Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Säkularismus
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closs
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#71 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von closs » Do 12. Nov 2015, 12:50

Thaddäus hat geschrieben:Diese Widerlegung stammt übrigens von Hilary Putnam und sein sehr komplizierter Beweis wurde von dem dt. Philosophen Olaf Müller in zwei dicken Bänden überprüft: Wirklichkeit ohne Illusionen I - Hilary Putnam und der Abschied vom Skeptizismus oder Warum die Welt keine Computersimualtion ist und Wirklichkeit ohne Illusionen II - Metaphysik und semantische Stabilität oder Was es heißt, nach höheren Wirklichkeiten zu fragen .
Sehr interessant - das könnte der erste ernstzunehmende und gar erfolgreiche Versuch sein, den cartesianischen Skeptizismus zu kippen.

Meine spontane Frage wäre allerdings: Jedes q.e.d. bedarf einer Voraus-Setzung (Voraussetzung, Behauptung, Beweis) - welche ist das? - Kennst Du das Buch etwas genauer?

Pluto
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#72 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von Pluto » Do 12. Nov 2015, 13:11

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:cui bono (wem nützt es)?
Der Horizont-Erweiterung des heutigen Denkens.
Und...?

Pech gehabt... wenn du dein Gedankengerüst darauf gestützt hattest.
Die Widerlegung der "Matrix-Illusion" oder dem "Gehirn im Tank" (siehe das von Thaddäus verlinkte Buch) widerlegen jegliche darauf basierende Schlussfolgerungen.
Selbst das cartesianische cogito ergo sum gerät da in schwere Not.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

closs
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#73 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von closs » Do 12. Nov 2015, 13:45

Savonlinna hat geschrieben:Nein, das ist kein Hinterfragen, sondern einfach nur eine unbegründete, möglicherweise unbegründbare Definition.
Richtig - das ist eine Definition, weil Worte ohne Definition lediglich Folgen von Vokalen und Konsonanten sind. :oops:

Savonlinna hat geschrieben:Das ist doch schon lange "durch".
Bei Dir und mir ist es durch. - Mehrheitlich ist es NICHT durch.

Savonlinna hat geschrieben:Warum also willst Du mir gegenüber diesen zweiten Schritt nicht machen?
Das können wir machen - im Bewusstsein, dass andere von uns benutzte Worte ganz anders semantisch besetzen. - Ich hätte halt gerne eine einvernehmliche Basis gehabt, auf der man dann immer noch unterschiedliche Meinungen haben kann - aber dieses Basis scheint es nicht zu geben.

Savonlinna hat geschrieben:Meine Antwort: Du hast gar keinen zweiten Schritt.
Dochdoch - aber man kommt da erst gar nicht hin mangels einvernehmlicher Basis.

Savonlinna hat geschrieben:Ich bin kein Naturalist. Wie also würdest Du mir antworten?
Dir würde ich antworten:

Man muss erstmal klären, was man mit einem Wort inhaltlich meinen will. - "Realität" bedeutet im Universalienstreit etwas ganz anderes als im heute überwiegenden Jargon - dies interpretiert man dahingehend, man habe inzwischen "Fortschritte" erzielt. - Man meint also, man habe das mittelalterliche Verständnis von "Realität" weiterentwickelt und überwunden.

Das ist komplett falsch. - Richtig ist: Man hat einen eigenen und ganz anderen Entwurf von "Realität", der mit dem mittelalterlichen Verständnis überhaupt nichts zu tun hat.

Also: Was wollen wir mit "Realität" meinen?
* Das, was auch ohne unsere Wahrnehmung "ist"? - Das wäre das mir naheliegende Verständnis.
* Das, was für den einzelnen wirksam ist? - Das gefällt mir auch gut, ist aber etwas ganz anderes.
* Das, was intersubjektiv nachweisbar ist? - Das betrifft das Segment, das Naturalisten meinen.
* Oder auch: MACHT Erkenntnis Realität? Siehe: QM - aber das sollte man wahrscheinlich erstmal zurückstellen.

Und schon haben wir sehr unterschiedliche Vorstellungen, die sich sicherlich teilweise überlappen, aber ganz und gar nicht identisch sind. - Ich würde Dich also fragen: Auf welche mögliche Definition von "Realität" willst Du raus? - Die nächste Frage wäre dann: Welche Beziehung gibt es Deiner Meinung nach zwischen "Deiner" Definition von "Realität" und den anderen, die es auch noch gibt?

Wäre das für Dich ein zweiter Schritt?

Savonlinna hat geschrieben:Ich habe nie unreflektiert jegliches Empfinden als "Sein" bezeichnet - also gilt das nicht als Ausrede.
Du erweckst manchmal den Eindruck, als sei "Realität" ein PRodukt von Ich und Sprache. - Ich sage nicht, dass Du das sagst, sondern dass es so rüberkommt. - Man hat also als Leser das Problem, einen wirklichen Anker zu finden, an dem Wahrnehmung hängt.

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#74 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von Thaddäus » Do 12. Nov 2015, 14:02

Pluto hat geschrieben:
Salome23 hat geschrieben:Worin bitte liegt der Unterschied, ob ich nun in einer realen Welt meiner beruflichen Tätigkeit nachgehen muss oder ob ich es in einer simulierten Scheinwelt tun muss?
Warum also sollte ich darüber sinnen, ob wir nun in einer echten, realen Welt leben oder nur in einer simulierten Scheinwelt? Welchen Nutzen habe ich dadurch? :)
Du hast Recht! Sich darüber Gedanken zu machen ist wirklich ziemlich sinnlos, zumal die Vorstellungen einer "Matrix" oder ähnlich Analogien wie das Gehirn im Tank ohnehin an der Komplexität einer Echt-Zeit Simulation scheitern.
Deshalb nennt man solche Gedankenexperimente auch kontrafaktisch, was bedeutet, dass sie zur Zeit technisch nicht realisierbar sind. Das ist aber ganz und gar unerheblich, denn durch ein solches kontrafaktisches Experiment soll ja nicht behauptet werden, die technische Umetzung wäre kein Problem, sondern es soll damit ein grundsätzliches Problem in der Philosophie verdeutlicht werden, nämlich das, ob und wie es argumentativ möglich ist, ausschließen zu können, dass wir Gehirne in einem Tank sind.
Die technische Umsetzung des Gedankenexperimentes muss hierfür nur prinzipiell technisch möglich sein.

Pluto hat geschrieben: cui bono (wem nützt es)?
Es nützt all denen, denen es wichtig ist die Wahrheit zu erkennen bzw. die Korrektheit ihrer Überzeugung, dass sie in der echten Realität leben! Kennst du den Film Die Truman Show ? Wenn nicht, solltest du ihn dir einmal anschauen. Da siehst du dann, warum es von Bedeutung sein kann, die Wahrheit zu kennen.

Pluto hat geschrieben: Und welche Intelligenz hat den Computer gebaut?
Unwichtig, denn die Beantwortung dieser Frage ist irrelevant für die Frage, ob wir in einer Simulation leben oder nicht. Das Gehirn-im-Tank-Szenario ist keines, welches danach fragt, wer das Experiment durchführt. Das kann man dann in einer hübschen Science-Fiction-Erzählung ausschmücken.

Pluto hat geschrieben: Hinzu kommt, dass es schlicht unmöglich ist, einen Computer zu bauen, der die Komplexität der Welt der Gefühle in Echt-Zeit simulieren könnte. Hinzu kommt die Frage nach dem Sinn (Nutzen) einer solchen Simulation...
Wenn es möglich wäre, ein Gehirn aus einem Körper zu trennen, es am Leben zu erhalten und diesem Gehirn eine ganz normale Lebenswirklichkeit vollständig zu simulieren mit entsprechenden Feedbackschleifen etc., dann wäre es möglich, einen Menschen, dessen Körper wegen einer Krebserkrankung oder eines Unfalls zerstört ist, weiterhin ein menschwürdiges Leben zu ermöglichen: und da es eine Simulation ist, was ihm in seiner Alltagswelt aber nicht auffällt, lebt er sogar in einem Paradies, denn es kann ihm alles simuliert werden, was er will. Allerdings ist er vollständig und unmittelbar abhängig von dem Computer und denen, die ihn und das Hirn im Tank betreuen. Er ist also nicht mehr - frei. Dafür könnte er so lange leben, wie ein Gehirn, das nicht an einem Hirntumor oder Alzheimner erkrankt, überhaupt am Leben erhalten werden kann. Vielleicht 150 Jahre ? ! ?
Falls jemals interstellare Reisen möglich sind, dann können sie vielleicht überhaupt nur von Hirnen in Tanks mit Dienstrobotern an Bord des Raumschiffs durchgeührt werden.

Warum habt ihr eigentlich alle so wenig Phantasie? Und warum hat hier keiner den Film Matrix wirklich verstanden? :shock:

Pluto hat geschrieben: Bei solchen Vorstellungen handelt es sich um naive philosophische Gedankenexperimente die unser Denken anregen sollen.
Mehr steckt aber nicht dahinter.
Wenn man zum Verständis des Beweises, der gegen die Möglichkeit des Putnamschen Gehirn-im-Tank-Szenarios in Stellung gebracht werden kann, den Löwenheim-Skolemsatz verstanden haben muss und ca. 500 Seiten dafür nötig sind, um die Korrektheit dieses Beweises zu erweisen, dann kann dieses Gedankenexperiment so naiv nicht sein. ;)

Und wenn man sich mit so komplizierten philosophischen Problemen nicht auseinandersetzen möchte, weil sie einem zu abgehoben vorkommen, dann heißt das nicht, dass kontrafaktische Gedankenexperimente und komplizierte philosophische Fragestellungen sinnlos sind. Oder gibt es hier jemanden, der den Beweis des Ausnahmemathematikers Grigori Jakowlewitsch Perelman der Poincaré-Vermutung - eines der 7 mathematischen Jahrtausendprobleme (!)- für sinnlos hält? :o
Mehrere Mathematiker haben den Beweis Perelmanns über 2 Jahre geprüft, um ihn zu verstehen und herausfinden zu können, dass er tatsächlich korrekt ist. Kann mir jemand sagen, für wen die Lösung der Poincaré-Vermutung von praktischem Nutzen ist?
Und kann mir vor allem jemand erklären, inwiefern die Ansicht nicht ganz und gar dämlich ist, die Lösung der Poincaré-Vermutung sei sinnlos und überflüssig, weil sie ja keinen praktischen Nutzen hat!
Zuletzt geändert von Thaddäus am Do 12. Nov 2015, 16:11, insgesamt 6-mal geändert.

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#75 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von Pluto » Do 12. Nov 2015, 14:20

Thaddäus hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben: Bei solchen Vorstellungen handelt es sich um naive philosophische Gedankenexperimente die unser Denken anregen sollen.
Mehr steckt aber nicht dahinter.
Wenn man zum Verständis des Beweises, der gegen die Möglichkeit des Putnamschen Gehirn-im-Tank-Szenarios in Stellung gebracht werden kann, den Löwenheim-Skolemsatz verstandenhaben muss und ca. 500 Seiten dafür nötig sind, um die Korrektheit dieses Beweises zu erweisen, dann kann dieses Gedankenexperiment so naiv nicht sein. ;)
500 Seiten... Wow! :shock: Ich bin beeindruckt!

Das Problem liegt nicht im technisch Machbaren mit heutigen Mitteln, sondern liegt in der Begrenzung durch die Gesetze der Physik und der Komplexität.
Der Philosoph Daniel Dennett beweist die Unmöglichkeit einer Apparatur wie das Gehirn-im-Tank in wenigen Seiten des ersten Kapitel seines 1991 erschienenen Buch Consciousness Explained.

Thaddäus hat geschrieben:Und wenn man sich mit so komplizierten philosophischen Problemen nicht auseinandersetzen möchte, weil sie einem zu abgehoben vorkommen, dann heißt das nicht, dass kontrafaktische Gedankenexperimente und komplizierte philosophische Fragestellungen sinnlos sind.
Klar sind philosophische Gedankenexperimente interessant, aber wenn deren Grundlagen widerlegt sind, sollte man das zumindest anerkennen.
Weiter spielen kann man dann immer noch.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#76 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von closs » Do 12. Nov 2015, 14:20

Pluto hat geschrieben:Selbst das cartesianische cogito ergo sum gerät da in schwere Not.
Ja - das stimmt. - Dieses Buch scheint sehr interessant zu sein.

Ich habe eine Kurzfassung des Autors dieses Buches vorhin gelesen und bin mir noch nicht sicher, was eigentlich die Voraussetzung seiner Beweisführung ist (Du kennst das: "Voraus-Setzung, Behauptung, Beweis) - also auch hier "Setzung".

In der Sache sind wir uns alle (incl. Descartes) einig, dass wir nicht in einer Matrix leben - das war nie die Frage. - Die Frage ist, ob es mit Wahrnehmung/Messung beweisbar ist, dass unsere Wahrnehmung/Messung keine Täuschung ist. - Vielleicht kann uns Thaddäus sagen, wie Putnam/Müller dazu stehen.

Erste Beschäftigung mit Putnam scheint darauf hinzudeuten, dass er offen lässt, WAS Geist ist, sehr wohl aber funktional beschreibt (wik):
"Der Geist ist nicht ein immaterieller Teil unserer selbst, sondern eine Weise, die Anwendung bestimmter Fähigkeiten, die wir haben, zu beschreiben. Diese überlagern (supervenieren) die Gehirnakivitäten und können nicht durch Reduktion erklärt werden".[33]

Das ist contra "Dualismus" (was durchaus in meinem Sinne ist) UND lässt den Grund offen, warum Geist nicht durch Reduktion erklärt werden kann - das finde ich erfolgsversprechend.

Auch folgender Satz klingt gut (wik):
"Physikalismus bei Jaegwon Kim beruhen für Putnam auf der falschen Vorstellung einer Vermittlung der Wirklichkeit durch Sinnesdaten oder Ähnliches. Putnam nennt solche Positionen „Cartesianism cum Materialism“.
Das könnte ein Weg sein, Descartes WIRKLICH weiter zu entwickeln bzw. aufzuheben - aber durch Physikalismus geht es eben NICHT. - Langsam passt's. - Danke an Thaddäus für diesen Link. :thumbup:

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#77 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von closs » Do 12. Nov 2015, 14:26

Thaddäus hat geschrieben:Kann mir jemand sagen, für wen die Lösung der Poincaré-Vermutung von praktischem Nutzen ist?
O ja - er ist dialektisch sehr interessant, weil er nachweist, dass die Aufhebung bzw. (andersrum) Ableitung authentischer Größen in andere Dimension nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in der Physik möglich ist. - Zumindest war das damals mein erster Gedanke. - Unter christlichen Gesichtspunkten war das überhaupt nicht überraschend.

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#78 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von Savonlinna » Do 12. Nov 2015, 15:11

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Ich habe nie unreflektiert jegliches Empfinden als "Sein" bezeichnet - also gilt das nicht als Ausrede.
Du erweckst manchmal den Eindruck, als sei "Realität" ein PRodukt von Ich und Sprache. - Ich sage nicht, dass Du das sagst, sondern dass es so rüberkommt. - Man hat also als Leser das Problem, einen wirklichen Anker zu finden, an dem Wahrnehmung hängt.
Was ich meinte: Die Sprache dient der Kommunikation. Sie benennt die eine Wasserquelle als "Brunnen", die andere als "Teich", damit man sie unterscheiden kann. 'Hol Wasser aus dem Brunnen und nicht aus dem Teich.'

Das Wort 'Brunnen' ist also erfunden, um es vom 'Teich' zu unterscheiden, und nicht, um das Wesen von 'Brunnen' zu ergründen.

Dem Kleinkind sagt man: 'Das ist ein Wauwau, das ist eine Miau.'
Auch hier dient das nur der Kommunikation, nicht der philosophischen Auslotung. Das Kleinkind soll nur wissen, dass Hund und Katze verschiedene Bezeichnungen haben, nicht aber, was ein Hund im philosophischen Sinne ist bzw. ob er nur ein Matrix-Produkt ist.

Das Kind also soll sinnvoll kommunizieren können, soll fragen können: "Wo ist der Hund?", damit die Mutter antworten kann: 'Der Hund ist auf dem Hof. Aber spiel doch mit der Katze, sie ist nebenan im Zimmer.'
Wenn das Kind in das Nebenzimmer läuft und mit der Katze spielt, ist der Beweis gegeben, dass das Kind "Hund und Katze" unterscheiden kann.

Die Sprache also will nur ein Minimum an Kommunikation ermöglichen. Sie sagt letztlich gar nichs über die Realität aus, Sprache beschreibt gar keine Realität. Sie dient nur dem menschlichen Miteinander.

Nur durch Gewöhnung kann es dann passeren, dass man vergisst, dass Sprache nur ein Hilfsgerüst ist und nicht das Wesen von etwas auslotet.

Genauso mit dem Verb "sein". Das Kleinkind fragt: "Was ist das?" und deutet auf eine Fliege. Die Mutter sagt: "Das ist eine Fliege", und das Kind ist zufrieden, weil es nun ständig Fliegen wiedererkennen kann. "Fliege", sagt es begeistert, wenn da wieder so was kleines Schwarzes rumsurrt.
Dieses "ist" bezeichnet auch hier nur die Möglichkeit, Fliege von Biene oder anderem fliegenden Zeuch abzugrenzen - nicht aber, um das Wesen der Fliege bezüglich "Sein" auszuloten. "Sein" heißt nur: dat Dingen flattert da rum, und ich kann es von anderem Flatternden unterscheiden.

Sprache also benennt Sachen nur, damit wir uns zurechtfinden, nicht aber, um sie philosophisch auszuloten.

Die natürlichste Frage von der Welt für einen Philosophen aber ist: Was ist das Ding, bevor ich es sprachlich benenne?
Das Benennen dient einem Zweck, dem Zweck der Unterscheidung.
Was aber ist der Teich, wenn ich von dieser Benennung gedanklich abstrahiere?
Wenn ich also davon abstrahiere, dass der Begriff "Teich" nur der Unterscheidung zu anderen Gewässern dient.

Zunächst war mir dann klar geworden, dass ich gedanklich immer auf die Sprache gehe. Ich müsste also auch mein "Denken", die ratio also, auf Null herabschrauben, damit ich erfassen kann, was "Teich" ist, bevor die ratio es zu einem Sprachding gemacht hat.

Kann ich das als Mensch überhaupt?
Gerade durch Descartes' "cogito, ergo sum" hatte ich begriffen - das ist rund vierzig Jahre her - , dass in dem Fall alles davon abhängt, ob es gelingen kann, die zur Gewöhnung gewordene Sprache wieder mir ungewohnt zu machen und damit auch das "in Sprache Denken" wieder ungewohnt zu machen.

Noch einmal, was ich damit meine:
Sprache nennt etwas "Fliege", damit es von "Biene" unterschieden werden kann, benennt damit aber nicht das philosophische Wesen von Fliege.
Die Gewohnheit kann einen aber dazu verführen, diesen Ursprung zu vergessen und stattdessen zu glauben, dass "Fliege" die Realität beschreibt, also die Fliege philosophisch auslotet.

Erinnert man sich aber wieder daran, dass diese Wörter nur dazu da sind, Sachen zu unterscheiden, löst sich einem dieser "Film", der aus der Sprache besteht, von dem ab, was hinter der Sprache sein könnte. Oder unterhalb oder vor der Sprache.

So ist es mir irgendwann ergangen. Wörter dienen der Kommunkation, aber sie beschreiben kein Wesen. Mit diesem Bewusstsein laufe ich ständig rum.
Das Wort "Realität" kommt da eigentlich bei mir gar nicht vor. Auch dieses Wort dient ja nur der Kommunikation, hat keinen anderen Wert, sagt nichts über irgend etwas aus.

Bei mir hat sich zwar "der Film Sprache" abgelöst von meinen Augen, ich sehe ihn nur als Behelfsmittel, das nichts an sich beschreibt: aber was alles das, was ich ohne Sprache wahrnehme, ist, habe ich nicht ergründet.

Sprache hat nie den Anspruch gehabt, irgend eine "Wirklichkeit" zu beschreiben. Aber was jenseits der Bezeichnung ist, weiß ich nicht, obwohl ich jeden Tag darin lebe - so wie jeder andere Mensch auch darin lebt.

Wenn ich das als "Gott" bezeichnen würde, in dem ich jeden Tag lebe, aber sprachlich nicht erfassbar ist, hätte ich wieder einen Rückfall in die Sprache, die mir ja gar nicht vermitteln kann, in was ich lebe jeden Tag. Also wäre die Benennung "Gott" ein Versuch, dem Sprachlosen zu entkommen.

Ich will dem aber nicht entkommen. Ich möchte im Gegenteil mehr davon wahrnehmen.
Mit "wahrnehmen" meine ich: das, was ständig wirkt, also ständig jenseits der Sprache vorhanden ist, bewusster zu bekommen.

Das Einzige, was ich davon weiß, ist: dass es schöpferisch ist. Thaddäus hat es angedeutet: es kann uns neue Räume eröffnen.

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#79 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von Thaddäus » Do 12. Nov 2015, 15:18

Pluto hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben: Wenn man zum Verständis des Beweises, der gegen die Möglichkeit des Putnamschen Gehirn-im-Tank-Szenarios in Stellung gebracht werden kann, den Löwenheim-Skolemsatz verstandenhaben muss und ca. 500 Seiten dafür nötig sind, um die Korrektheit dieses Beweises zu erweisen, dann kann dieses Gedankenexperiment so naiv nicht sein. ;)
500 Seiten... Wow! :shock: Ich bin beeindruckt!
Auf diesen 500 Seiten geht es um die Bestätigung des Beweises von Putnam, dass wir keine Hirne im Tank sein können!.
Auf diesen 500 Seiten geht es nicht darum, zu belegen, dass das Gedankenexperiment technisch funktionieren könnte!

Das Gehirn-im-Tank-Gedankenexperiment ist NICHT der Beweis Putnams! Das Gedankenexperiment stellt die These auf, dass wir Hirne in einem Tank sein könnten. Putnams Beweis widerlegt diese Vermutung!

Wie der Beweis lautet, das wurde hier noch nicht einmal angerissen. Das Gedankenexperiment dient nur dazu, das philosophische Grundproblem auf moderne Weise zu verdeutlichen.

Pluto hat geschrieben: Das Problem liegt nicht im technisch Machbaren mit heutigen Mitteln, sondern liegt in der Begrenzung durch die Gesetze der Physik und der Komplexität.
Der Philosoph Daniel Dennett beweist die Unmöglichkeit einer Apparatur wie das Gehirn-im-Tank in wenigen Seiten des ersten Kapitel seines 1991 erschienenen Buch Consciousness Explained.
Falls Dennett richtig liegt (was gut sein kann), dann bedeutet das vor allem, dass Putnams Gehirn-im-Tank-Szenario auf ewig kontrafaktisch bleibt. Es lässt sich damit dann aber immer noch das grundsätzliche erkenntnistheoretische Problem verdeutlichen.
Also nicht den Beweis Putnams mit seinem möglicherweise technisch unmöglichen Versuchsaufbau verwechseln!
Schrödingers Katze ist ürbigens ebenfalls ein Gedankenexperiment, welches praktisch nicht umsetzbar ist.

Pluto hat geschrieben:Klar sind philosophische Gedankenexperimente interessant, aber wenn deren Grundlagen widerlegt sind, sollte man das zumindest anerkennen.
Weiter spielen kann man dann immer noch.
Nicht die Grundlage des Gedankenexperimentes von Putnam ist von Dennett widerlegt (wenn er die technische Umsetzung für unrealisierbar hält), sondern eben die technische Realisierbarkeit des Szenarios. Auch dann bleibt aber verständlich, worum es in dem Gedankenexperiment gehen soll.

Ich kenne Dennetts Argumente für die grundsätzliche technische Unmöglichkeit des brain in a vat nicht, mir fällt aber bereits ein Gegenargument ein:
in gewisser Weise ist ein Gehirn in einem menschlichen Kopf, nichts anderes als ein Gehirn in einem Tank, angeschlossen an afferente und efferente Nervenbahnen.
Wenn es der Natur in langen Evolutionsprozessen offenbar gelungen ist, unser Gehirn hervorzubringen und mit Rezeptoren auszustatten, die elektrochemische Impulse zum Gehirn leiten, wo sie verarbeitet werden, dann muss es prinzipiell technisch möglich sein, ein solches System auch künstlich nachbauen zu können. Es ist eine andere Frage, ob man dazu vielleicht künstliche Dendriten nach menschlichem Vorbild bauen muss, einen Quantencomputer braucht und gewachsene neuronale Netze benötigt sowie Nervenbahnen, die exakt den menschlichen nachgebildet sind, damit sie auch chemische Signale transportieren können und nicht nur elektrische usw.usf.

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#80 Re: Wie führt Wahrnehmung zu Erkenntnis?

Beitrag von closs » Do 12. Nov 2015, 15:59

Savonlinna hat geschrieben:Sprache also benennt Sachen nur, damit wir uns zurechtfinden
Bis hierher bin ich ganz bei Dir - mein Wort dazu ist "Chiffre".

Savonlinna hat geschrieben: nicht aber, um sie philosophisch auszuloten.
Nun - aber auch dafür haben wir doch nur die Sprache - oder?

Savonlinna hat geschrieben:Genauso mit dem Verb "sein". Das Kleinkind fragt: "Was ist das?" und deutet auf eine Fliege.
Ja - aber da kann auch mehr dahinter stehen. - Ich erinne mich sehr an eine Szene mit meiner damaligen 5jährigen Tochter, die in einer Situation streng gesagt hat: "Das ist nicht so, das heisst nur so". - Mit anderen Worten: Es scheint eine Instanz im Menschen zu sein, die sich nicht durch Sprache übertölpeln lassen will.

Savonlinna hat geschrieben:Die natürlichste Frage von der Welt für einen Philosophen aber ist: Was ist das Ding, bevor ich es sprachlich benenne?
Genau - und das scheint ein dickes Brett auch hier im Forum zu sein.

Savonlinna hat geschrieben:Ich müsste also auch mein "Denken", die ratio also, auf Null herabschrauben, damit ich erfassen kann, was "Teich" ist, bevor die ratio es zu einem Sprachding gemacht hat.
Genau richtig erkannt. - Genau das ist meines Erachtens der richtige Ansatz, um nicht Opfer von Sprache zu werden, sondern Herr der Sprache zu sein.

Savonlinna hat geschrieben:Kann ich das als Mensch überhaupt?
Zumindest wird es versucht - gerade richtig gute Schriftsteller tun das ständig, indem sie Neologismen erfinden, um etwas auszudrücken, was bisher sprachlich "so" noch nicht erfasst ist. - Goethe und Th. Mann werden diesbezüglich als grandiose Bereicherer der deutschen Sprache gefeiert.

Nimm mal den Schluss von Faust II (ohne wertende Diskussion der konkreten Aussage):"Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan". - Das Wort "hinan" gab es damals nicht - und hat sich auch nicht danach durchgesetzt (in anderen Fällen geht ein solcher Neologismus in Volkssprache über - bspw. "googeln").

Warum macht das Goethe so? - Er will sagen, dass das "Ewig-Weibliche" (was auch immer das ist) eine ungeheure Macht hat. - Wohin? Nach unten? - Nein, das will Goethe nicht sagen. -- Nach oben? -Nein, auch nicht. --- Er scheint hier keine Wertung haben zu wollen im Sinne von :thumbup: oder :thumbdown: - Aber er will trotzdem im Ewig-Weiblichen DIE Triebkraft des Menschen sehen - also erfindet er "hinan", weil das nach "zwischen hinauf und hinab" klingt und in sich dynamische Power vermittelt. - Mit anderen Worten in Anlehnung an Deine Formulierung, aber auch meiner Wertung:

Goethe (stellvertretend für den Menschen) kann einen (ich nenne es) "geistigen" Inhalt unkontaminiert von sprachlicher Konnotation "auf Null heraubschrauben", um den Inhalt des zu Sagenden zu erfassen, um es dann "zu einem Sprachding" zu machen. - Meines Erachtens ist dies der einzige Weg schlechthin, um profund philosophisch zu sprechen. - Aber mit dieser Auffassung scheine ich nicht gerade mehrheitsfähig zu sein. :lol:

Savonlinna hat geschrieben:Gerade durch Descartes' "cogito, ergo sum" hatte ich begriffen - das ist rund vierzig Jahre her - , dass in dem Fall alles davon abhängt, ob es gelingen kann, die zur Gewöhnung gewordene Sprache wieder mir ungewohnt zu machen und damit auch das "in Sprache Denken" wieder ungewohnt zu machen.
Exakt - insofern ist nicht nur Kant, sondern auch Descartes ein "Alles-Zermalmer" (so hat Moses Mendellsohn Kant genannt). - Gut so.

Savonlinna hat geschrieben:Erinnert man sich aber wieder daran, dass diese Wörter nur dazu da sind, Sachen zu unterscheiden, löst sich einem dieser "Film", der aus der Sprache besteht, von dem ab, was hinter der Sprache sein könnte.
Ja - bravo. - Sprache ist komparativ. - Das ist der Grund, warum ich so gerne die Buber-Übersetzung des AT lese, weil mir mit Buber erstmals klar geworden ist, dass man Sprache auch nicht-komparativ verwenden kann. - Buber übersetzt geradezu stoisch ignorant, was Konnotationen angeht (dies ist als Kompliment gemeint).

Savonlinna hat geschrieben:Sprache hat nie den Anspruch gehabt, irgend eine "Wirklichkeit" zu beschreiben.
Naja - die praktische Lebenswirklichkeit schon.

Savonlinna hat geschrieben:Aber was jenseits der Bezeichnung ist, weiß ich nicht, obwohl ich jeden Tag darin lebe
"Wissen" kann man das nicht, aber man kann Interesse daran haben und versuchen, sich diesem "Jenseits" möglichst authentisch anzunähern - auch mit Sprache.

Savonlinna hat geschrieben:Also wäre die Benennung "Gott" ein Versuch, dem Sprachlosen zu entkommen.
Eigentlich ist das nahe dran an dem, was Jahwe sagt mit (sinngemäß): "Macht Euch keinen Kopf, was Jahwe IST - das schafft Ihr eh nicht. - Eure Spielwiese sind meine Offenbarungen - das ist die Ebene, die Euch gemäß ist".

Nur darf nicht rauskommen (das geht NICHT an Dich), dass faktische Nicht-Benennbarkeit/Sprachlosigkeit in Bezug auf "Gott" irgendeine Aussage über "Gott" selbst wäre. - Verknüpft mit Deinem obigen Gedanken: Wenn man sein Denken auf Null ent-spracht, um aus einer daraus folgenden Erkenntnis wieder ein "Sprachding" zu machen, kann es sein, dass man insofern scheitert, dass es sprach-dinglich nicht authentisch umsetzbar ist. - Auch das ist Erkenntnis.

Wenn diese Erkenntnis ("Realität kann für uns unbenennbar sein") als Setzung jeglicher weiterer Disziplin (Alltag, Naturwissenschaft, Philosophie, etc.) unverrückbar in allen Köpfen wäre, würde dies zu einer De-Dogmatisierung einzelner Erkenntnis-Systeme (Alltag, Naturwissenschaft, Philosophie, etc.) führen - sie also relativieren. - Aber nicht, weil "alles relativ ist", sondern weil unsere Möglichkeiten relativ sind - also das Subjekt ist relativ, was über das Objekt überhaupt nichts aussagt.

Savonlinna hat geschrieben:Mit "wahrnehmen" meine ich: das, was ständig wirkt, also ständig jenseits der Sprache vorhanden ist, bewusster zu bekommen.
Genau so ist es meines Erachtens gemeint - dass man im Wissen seiner Relativität als Subjekt versucht, trotzdem weiter zu kommen - im wissen, dass das Ziel einer absoluten Objektivität nicht erreichbar ist.

Genau das lese ich bei Descartes, Hegel und Heidegger heraus (um Diskussionen zu vermeiden, unterstelle ich damit nicht, dass die Genannten es genauso gesehen haben, als sie es schrieben) - und wenn der von Thaddäus freundlicheweise eingeführte Putnam schreibt, dass das geistige Fähigkeiten "die Gehirnakivitäten <überlagern> und ... nicht durch Reduktion erklärt werden <können>", scheint es - defensiv gesagt - nicht in Widerspruch dazu zu stehen.

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