass er Muster verwendet, die mir genauso vertraut wie sympathisch sind. - In solchen Fällen (gilt auch für Meister Eckart, Descartes, Hegel und Heidegger, etc.) glaube ich nicht, dass es Zufall ist.

Würde die Frage hier im Forum lauten "Was meint x, wenn er x schreibt", wäre dies eine wissenschaftliche Fragestellung, bei der man die eigene Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung zurückhält. - Ich verstehe aber dieses Forum nicht als wissenschaftliche Veranstaltung, sondern unter dem Aspekt "Welche Denkmuster gibt es in den vergangenen Epochen, die uns heute noch etwas zu sagen haben?" - und dann wird es oft vorkommen, dass etwas passt, woran der ursprüngliche Autor gar nicht gedacht hat. - Um so öfter, je universaler eine Aussage von ihm ist.

Savonlinna hat geschrieben:Du kannst kaum den Mund aufmachen, ohne zu betrügen.
Inzwischen wächst bei mir der Verdacht, dass - ganz ohne Absicht meinerseits - meine Art der Argumentation irgendetwas in Dir bedroht. - Du wischst es weg, indem Du postulierst, Du seist ehrlich und ich würde betrügen. - Das ist zu einfach - da steckt was tiefer.

Savonlinna hat geschrieben:Dein Gott wird sich nach Deinen Tricks auch schwerlich richten.
Da hast Du recht. - Die Realität schert sich einen Dreck darum, was man von ihr denkt oder wie man mit ihr umgeht. - Das gilt für alle, also auch für uns beide.

SilverBullet
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#129 Re: Sein und Wahrnehmung II

Beitrag von SilverBullet » Mi 2. Dez 2015, 17:44

Thaddäus hat geschrieben:Wie kann man also über Wahrnehmungen , Empfindungen und Wissen sprechen, ohne gleichzeitig und logisch zwingend anzunehmen, dass jemand Wahrnehmungen, Empfindungen und Wissen hat?

Dieser Jemand kann eine Person sein. Wir sprechen Personen sinnvoll zu, Wahrnehmungen, Empfindungen und Wissen haben zu können. Behauptet man, die Person sei eigentlich ihr Gehirn, dann ist "Jemand/Person" also ein Gehirn, welches Wahrnehmungen, Empfindungen und Wissen haben kann. Hier stellt sich die Frage, WAS in der grauen Substanz Gehirn Wahrnehmungen, Empfindungen und Wissen haben könnte (denn ein Organ kann keine Wahrnehmungen, Empfindungen und Wissen haben)? So kommt man zu einer Instanz des Denkens bzw. des Bewussteins, welches Wahrnehmungen, Empfindungen und Wissen haben kann.
In der Alltagspraxis ist es nützlich und sehr praktisch, wenn man Wahrnehmungen einer „Person“ zuordnet.

Will man aber den Wahrnehmungszusammenhang in ein Weltbild einsetzen, dann sollte man schon ganz exakt sein, bevor man sich beim Selbstverständnis täuscht und irgendein lustiges Verhalten auf Basis von Philosophie und Religion entwirft.

Es gibt keine Hinweise darauf, dass eine Person auch nur „einen Millimeter“ mehr kann, als das Gehirn dieser Person.

Wenn man der Person Wahrnehmungen, Empfindungen und Wissen zuordnet und dies mit den Fähigkeiten des Gehirns abgleichen möchte, muss man zuerst erklären, was „Wahrnehmungen, Empfindungen, Wissen“ sein sollen.

Ich gehe dabei so vor, dass ich dem Bewusstsein keinerlei Eigenständigkeit zuordne.
Das Bewisstsein kann somit…
-…Wahrnehmung nicht durchführen
-…Empfindungen nicht herstellen
-…Wissen nicht aufbauen
Trotzdem spielen diese Dinge „im Bewusstsein“, aber auch nur „dort“ und nur „für das Bewusstsein“ eine Rolle.
(wer dies nicht glaubt, kann gerne stundenlang analysieren, was er bei diesen "Handlungen" genau macht - es wird nicht viel herauskommen)

Das Bewusstsein entsteht (für mich) aus der Fähigkeit, Bedeutungszusammenhänge auf eine ganz bestimmte Art zu verwalten: „Überzeugung von Etwas“.
Das menschliche Bewusstsein besteht aus der Überzeugung…
-…dass ein „Ich“ Wahrnehmung durchführt
-…dass ein „Ich“ Empfindungen erlebt
-…dass ein „Ich“ Wissen aufbaut

Die Fähigkeit mit Bedeutungszusammenhängen auf eine Art umzugehen, dass diese Überzeugungssituationen, innerhalb eines Ablaufs, eine Rolle spielen, ordne ich voll und ganz dem Gehirn zu.

Das Gehirn verfügt dabei also nicht über „Wahrnehmungen, Empfindungen und Wissen“ sondern es hat die Fähigkeit, die Überzeugungen zu diesen Dingen stattfinden zu lassen – das ist ein enorm wichtiger Unterschied.

Thaddäus hat geschrieben:Dasselbe liegt bei SilverBullets Weigerung vor, dass ein Bewusstsein angenommen werden muss.
Er glaubt, Bewusstsein müsse intersubjektiv nachweisbar sein (was immer das bedeuten soll).
Das ist so nicht richtig.
Ich sage: wer die Existenz von Bewusstsein (neben dem Gehirn bzw. durch das Gehirn produziert) behauptet, der muss dieses "Ding" nachweisen, bevor er einen Vergleich mit dem existierenden Gehirn ziehen darf.

Thaddäus hat geschrieben:Da diese Ich-Instanz transzendental (Achtung! Nicht transzendent!) gedacht werden muss, kann man sie selbstverständlich nicht beobachten, denn sie stellt die Voraussetzung jeder Beobachtungsmöglichkeit dar. Es ist eine denknotwenige Voraussetzung, denn Beobachtung ohne eine solche Instanz, wäre buchstäblich nichts. Beobachtung ohne etwas, welches beobachtet ist schlicht und einfach undenkbar.
Vermutlich ist dies der Standardweg in der Philosophie:
1.
Man setzt stillschweigend voraus, dass dem Denken absolute Gültigkeit zukommt.
2.
Man möchte die Mental-Existenz rein aus dem Denken heraus „beweisen“ und liefert keine Verbindung zu den materiellen Zusammenhängen (hier das Gehirn)
3.
Man benutzt das Denken, um das Denken zu analysieren.

Mir sind keine Hinweise bekannt, dass dies zu vernünftigen Resultaten führt.

SilverBullet
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#130 Re: Sein und Wahrnehmung II

Beitrag von SilverBullet » Mi 2. Dez 2015, 18:03

Halman hat geschrieben:Der Hirnforscher Prof. Wolf Singer erklärte 2005 auf einen Festvortrag (auf der Jahresversammlung der Max-Planck-Gesellschaft in Rostock) gem. dem PDF-Dokument Das Gehirn – ein Orchester ohne Dirigent:
… Wir sind jedoch noch weit davon entfernt, die Prinzipien zu verstehen, nach denen sich verteilte Prozesse im Gehirn zu kohärenten Zuständen fügen – Zuständen, die dann als Substrate von Wahrnehmungen, Vorstellungen, Entscheidungen und Handlungen dienen.
Inwieweit sich darin etwas in der letzten Dekade bis heute geändert hat, kann uns vermutlich SilverBullet beantworten.
Die Aktivitätsverteilung im Gehirn betrachte ich als gut nachvollzogenes Messergebnis.
Wie in anderen Wissenschaften, hat eine korrekt durchgeführte und bestätigte Messung, dauerhafte Gültigkeit. Diese Ergebnisse verändern sich nicht mehr.
Man kann also davon ausgehen, dass das Gehirn sehr verteilt arbeitet.
An dieser Erkenntnis wird sich auch vermutlich sehr lange Zeit nichts mehr ändern.

Innerhalb der Interpretation dieser Messergebnisse besteht, so wie ich es sehe, auch heute noch das „Bindungsproblem“:
wie schafft es das Gehirn die verteilten Aktivitäten zu „etwas Ganzem“ zusammenzuführen.

Ich beobachte zwar die wissenschaftliche Entwicklung, aber nicht mit der Absicht die dortige Hauptdenkrichtung zu erfassen, sondern um meinen eigenen Vermutungsentwurf „zu belasten“. Im Grunde interessieren mich dadurch nicht die Meinungen von Wissenschaftlern sondern die gesicherten Zusammenhänge, die aber wegen der aktuell sehr groben Analysemöglichkeiten eher spärlich gesät sind.
Man kann also davon ausgehen, dass sich mein „Überblick der Neurowissenschaft“ durch sehr selektives Vorgehen gebildet hat.

Das „Bindungsproblem“ spielt in meiner Vermutung kaum eine Rolle, weil das „Zusammenführen zu etwas Ganzem“ nur innerhalb des Bewusstseins „vorliegt“, sozusagen die „Überzeugung einer Ganzheitlichkeit“ ist.
„Überzeugungen“, also die „Einzelteile des Bewusstseins“ sehe ich generell als berechnet und „konstruiert“ an, d.h. ob tatsächlich „ein Ganzes“ vorliegt, kann das Bewusstsein gar nicht feststellen – es kann sich sozusagen nur inbrünstig überzeugt davon zeigen, dass die Abläufe vollständig, flüssig und harmonisch sind
(aber das gilt ja auch für 25Einzelbilder pro Sekunde -> Film)

Wenn die „Überzeugung von Etwas“ tatsächlich rein durch das Wechselspiel innerhalb der Bedeutungszusammenhänge in Abläufen stattfindet, dann könnte dies beliebig verteilt geschehen – sozusagen: je nach Aufmerksamkeit und Konzentration wird die „aktuelle Überzeugung“ in einem anderen Gehirnzentrum berechnet.

__________________________________________________________
Nachtrag zu den verteilten Gehirnaktivitäten:
Hier ein Text der eine „vergessene Verbindung“ innerhalb der Verarbeitung von visuellen Daten aufzeigt Artikel
Trotz verteilter Aktivitäten sollte man also nicht davon ausgehen, dass es keine Verbindung gibt (z.B. in Form von Aufmerksamkeitssteuerung).
Wenn es auch keinen grossflächigen Datentransport gibt, so kann es dennoch Kontrollverbindungen geben.

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