SilverBullet hat geschrieben:Thaddäus hat geschrieben:Eine Physik, die glaubt, die Welt und einfach alles letztlich physikalisch erklären zu wollen, scheitert…
Ich stimme zu.
Wahrnehmung kann sich durch immer neue Blickwinkel optimieren. Wenn aber alle möglichen Blickwinkel eingenommen wurden, dann gibt es keine weitere Optimierung. D.h. das Verstehen in der Wahrnehmung kommt letztlich nie an den eigentlichen „Existenz-Sachverhalt“ heran.
Die Zusammenhänge, die von der Wahrnehmung gefunden werden, können aber dennoch sehr praktisch sein und tadellos funktionieren.
Im Grunde tut sich in der Hermeneutik ein fundamentales Problem der Philosophie auf, welches man auch in der body-mind (Körper-Geist und Körper Seele)-Diskussion vorfindet. Welche Rolle spielt der
Geist? Was ist der
Geist überhaupt?
Die klassische Hermeneutik (Schleiermacher, Dilthey, Heidegger und Gadamer vor allem) betonen die Rolle des Geistes beim Akt des
Verstehens.
Wahrnehmungspsychologisch und kognitionspsychologisch kann man sich dem Verstehen durchaus nähern (in der Lern- und Kognitionspsychologie z.B. das berühmte
Aha-Erlebnis, bei dem man unvermittelt einen größeren Zusammenhang einsieht und damit versteht). Dennoch weiß man wahrnehmungs- und kogniotionspsychologisch nicht so recht, was in diesem Augenblick eigentlich genau geschieht.
Noch viel komplizierter ist es, z.B. zu verstehen, was die berühmte Gretchenfrage in Goethes Faust I eigentlich bedeutet (also Gretchens Frage an Faust, wie er es mit der Religion hält?).
SilverBullet hat geschrieben:Thaddäus hat geschrieben:…dass eine Interpretation z.B. des Faust oder der kantischen Kritik der reinen Vernunft oder der Aussage der Herr der Ringe-Trilogie ganz sicher keine Frage ist, die die Physik mit ihren Methoden beantworten kann.
Physik wohl eher nicht.
Wie sieht es mit Informatik aus?
In der Informatik gibt es den so genannten Turing Test, mit dem man - nach seinem Erfinder Alan Turing - herausfinden können soll, ob ein Computer oder Roboter, also eine künstliche Intelligenz, über tatsächliche Intelligenz und unter Umständen sogar über Bewusstsein/Selbstbewusstsein verfügt. Man unterhält sich mit zwei Gesprächspartnern, ohne diese face to face zu sehen. Kann man nach einem Gespräch
nicht angeben, welcher der beiden Gesprächspartner ein Mensch und welcher die künstliche Intelligenz ist, dann ist die beteiligte künstliche Intelligenz - nach Ansicht von Turing - tatsächlich
intelligent und damit auch zum Verstehen in der Lage.
ICH würde bei einem Turing Test meinen Gesprächspartnern Heinrich Bölls Kurzgeschichte (1949)
An der Brücke (Die ungezählte Geliebte) erzählen. Und ich würde ihnen die Frage stellen,
warum der Ich-Erzähler in dieser Geschichte seine Geliebte nicht zählen möchte. Erst, wenn mir meine beiden Gesprächspartner auf diese Frage jeweils eine Antwort geben, bei der ich nicht angeben könnte, wer der Mensch und wer die künstliche Intelligenz ist, würde ich davon sprechen wollen, dass die beteiligte künstliche Intelligenz, deren Antwort ich dann ebenfalls als
verständige Antwort auf diese Frage gelten lassen muss, über
wirkliche (menschliche) Intelligenz und (menschliches)
Verstehen verfügt. Der springende Punkt ist dabei natürlich, dass man, um diese Geschichte zu verstehen und die Frage beantworten zu können, existenziell verstanden haben muss, was es heißt, (einen Menschen) zu lieben (und was es heißt, die geliebte Person
als nur eine Zahl in eine Statistik mitzuzählen).
SilverBullet hat geschrieben:
Kannst den Vorgang in „Interpretation des Faust oder Kants oder des Herrn der Ringe“, der ja sehr komplex zu sein scheint, ein wenig besser beschreiben?
Die Frage dahinter ist, ob es zum Verstehen noch eines
Geistes bedarf oder ob Verstehen als rein neurophysiologisches und damit letztlich physikalischen Geschehen verstanden werden kann?
Einen vom körperlichen Geschehen, also von der Hirnaktivität, unabhängigen Geist anzunehmen, der letztlich Verstehen bewirkt, ist äußerst problematisch.
Wo sollte dieser als immateriell verstandene Geist denn herumfliegen und wie sollte er mit dem Körper/ dem Gehirn interagieren? Dieses Problem hatte schon Rene Descartes, der behauptete, der Geist des Menschen ist vom Körper völlig unabhängig (
res extensa(= die ausgedehnte, körperliche Sache) versus
res cogitans (die geistige, immaterielle Sache)).
Man hat dann plötzlich einen
ghost in the machine, also ein Gespenst in einem Körper.
Ein besonders starkes Gegenargument gegen diese Sicht eines körperunabhängigen
Geistes ist, dass es dann unerklärlich wird, warum die Evolution überhaupt ein Gehirn von solcher Komplexität hervorgebracht hat! Dazu gibt es keinen Grund, wenn ein körperunabhängiger Geist das Verstehen leistet.
Versteht man das Verstehen aber als eine rein neurophysiologische und physikalische Aktivität, hat man ebenfalls ein Problem: weil elektrochemische Aktivität des Hirns eben noch nicht selbstverständlich
Verstehen bedeutet. Man kann dann nur beschreiben, dass die Neuronen a bis m feuern und damit andere Neuronen n bis q dazu anregen, ebenfalls zu feuern, vielleicht sogar im Kreis herum. Aber das ist nicht
Verstehen.
Es ist empirisch belegt, dass man, wenn man etwas versteht oder sich überhaupt geistig betätigt, bestimmte Bereiche des Gehirns und seine Neuronen aktiv sind und feuern. Das
Verstehen muss man dann zu einem
Epiphänomen dieser Hirnaktivität erklären. Das heißt, die Aktivität des Hirns und seiner Neuronen bewirken ein Phänomen, welches
über die reine Hirn- und Neuronenaktivität
hinausgeht und noch etwas anderes bedeutet: nämlich
verstehen.
Ein Epiphänomen ist z.B., wenn ein Elektriker z.B. eine Leuchtschrift z.B. in einer ihm völlig fremden Sprache, z.B. in russischer Sprache mit kyrillischen Buchstaben über einem Supermarkt anbringt. Der Elektriker montiert nur Leuchtsoffröhren, die leuchten, wenn er den Strom anschaltet. Mehr versteht er nicht. Aber den Leuten, die Russisch sprechen, sagt das Schild:
Ikea - Ihr Möbelhaus. Es sind nur Leuchtstoffröhren. Aber in russischer Sprache bringt ihre spezielle Anordnung etwas ganz Bestimmtes hervor, nämlich eine immaterielle Botschaft, nämlich dass hier ein Ikea-Laden ist.
SilverBullet hat geschrieben:
Verstehe ich dich richtig: du denkst, die Neuronen machen da „etwas“, was man unbedingt benötigt, aber da muss noch etwas „anderes“ dazu kommen, damit es funktioniert?
Was machen die Neuronen?
Was soll „das Andere“ sein?
Wie sieht die Wechselwirkung aus?
Siehe meine letzte Antwort.
SilverBullet hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Tatsächlich muss sich die Philosophie wie alle Geisteswissenschaften heute gegen gewisse Übernahmeansprüche der Physik vor allem verteidigen, die durch manche Physiker/Naturwissenschaftler vorgetragen werden. Das ist aber recht leicht zu bewerkstelligen, weil die Naturwissenschaftler, die solche Forderungen aufstellen, sich sogleich in Widersprüche verwickeln, was ihnen oft aber nicht auffällt, weil sie schlechte Philosophen sind
Welche Widersprüche sind dies?
Es ist der Widerspruch, dass behauptet wird, die Physik erkläre die
gesamte Welt, aber mit rein physikalischen Mitteln nicht herausgefunden werden kann, was alles zu dieser gesamten Welt gehört.
Es ist eine
wahre Aussage über diese
Welt, dass Frodo Beutlin ein Hobbit ist.
Aber wo existiert Frodo Beutlin?
Offenbar nicht in der Bundesrepuplik Deutschland und auch nicht in Buenos Aires.
Die Physik kann nicht herausfinden, wo Frodo Beutlin (oder Harry Potter meinetwegen) existiert und was er eigentlich ist oder welche Aufgabe er zu erfüllen hat. Also kann die Physik nicht die gesamte Welt beschreiben. Aber die Literaturwissenschaft und die Filmwissenschaft können erklären, wo, wie und warum Frodo Beutlin oder Harry Potter existieren.
Letztlich ist es eine Frage der Ontologie: was bedeutet es zu sagen, etwas
existiert und in welchem Sinne existiert es?