Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Säkularismus
Geistliches und Weltliches verbinden
SilverBullet
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#1941 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von SilverBullet » Do 5. Nov 2015, 16:56

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Wie verhältst du dich, wenn jemand vor dir steht und mit der „Gewissheit des Hineinfühlens“ von seinem „geistigen Auftrag“ berichtet, der dir ganz gar nicht gefällt?
Der geistige Bereich ist höchst heterogen besetzt - hier kann der größte Mist verzapft werden, der für den Außenstehenden von Wahrheit nicht unterscheidbar ist.
Ja, es könnte sich tatsächlich um den „grössten Mist“ (Zitat!) handeln.
Die Frage war aber, wie du reagierst, um diesen Status „aufzudecken“?

closs hat geschrieben:Kippt man Deine innerweltlich gemeinte Aussage ins Vertikale, sind wir beim geistigen Denken.
Nun, das „Kippen“ wäre dann aber das Problem, denn das „Kippen“ ist nicht notwendig.

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Nachdem einem „Betroffen“ zuerst davon erzählt wurde, übt er sich in Autosuggestion
Du scheinst ein Freudianer zu sein: "Einer hat mal was gesagt, und das hat sich halt rumgesprochen". - Ich halte es eher wie Jung: "Es gibt in uns etwas, was uns von sich aus zum Wahren zieht - egal, wie gut dies im Einzelfall gelingt". - Zwei ganz unterschiedliche Auffassungen.
Dazu muss man kein Freudianer sein – das einfache „Aufmachen der Augen“ genügt.
Warum gibt es in der Schule Religionsunterricht?
Warum gibt es religiöse Kindergärten?

Vermutlich nicht, um darauf zu warten, dass die kleinen Schlümpfe „alleine zum Wahren hingezogen“ werden…

closs hat geschrieben:Hör Dir mal Halmans eingebrachten Vortrag von Descartes an. - Eigentlich sagt er nur besser, was ich seit 200 Seiten zu sagen versuche
OK, ich habe es mir angehört:

Sein „Geist“ ist von einem „alles vermögendem Gott“ geprägt, der ihn so, wie er ist geschaffen haben soll. Was dieser "Gott" sein soll sagt er natürlich nicht - schade.
Insgesamt wurde dies Descartes offensichtlich vor seinem „Denken“ erzählt, somit ist er kein Kandidat für das „alleine Hingezogen werden“ mehr.

Seine zentrale Voraussetzung ist, dass „es sich um ihn dreht“, dass er im Mittelpunkt steht und dass es, um ihn herum, zu einer Art „Konstruktion“ kommt.
Sein Ausgangspunkt ist: „Ich bin das absolute Zentrum, dessen, was wichtig ist – Mr. Bullseye“

Als Folge möchte er sich von allen Wahrnehmungsinhalten trennen.
Er macht somit den Denkfehler, dass er sich von allen Dingen, die er wahrnimmt, unabhängig macht.

Beweise oder Hinweise gibt es dafür keine. Diesen gesamten Anfangsvorgang begründet er nicht. Zwar redet er ein wenig über die Ähnlichkeit zwischen Traum- und Wacherlebnissen, aber der Schritt, dass er beides gleichermassen als unbedeutend ablehnt, kann damit nicht nachvollzogen werden.

Er vergisst die Möglichkeit, dass er durch eines der Objekte, die er wahrnimmt, zustande kommt.
Er vergisst die Möglichkeit, dass er selbst nicht zu dem, was er als „existierende Objekte“ versteht, gehört, sondern nur durch die Aktivität in einem dieser Objekte, als virtueller Verstehzusammenhang, stattfindet.
Er vergisst die Möglichkeit, dass „seine Sicht“ auf die Welt und „sich selbst“, gar keine „echte Sicht“ ist.

Er vergisst die Möglichkeit, dass er nicht im „Mittelpunkt der Welt“ steht.
(Demut?)

Seine Schlussfolgerung, ein „wahres Ding“ zu sein, ist nicht nachvollziehbar.
Seine Schlussfolgerung, „zu sein“ und alles Körperliche gehöre zu den Träumen, ist nicht nachvollziehbar.
Seine Schlussfolgerung, dass das Körperliche zwar deutlicher wahrnehmbar ist, aber dennoch eine Illusion sein soll, ist nicht nachvollziehbar.

Um die Minute 23 redet er irgendetwas von „ich will ja klüger sein als die Menge“ – na ja, ich drücke mal die Daumen, dass es ihm später noch irgendwann gelungen ist.

Und du denkst, dass er sogar noch besser erklärt wie es sich verhält, als du in den letzten 200 Seiten?
OK…

closs
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#1942 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von closs » Do 5. Nov 2015, 19:10

JackSparrow hat geschrieben:Das Wort "Geist" kann für Intellekt, Verstand, Persönlichkeit, Bewusstsein, eine Idee ("Geist des Kommunismus"), einen Ethanol-Gehalt oder auch für gasförmige Lebewesen verwendet werden.
Und für Bettlaken, die "Huhu" machen.

Das kann man so sehen - es sei denn, man beansprucht weltanschaulich zu reden. Und dann sollte man das philosophische Verständnis/die verschiedenen Varianten davon der letzten 2000 Jahre schon berücksichtigen.

JackSparrow hat geschrieben:Auch gilt aus naturwissenschaftlicher Sicht der Sehnerv selbst als Teil des Gehirns.
Und der Schmerznerv im großen Zeh auch? - Irgendwann ist der ganze Körper ein Teil des Gehirns.

Stell Dich nicht so an: Du weisst ganz genau, dass die Aussage lautet: Selbst bei intaktem Auge sieht der Mensch nichts, wenn das Gehirn die Signale nicht verarbeitet.

Münek hat geschrieben: Es wäre eine Setzung, wenn Du behaupten würdest, Materie existiere NICHT.
Das auch - alles, was wir nicht falsifizieren können, ist Setzung.

Warum das, was wir als Materie wahrnehmen, nicht notwendigerweise Materie sein muss, kannst Du dank Halman bei Descartes nachhören (er macht's besser als ich - da kann ich mich jetzt zurücklehnen).

Savonlinna hat geschrieben:... zumal closs "das" Christentum falsch wiedergegeben hat.
Mir ist keine theologische Richtung innerhalb des Christentums bekannt, die Materie als Ursprung des Geistes ("Gott ist Geist") versteht.

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#1943 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Pluto » Do 5. Nov 2015, 19:29

closs hat geschrieben:Und dann sollte man das philosophische Verständnis/die verschiedenen Varianten davon der letzten 2000 Jahre schon berücksichtigen.
Sollte man das wirklich?
Ist nicht Vieles von dem was die Menschen in den letzten 3000 Jahren gesagt haben, durch unser heutiges Wissen überholt.
Was nicht bedeutet, dass man die alten Werke auf den Müll kippen sollte, denn sie bleiben Zeugen ihrer Zeit, geschichtlich sehr relevant, wenn wir z. Bsp. wissen wollen wie es so und nicht anders gekommen ist. Nur sollte man die alten Meister im Kontext ihrer Zeit lesen und sie und ihre Thesen nicht in die Gegenwart hinein projizieren wollen. Mit wenigen Ausnahmen sind sie einfach nicht mehr aktuell.
Wer sich an den "alten Zöpfen" der Vergangenheit klammert, ist wird von der Gegenwart überrollt.
Ich erinnere da an Gorbatschow: Wer zu spät kommt...


closs hat geschrieben:Stell Dich nicht so an: Du weisst ganz genau, dass die Aussage lautet: Selbst bei intaktem Auge sieht der Mensch nichts, wenn das Gehirn die Signale nicht verarbeitet.
Interessanterweise stimmt deine Aussage nicht. Schon mal was von blindem Sehen gehört?

closs hat geschrieben:Warum das, was wir als Materie wahrnehmen, nicht notwendigerweise Materie sein muss, kannst Du dank Halman bei Descartes nachhören (er macht's besser als ich - da kann ich mich jetzt zurücklehnen).
Mein lieber closs.... Materie einfach als Setzung abzutun halte ich für eine absurde solipsistische Vorstellung. Wenn Materie nicht existieren würde, hätten wir unglaubliche Mühe uns im Alltag zurecht zu finden.
Daraus schließe ich, dass Materie existiert... Der Stuhl auf dem ich sitze, das Brot was ich esse... all das ist Realität. Wenn es diese geistlose Materie nicht gäbe, so gäbe es uns nicht als materielle Wesen — auch nicht im Geiste.

closs hat geschrieben:Mir ist keine theologische Richtung innerhalb des Christentums bekannt, die Materie als Ursprung des Geistes ("Gott ist Geist") versteht.
Mag sein... Aber mir ist keine theologische Richtung bekannt, die Materie als eine Setzung des Geistes sieht.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#1944 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von closs » Do 5. Nov 2015, 19:36

SilverBullet hat geschrieben:Ja, es könnte sich tatsächlich um den „grössten Mist“ (Zitat!) handeln.
Ja - ich bekräftige das sogar: Wenn Du - nur ein Beispiel - das Tea-Party-Christentum in den USA anguckst, kannst Du eine komplette Entstellung des christlichen Gedankens unter dem Etikett "Christentum" feststellen.

SilverBullet hat geschrieben:denn das „Kippen“ ist nicht notwendig
Für die "materielle Notdurft" (wie dies einer unserer Profs immer genannt hat) reicht das Horizontale auch. - Mal anders rum gefragt: Warum interessiert Dich (offensichtlich) geistiges Terrain, wenn Du gleichzeitig ablehnst, es zu betreten?

SilverBullet hat geschrieben:Dazu muss man kein Freudianer sein – das einfache „Aufmachen der Augen“ genügt.
Zu flach. - Du übersiehst, dass der Mensch Sprache und Muster braucht, mit denen er Erkenntnis aufbauen kann - und das ist in der einen Gegend das Christentum und woanders der Buddhismus, etc. - Und DANN kommt Dein Einwand zurecht, dass damit auch Missbrauch getrieben werden kann.

Umgekehrt wird es keiner schaffen, die Weisheiten und Erkenntnisse von meinetwegen 2000 Jahren im Schnelldurchlauf eines einzigen, nämlich des eigenen, Lebens aufzubauen. - Persönlich habe ich oft erlebt, dass - egal ob in der Bibel oder bei Platon oder bei Augustinus oder bei Shakespeare oder bei Goethe oder bei Th. Mann - Weisheiten auftauchen, die für alle Zeiten gelten und einen als Leser mit einem Schlag in eine neue Erkenntnisstufe katapultieren - oder halt nicht. - Allein schafft man das nicht.

SilverBullet hat geschrieben:Er vergisst die Möglichkeit, dass er nicht im „Mittelpunkt der Welt“ steht.
Er sieht nicht sich selbst im Mittelpunkt, sondern erkennt, dass er nur das Ich hat, etwas zu erkennen - das ist etwas ganz anderes. - Er erkennt, dass das, was DU in den Mittelpunkt stellst, nichts anderes ist, als die eigene Wahrnehmung. - Und weil er das weiss, relativiert er seine Wahrnehmung - und zwar prinzipiell. - Er ist also viel weiter weg vom Sich-in-den-Mittelpunkt-Stellen als Du. - Aber das scheint echt schwer vermittelbar zu sein.

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#1945 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von closs » Do 5. Nov 2015, 19:53

Pluto hat geschrieben:Ist nicht Vieles von dem was die Menschen in den letzten 3000 Jahren gesagt haben, durch unser heutiges Wissen überholt.
NAturwissenschaftlich ganz sicher. - In technischen und naturwissenschaftlichen Dingen ist so ziemlich alles überholt, was man in der Vergangenheit geglaubt hat - darüber soll es (nach wie vor) keinen Zweifel geben.

Pluto hat geschrieben:Nur sollte man die alten Meister im Kontext ihrer Zeit lesen und sie und ihre Thesen nicht in die Gegenwart hinein projizieren wollen. Mit wenigen Ausnahmen sind sie einfach nicht mehr aktuell.
Philosophisch/geistig halt schon - da sehe ich eher eine reziproke Entwicklung.

Aus meiner Sicht waren "Hiob" und Descartes auf ihren Gebieten weiter als die heutige "Geistes-Wissenschaft"/Philosophie - einfach weil sich die Schwerpunkte geändert haben. - Man versteht die beiden (und andere) nicht mehr - aber nicht, weil man weiter ist, sondern weil deren Aussagen nicht in die heute dominierenden Weltanschauungen passen.

Pluto hat geschrieben:Interessanterweise stimmt deine Aussage nicht. Schon mal was von blindem Sehen gehört?
Moment: Da steht: "Dabei bleiben die mehr als zehn verschiedenen Nervenbahnen, über die die Augen normalerweise ihre Signale an die Sehrinde weiterleiten, intakt. Daher erfolgt bei Rindenblindheit eine Übertragung von Sehreizen ins Gehirn, jedoch werden diese nicht in das Bewusstsein überführt" - nach meinem Verständnis heisst das nichts anderes, als dass das Auge intakt sein kann wie es will, der Mensch aber trotzdem nichts sieht, wenn es "zentral" (Gehirn) nicht ermöglicht wird. - Exakt meine Aussage.

Pluto hat geschrieben:Wenn Materie nicht existieren würde, hätten wir unglaubliche Mühe uns im Alltag zurecht zu finden.
Darauf würde Descartes antworten, dass wir nicht ausschließen können, dass die materielle Welt eine Wahrnehmungs-Täuschung ist - weshalb wir GLAUBEN müssen, dass es keine Täuschung ist.

Das tut Descartes ja auch - aber er weist nach, dass es eine Glaubens- und keine Wissens-Sache ist. - Notabene: In einer vorgestellten Materie-Welt, die Täuschung ist, kommt man genauso gut oder schlecht zurecht, wie in einer, die keine Täuschung ist. - Das ist nicht das Problem.

Es geht Descartes NICHT darum, die Natur als Täuschung zu entlarven - er sagt lediglich, dass - in heutigem Jargon - nicht falsifizierbar ist, ob die Natur Täuschung ist oder nicht. - Damit hat er auch heute noch recht, wenn man sich bequemt, seine Beweisführung nachzuvollziehen.

Pluto hat geschrieben:Aber mir ist keine theologische Richtung bekannt, die Materie als reine Setzung des Geistes sieht.
Richtig - man sagt dann: Materie wurde aus Gott geschaffen ("Gott ist Geist"). - Und als Geschaffenes - so der christliche Glaube - ist Materie KEINE Täuschung, sondern "echt".

Insofern geht das Christentum NICHT den Weg von Descartes, weil das Christentum von vorneherein von der Echtheit der Materie ausgeht. - Descartes - in seiner Eigenschaft als Aufklärer! - nimmt diesen Glauben unter die Lupe und stellt fest, dass man aus erkenntnis-theoretischen (also nicht religiösen) Gründen nicht um diesen Glauben (egal, ob er christlich oder sonstwie begründet ist) herumkommt - eben weil nur das "Cogito" die einzig sichere Wahrnehmung ist - und somit alles andere NICHT sicher ist (siehe Vortrag).

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#1946 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von SilverBullet » Do 5. Nov 2015, 20:16

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Ja, es könnte sich tatsächlich um den „grössten Mist“ (Zitat!) handeln.
Ja - ich bekräftige das sogar: Wenn Du - nur ein Beispiel - das Tea-Party-Christentum in den USA anguckst, kannst Du eine komplette Entstellung des christlichen Gedankens unter dem Etikett "Christentum" feststellen.
Das sehe ich jetzt als „dein Urteil“ über „deine Kollegen“ an – ich halte mich, so gut es geht, raus.

Was mich aber doch interessiert, ist, wie du auf Ansichten und Einstellungen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit deiner Haltung haben, aber „grösster Mist“ sein sollen, reagierst.
Wie kannst du auf diese Einstellungen mit deinen „Erkenntnissen“ korrigierend einwirken?
Welches „Substanzwerkzeug“ hast du für deine „Geist-Kollegen“?

Spiel es man erzählend durch, wie du deren „Wahrnehmungsillusion“ in die „richtige Richtung“ lenken würdest.

closs hat geschrieben:Für die "materielle Notdurft" (wie dies einer unserer Profs immer genannt hat) reicht das Horizontale auch
Ja, da erkenne ich wieder, dass die Nasenspitze den höchsten Punkt des Körpers markiert.
(Demut?)

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Dazu muss man kein Freudianer sein – das einfache „Aufmachen der Augen“ genügt.
Zu flach. - Du übersiehst, dass der Mensch Sprache und Muster braucht, mit denen er Erkenntnis aufbauen kann
Hast nicht du gerade etwas von „alleine hingezogen werden“ als Gegenargument zu den notwendigen Anfangssuggestions-Erzählungen gebracht?

Braucht man für das „alleine hingezogen werden“ die „freundliche Ideeneingabe“ eines „Experten“?

closs hat geschrieben:Umgekehrt wird es keiner schaffen, die Weisheiten und Erkenntnisse von meinetwegen 2000 Jahren im Schnelldurchlauf eines einzigen, nämlich des eigenen, Lebens aufzubauen.
Moment.
Ist dein „Hineinfühlen“ von derart schlechter Qualität, dass du „bronzezeitliche Erzählungen“ als Hintergrundliteratur verwenden musst, um auch nur ungefähr die Richtung erahnen zu können, wohin die Reise gehen soll?

Ich betrachte diesen Punkt als eine Art von „coming-out“ – sehr interessant.
Es geht also nicht ohne diese „lustigen Texte“.

closs hat geschrieben:Er sieht nicht sich selbst im Mittelpunkt, sondern erkennt, dass er nur das Ich hat, etwas zu erkennen - das ist etwas ganz anderes. - Er erkennt, dass das, was DU in den Mittelpunkt stellst, nichts anderes ist, als die eigene Wahrnehmung. - Und weil er das weiss, relativiert er seine Wahrnehmung - und zwar prinzipiell. - Er ist also viel weiter weg vom Sich-in-den-Mittelpunkt-Stellen als Du. - Aber das scheint echt schwer vermittelbar zu sein.
Na ja, hör es dir an (ab Minute 14:00): „ICH, ICH, ICH und noch mal ICH“

Das, was in meiner Vermutung eine wichtige Rolle spielt, steht auf keinen Fall im „Mittelpunkt der Welt“ und dieses, für Descartes, so wichtige „ICH“, ist darin nur ein Bedeutungszusammenhang in einer „Verstehanimation“.
Das Bewusstsein ist nur ein Werkzeug für die Wahrnehmungskoordination von Lebewesen, aber das Universum sollte doch, für jeden klar ersichtlich, grössere Dimensionen umfassen.

Wie du siehst, kann in meiner Vermutung auf das Wort „ICH“ vollkommen verzichtet werden und trotzdem wird über eine Lösungsmöglichkeit nachgedacht
(ohne Suggestionserzählungen).

Descartes schafft das Universum ab und stellt sich in den Mittelpunkt.
Ein „Gott“ (was auch immer das sein soll) kümmert sich nur um ihn und erzeugt nur für ihn eine illusionäre Welt.
Hier erklärt sich der Philosoph zum VIP.

Dieser Unterschied ist so offensichtlich, dass du tatsächlich kaum etwas anderes vermitteln können wirst – viel Glück…

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#1947 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Pluto » Do 5. Nov 2015, 20:32

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Ist nicht Vieles von dem was die Menschen in den letzten 3000 Jahren gesagt haben, durch unser heutiges Wissen überholt.
NAturwissenschaftlich ganz sicher.
Es geht um allgemeine Erkenntnisse.
Warum bringst du hier unnötigerweise die Naturwissenschaft ins Spiel?

closs hat geschrieben:Philosophisch/geistig halt schon - da sehe ich eher eine reziproke Entwicklung.
Nein auch philosophisch sind die Erkenntnisse teilweise überholt. Ich erinnere nur an die Diskussion über die Dualität.

closs hat geschrieben:Aus meiner Sicht waren "Hiob" und Descartes auf ihren Gebieten weiter als die heutige "Geistes-Wissenschaft"/Philosophie - einfach weil sich die Schwerpunkte geändert haben. - Man versteht die beiden (und andere) nicht mehr - aber nicht, weil man weiter ist, sondern weil deren Aussagen nicht in die heute dominierenden Weltanschauungen passen.
Wer ist "man"?
Ich denke alle namhaften Philosophen unserer Zeit haben die alten Meister kennen und schätzen gelernt. Darum geht es nicht. Es geht darum, dass daraus heute eine neue Philosophie des Geistes entstanden ist, die auf den alten Erkenntnissen aufbaut, und diese in keiner Weise schmälern.

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Interessanterweise stimmt deine Aussage nicht. Schon mal was von blindem Sehen gehört?
Moment: Da steht: "Dabei bleiben die mehr als zehn verschiedenen Nervenbahnen, über die die Augen normalerweise ihre Signale an die Sehrinde weiterleiten, intakt. Daher erfolgt bei Rindenblindheit eine Übertragung von Sehreizen ins Gehirn, jedoch werden diese nicht in das Bewusstsein überführt" - nach meinem Verständnis heisst das nichts anderes, als dass das Auge intakt sein kann wie es will, der Mensch aber trotzdem nichts sieht, wenn es "zentral" (Gehirn) nicht ermöglicht wird. - Exakt meine Aussage.
Nein. Deine Aussage war: "Selbst bei intaktem Auge sieht der Mensch nichts, wenn das Gehirn die Signale nicht verarbeitet."
Es geht um die Physiologie des Sehens. Der Punkt ist, dass der visuelle Cortex nicht der einzige Ort ist, wo visuelle Reize empfangen und verarbeitet werden.

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Wenn Materie nicht existieren würde, hätten wir unglaubliche Mühe uns im Alltag zurecht zu finden.
Darauf würde Descartes antworten, dass wir nicht ausschließen können, dass die materielle Welt eine Wahrnehmungs-Täuschung ist - weshalb wir GLAUBEN müssen, dass es keine Täuschung ist.
Auch hier ist eine Nachbesserung von Descartes' Sicht dringend angebracht. Wenn wir materiell nicht existieren würden, könnten wir nichts erkennen.

closs hat geschrieben:Es geht Descartes NICHT darum, die Natur als Täuschung zu entlarven - er sagt lediglich, dass - in heutigem Jargon - nicht falsifizierbar ist, ob die Natur Täuschung ist oder nicht.
Das ist ein "totes Pferd". Dass Materie im Alltag existiert, ist Fakt.

closs hat geschrieben:Insofern geht das Christentum NICHT den Weg von Descartes, weil das Christentum von vorneherein von der Echtheit der Materie ausgeht. - Descartes - in seiner Eigenschaft als Aufklärer! - nimmt diesen Glauben unter die Lupe und stellt fest, dass man aus erkenntnis-theoretischen (also nicht religiösen) Gründen nicht um diesen Glauben (egal, ob er christlich oder sonstwie begründet ist) herumkommt - eben weil nur das "Cogito" die einzig sichere Wahrnehmung ist - und somit alles andere NICHT sicher ist (siehe Vortrag).
Ich kenne den Vortrag, nur denke ich hier hat Descartes geirrt, und unsere heutige Auffassung der Materie die richtige ist.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#1948 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Savonlinna » Do 5. Nov 2015, 20:42

Pluto hat geschrieben:Mein lieber closs.... Materie einfach als Setzung abzutun halte ich für eine absurde solipsistische Vorstellung. Wenn Materie nicht existieren würde, hätten wir unglaubliche Mühe uns im Alltag zurecht zu finden.
Daraus schließe ich, dass Materie existiert... Der Stuhl auf dem ich sitze, das Brot was ich esse... all das ist Realität. Wenn es diese geistlose Materie nicht gäbe, so gäbe es uns nicht als materielle Wesen — auch nicht im Geiste.
Aber eben auch im Geiste.
Essen ist auch ein geistiger Vorgang. Wir arbeiten auch mit Vorstellungen beim Essen. Wir richten die Dinge hübsch an, wir machen daraus ein gesellschaftliches Ereignis, und wir essen im Bewusstsein zu essen, nehmen Teil an dem Essen der ganzen Menschheit.
Darum wiederum kann man das "Abendmahl" als Bild für unsere täglichen Mahlzeiten nehmen. Eben weil wir nie nur "fressen", um unseren Körper zu ernähren, sondern auch, um uns für den Dienst an der Menschheit zu erhalten.

Pluto hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Mir ist keine theologische Richtung innerhalb des Christentums bekannt, die Materie als Ursprung des Geistes ("Gott ist Geist") versteht.
Mag sein... Aber mir ist keine theologische Richtung bekannt, die Materie als eine Setzung des Geistes sieht.
Na ja, wenn man darauf besteht, dass Materie, aber kein Geist existiert, dann ist Materie natürlich eine Setzung.
Umgekehrt genauso.
Beide Setzungen würden unser Menschsein verfehlen.

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#1949 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von closs » Do 5. Nov 2015, 20:51

SilverBullet hat geschrieben:Spiel es man erzählend durch, wie du deren „Wahrnehmungsillusion“ in die „richtige Richtung“ lenken würdest.
Um es vorweg zu sagen: Es würde nicht gelingen. - Denn die Haltung der von mir Genannten (Chiffre "Tea-Party") ist rein alttestamentarisch in eigener Couleur - das NT ist dort anscheinend geistig noch gar nicht angekommen - selbst wenn man von Jesus als "My Lord" spricht.

Es ist genauso schwierig wie bei Materialisten wie Du - die Weltanschauungen sind eingebrannt (das ist bei mir natürlich genauso - deshalb ist es ja so wichtig, wie authentisch die eigene Weltanschauung zu dem ist, was "ist" - aber das werden wir zu Lebzeiten nicht rausfinden).

SilverBullet hat geschrieben:Hast nicht du gerade etwas von „alleine hingezogen werden“ als Gegenargument zu den notwendigen Anfangssuggestions-Erzählungen gebracht?
Du hast es so dargestellt, als sei "Suggestion" der entscheidende Begriff - das kann passieren, sollte aber nicht passieren. - Aber gebraucht wird eine Unterlage schon - oder als Frage formuliert: Wie will man "Alles prüfen und das Gute behalten", wenn man das zu Prüfende von vorneherein als kontaminierte Suggestion abkanzelt?

Das "von alleine hingezogen werden" gibt es woanders: Bei der nordkoreanischen Mutter, die nie etwas von Geist und Religionen gehört hat, aber ihre Kinder mit Leid und Freude ins Leben hinein-erzieht. - Bei Menschen, die sich im kleinen Kreis erfüllen, geht das - aber nicht auf Foren oder in Disziplinen, die ÜBER etwas nachdenken wollen.

SilverBullet hat geschrieben:Ist dein „Hineinfühlen“ von derart schlechter Qualität, dass du „bronzezeitliche Erzählungen“ als Hintergrundliteratur verwenden musst, um auch nur ungefähr die Richtung erahnen zu können, wohin die Reise gehen soll?
Th. Mann lebte knapp NACH der Bronzezeit. - Aber es ist schon interessant und WICHTIG, das Gleiche und Unterschiedliche über Jahrtausende geschrieben zu sehen. - Und: Es gibt viel Gleiches.

Nimm das Hohe Lied - es ist geistig auf demselben Niveau wie Romeo und Julia. - Nimm Augustinus - er diskutiert exakt dasselbe wie Descartes und kommt zum selben Ergebnis. - Nimm die Mutter, die ihr Kind bei einem Unfall verliert - es ist dieselbe Tiefe wie bei Maria, die ebenfalls ihren Sohn verliert.

Und auch: Man kann erkennen, welche Erkenntnisse mit der Zeit zugenommen und welche abgenommen haben. - Aus dem Stand gibt es "nur" das eigene geistige Potenzial - der Rest ergibt sich aus den Zeiten und dem, was man diesen hinzufügen kann.

SilverBullet hat geschrieben:Das Bewusstsein ist nur ein Werkzeug für die Wahrnehmungskoordination von Lebewesen, aber das Universum sollte doch, für jeden klar ersichtlich, grössere Dimensionen umfassen.
Du steigst - üblich für Naturalisten/Materialisten - wieder einen Schritt zu spät ein - denn WENN man Descartes' Diskussion übergeht und wie Popper (der das absichtlich und nicht aus Versehen gemacht hat) in der Welt einsteigt, wie sie und erscheint, hast Du natürlich recht: Man untersucht methodisch, was man vorfindet - egal ob es Täuschung ist oder nicht.

Descartes steigt früher ein: Er fragt erkenntnis-theoretisch, ob wir überhaupt unterscheiden können, ob das, was wir außer dem "Cogito" wahrnehmen, Täuschung ist oder nicht. - Und er weist nach, dass wir es NICHT können.

Das hat überhaupt noch nichts mit Naturwissenschaft und deren Methodik zu tun. - Diese setzt ein, NACHDEM dieser Nachweis von Descartes erfolgt ist. - Das mindert auch nicht die Leistungen und Bedeutung der Naturwissenschaft - sollte aber jedem klar machen, der anfängt, über Naturwissenschaft hinauszudenken, einen SChritt VOR der Naturwissenschaft einzusteigen. - Sonst ist es gewollt und nicht gekonnt.

SilverBullet hat geschrieben:Descartes schafft das Universum ab und stellt sich in den Mittelpunkt.
Höre Dir einfach das Video nochmal an - Descartes macht das natürlich NICHT. - Er glaubt an das Universum (und somit NICHT an eine Täuschung) und hat doch gerade deshalb (wenn auch möglicherweise stümperhaft) naturwissenschaftlich gearbeitet. - Das hätte er nicht getan, wenn er nicht an die Existenz der Natur geglaubt hätte.

SilverBullet hat geschrieben:Ein „Gott“ (was auch immer das sein soll) kümmert sich nur um ihn und erzeugt nur für ihn eine illusionäre Welt.
Hast Du echt komplett falsch verstanden.

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#1950 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von closs » Do 5. Nov 2015, 21:29

Pluto hat geschrieben:Warum bringst du hier unnötigerweise die Naturwissenschaft ins Spiel?
Weil Du im Grunde von technischen/naturwissenschaftlichen Errungenschaften sprichst - weltanschauungs-bedingt.

Pluto hat geschrieben:Nein auch philosophisch sind die Erkenntnisse teilweise überholt.
Wie könnte Descartes' Nachweis zum Thema "Cogito" ("Sein") und "Res extensa" ("WAhrnehmung") überholt sein?

Pluto hat geschrieben:Ich erinnere nur an die Diskussion über die Dualität.
Da scheint etwas in der Rezeption schief gelaufen zu sein - ich kann es leider nicht nachweisen, weil ich Ryle nicht gut genug kenne - lassen wir mal Fachleute sprechen (A.Kirchner, Ryles Beitrag zu einer Theorie des Geistes):

Im Kapitel „Descartes Mythos“ versucht Ryle klarzustellen, warum die klassische Trennung von Geist und Körper und die prinzipielle Verborgenheit und Unergründbarkeit des Geistes keine hinreichende Erklärung bietet für die Phänomene des Denkens und Bewusstseins; von daher auch gar keine eigentliche Theorie sein kann, sondern gerade mal ein Mythos, eine Sammlung von Metaphern, in der vieles rätselhaft bleiben muss. In diesem Kapitel geht es überwiegend darum, die im allgemeinen Bewusstsein festgesetzte Körper-Geist-Trennung mit allen Mitteln der rhetorischen und argumentativen Kunst anzugreifen. ... 14Im gesamten Hauptwerk fällt auf, dass es weder eine Fußnote noch ein Literaturverzeichnis gibt, das explizit Quellen oder Verweise enthält.15 So bleibt auch vieles mehrdeutig, etwa ob die Bezeichnung „Descartes’ Mythos“ als rhetorischer Trick verwendet wird, um die „offizielle Lehre“ schillernd zu betiteln oder um direkt auf Descartes hinzuweisen,

Pluto hat geschrieben:Ich denke alle namhaften Philosophen unserer Zeit haben die alten Meister kennen und schätzen gelernt.
Aber wahrscheinlich nicht verstanden - Beispiel Metzinger:

Bspw. Metzinger hat mir bei seinem hier eingestellten Vortrag gezeigt, dass er wirklich die von ihm besprochenen christlichen Philosophen gelesen und intellektuell kapiert hat - also diesbezüglich ausdrücklich kein Vorwurf. - Aber: Er hat sie aus SEINEM Weltbild interpretiert und sie somit nicht verstanden/verstehen wollen/verstehen können.

Pluto hat geschrieben: "Selbst bei intaktem Auge sieht der Mensch nichts, wenn das Gehirn die Signale nicht verarbeitet."
Aber dieser Satz stimmt doch. - Drehen wir es mal um: Würde der Mensch mit intaktem Auge sehen, wenn das Gehirn diese Signale nicht verarbeiten würde?

Pluto hat geschrieben:Der Punkt ist, dass der visuelle Cortex nicht der einzige Ort ist, wo visuelle Reize empfangen und verarbeitet werden.
Und diese anderen Orte sind NICHT im Gehirn?

Pluto hat geschrieben:Wenn wir materiell nicht existieren würden, könnten wir nichts erkennen.
Pure Setzung Deinerseits. - Denn wenn der Mensch "nur" ein geistiges Wesen wäre (was ja Descartes nicht behauptet - aber WENN es so wäre), könnte der Mensch selbstverständlich etwas erkennen - warum denn NICHT?

Pluto hat geschrieben:Das ist ein "totes Pferd". Dass Materie im Alltag existiert, ist Fakt.
Das wird erkenntnis-theoretisch NIE ein totes Pferd sein. - Dass wir methodisch und in unserem Alltags-Verhalten einen Schritt später einsetzen, ist eine ganz andere Sache.

Pluto hat geschrieben:Ich kenne den Vortrag, nur denke ich hier hat Descartes geirrt, und unsere heutige Auffassung der Materie die richtige ist.
Falscher Ansatz: Die heutige Auffassung der Materie setzt einen Schritt später ein (warum, denkst Du, hat das Popper absichtlich so gemacht?). - Weder Descartes noch die heutige Auffassung sind falsch - sie repräsentieren nur unterschiedliche Einstiegs-Levels.

Für Naturwissenschaft ist Poppers Einstiegs-Ort vollkommen ausreichend - erkenntnis-theoretisch und/oder philosophisch nicht.

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