Was ist Hermeneutik?

Philosophisches zum Nachdenken
Hemul
Beiträge: 19835
Registriert: So 21. Apr 2013, 11:57

#31 Re: Was ist Hermeneutik?

Beitrag von Hemul » Sa 5. Sep 2015, 17:24

Pluto hat geschrieben:
Hemul hat geschrieben:Ich werde dieses Forum für den Comedypreis 2015 vorschlagen. :Smiley popcorn:
Sollen wir dich im Gegnzug für die Goldene Himbeere vorschlagen?
Aber nur wenn Dir vorher Herr Parasienowski den blechernen Nano überreichen darf. :lol:
denn die Waffen, mit denen wir kämpfen, sind nicht fleischlicher Art, sondern starke Gotteswaffen zur Zerstörung von Bollwerken: wir zerstören mit ihnen klug ausgedachte Anschläge (2.Korinther 10:4)

Pluto
Administrator
Beiträge: 43975
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:56
Wohnort: Deutschland

#32 Re: Was ist Hermeneutik?

Beitrag von Pluto » So 6. Sep 2015, 10:54

Thema abgetrennt: Buch-Werbung
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

2Lena
Beiträge: 4723
Registriert: Mi 30. Okt 2013, 09:46

#33 Re: Was ist Hermeneutik?

Beitrag von 2Lena » So 6. Sep 2015, 19:01

Ich kämpfe überhaupt nicht um meinen Hermeneutik-Begriff. - Mir würde es reichen, wenn man begriffsfrei sagt: "Historische, auktoriale, textliche und rezeptionelle Analyse sind streng zu trennen von Schlussfolgerungen daraus". - Das klingt zwar nach Hausfrauen-Wissenschafts-Theorie, aber es blendet wenigstens nicht die Hauptsache aus - die Trennung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung/Ideologie.

Ist nicht gerade die "Wissenschaft" eine ANSCHAUUNG?
Die ist meiner Ansicht nach eine moderne Ideologie, die jeder zunichte macht, der etwas anders machen kann, als etwas in Büchern steht.

Benutzeravatar
Thaddäus
Beiträge: 1231
Registriert: Sa 14. Sep 2013, 18:47

#34 Re: Was ist Hermeneutik?

Beitrag von Thaddäus » So 1. Nov 2015, 18:28

2Lena hat geschrieben:
Ich kämpfe überhaupt nicht um meinen Hermeneutik-Begriff. - Mir würde es reichen, wenn man begriffsfrei sagt: "Historische, auktoriale, textliche und rezeptionelle Analyse sind streng zu trennen von Schlussfolgerungen daraus". - Das klingt zwar nach Hausfrauen-Wissenschafts-Theorie, aber es blendet wenigstens nicht die Hauptsache aus - die Trennung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung/Ideologie.
Ist nicht gerade die "Wissenschaft" eine ANSCHAUUNG?
Die ist meiner Ansicht nach eine moderne Ideologie, die jeder zunichte macht, der etwas anders machen kann, als etwas in Büchern steht.
Wollt ihr hier eigentlich den allgemeinen philosophischen Oberbegriff "Hermeneutik" besprechen oder die Historisch-kritische-Methode, die speziell in der klassischen Philologie und der Theologie zur Anwendung kommt? Hermeneutische Methoden gibt es nämlich viele. Die HKM ist nur eine davon. Ursprünglich ging es in diesem Thread ja um die Parusie(-verzögerung), wobei die HKM allerdings ausschließlich die biblischen Texte auf verschiedenen Ebenen (von der Textkritik bis zur Überlieferungsgeschichte) analysiert (während die Parusieverzögerung eher ein historisches Faktum darstellt und kein textliches).

Die Wissenschaft ist keine Anschauung. Sie ist eher die Anwendung bestimmter, disziplinbezogener Methoden (empirisch-experimentelle, mathematisch-statistische und geisteswissenschaftliche Plausibilitätsmethoden) zur Bestätigung oder Widerlegung von Hypothesen, Modellen und Theorien (auch von Interpretationen von Texten).

2Lena
Beiträge: 4723
Registriert: Mi 30. Okt 2013, 09:46

#35 Re: Was ist Hermeneutik?

Beitrag von 2Lena » Mo 2. Nov 2015, 08:29

Misch bitte nicht "sollte sein" mit "was ist vorhanden".

Benutzeravatar
Thaddäus
Beiträge: 1231
Registriert: Sa 14. Sep 2013, 18:47

#36 Re: Was ist Hermeneutik?

Beitrag von Thaddäus » Mo 2. Nov 2015, 19:23

2Lena hat geschrieben:Misch bitte nicht "sollte sein" mit "was ist vorhanden".
Ich verstehe, was du meinst.
Die wissenschaftliche Sicht hat heutzutage eine Interpretationshoheit erlangt und viele Physiker vor allem glauben in der Tat, dass alle Geisteswissenschaften im Grunde Unsinn sind und sie auch noch Thomas Manns Zauberberg besser interpretieren können, als jeder dahergelaufene Literaturwissenschaftler, und alle Philosophen sind sowieso Idioten. Die Neurowissenschaften erklären dir vermeintlich, wie dein Hirn funktioniert, was du fühlst und glaubst, und eine Freiheit gibt es auch nicht, weil deine Neuronen im Hirn schon feuern, bevor du überhaupt eine Entscheidung zu irgendwas getroffen hast.
Das alles, so darf ich dir versichern, ist Unsinn und der verehrungswürdige größte und berühmteste Physiker unserer Zeit - Stephen Hawking - ist ein durchaus miserabler Philosoph, auch wenn er selbst vielleicht glaubt, ein guter zu sein.
Es scheint in unserer Welt zur Zeit kein Platz mehr zu sein für den Glauben oder auch nur ein Gedicht, welches die Seele anrührt, weil alles vermeintlich in neuronale Prozesse und aktive Dendriten aufgelöst werden kann.
Das ist alles Blödsinn!
Es ist Blödsinn, dass einige Vertreter der Naturwissenschaften glauben, alles löse sich irgendwie in Physik auf und die Physik allein könne die Welt adäquat beschreiben, so, wie sie in Wahrheit ist. Dem ist nicht so.

Denn schon die Frage, inwiefern die Physik die Welt als Ganzes beschreiben können soll, ist keine Frage der Physik mehr: diese Frage kann durch empirische Beobachtung und experimentelle Versuchsaufbauten nicht beantwortet werden: weil es keine physikalische Frage ist, sondern eine philosophische. Die Grundlagen der physikalischen Forschung können nicht durch die Physik selbst beantwortet werden. Das ist nämlich eine wissenschaftstheoretische Frage und also eine Frage der Philosophie. Soviel nur zu dieser Überheblichkeit der Naturwissenschaften in unseren Tagen.

Denoch ist die Wissenschaft keine Weltanschauungsfrage. Wissenschaft bedeutet letztlich vor allem, methodisch exakt zu arbeiten, nicht mehr und nicht weniger.

Und die Historisch-kritische-Methode in der Theologie ist eine Vorgehensweise zur Analyse biblischer Texte (bzw. überhaupt antiker Texte), die zu wissenschaftlich einigermaßen brauchbaren Ergebnissen führt.

SilverBullet
Beiträge: 2414
Registriert: Mo 17. Aug 2015, 19:04

#37 Re: Was ist Hermeneutik?

Beitrag von SilverBullet » Mo 2. Nov 2015, 20:11

Thaddäus hat geschrieben:Die wissenschaftliche Sicht hat heutzutage eine Interpretationshoheit erlangt und viele Physiker vor allem glauben in der Tat, dass alle Geisteswissenschaften im Grunde Unsinn sind und sie auch noch Thomas Manns Zauberberg besser interpretieren können, als jeder dahergelaufene Literaturwissenschaftler, und alle Philosophen sind sowieso Idioten.
Warum wehrst du dich nicht?

Zeig „dem Physiker“ die Verbindung des „philosophischen Entwurfs“ zu den nachprüfbaren Zusammenhängen der Umwelt.
Zeig ihm, dass die Philosophie teilnimmt, am „grossen Spiel der Wahrnehmungsoptimierung“.

Thaddäus hat geschrieben:Die Neurowissenschaften erklären dir vermeintlich, wie dein Hirn funktioniert, was du fühlst und glaubst, und eine Freiheit gibt es auch nicht, weil deine Neuronen im Hirn schon feuern, bevor du überhaupt eine Entscheidung zu irgendwas getroffen hast.
Was soll dieses „Du“ sein, wenn es Entscheidungen treffen kann?

Wozu braucht dieses „Du“ Neuronen?

Was sagt die Philosophie (Hermeneutik?) über die konkreten Aufgaben der Neuronen im (menschlichen) Gehirn?

Thaddäus hat geschrieben:Die Grundlagen der physikalischen Forschung können nicht durch die Physik selbst beantwortet werden. Das ist nämlich eine wissenschaftstheoretische Frage und also eine Frage der Philosophie.
Ich denke, es ist eine Frage von Wahrnehmung, also der Suche und der Verarbeitung von Bedeutungszusammenhängen, sowie der Optimierung der Vorstellungen (des Verstehens) über viele verschiedene, abgesicherte Blickwinkel. (-> Datenverarbeitung auf Basis von Verstehalgorithmen)

Dass dies von der Philosophie „beansprucht“ wird, wirkt eher etwas komisch auf mich.

Benutzeravatar
Thaddäus
Beiträge: 1231
Registriert: Sa 14. Sep 2013, 18:47

#38 Re: Was ist Hermeneutik?

Beitrag von Thaddäus » Mo 2. Nov 2015, 20:55

SilverBullet hat geschrieben: Warum wehrst du dich nicht?

Zeig „dem Physiker“ die Verbindung des „philosophischen Entwurfs“ zu den nachprüfbaren Zusammenhängen der Umwelt.
Zeig ihm, dass die Philosophie teilnimmt, am „grossen Spiel der Wahrnehmungsoptimierung“.
Als Philosophin muss ich mich im Grunde nicht großartig wehren, sondern kann einfach nur auf das verweisen, was offensichtlich nicht von der Hand zu weisen ist. Eine Physik, die glaubt, die Welt und einfach alles letztlich physikalisch erklären zu wollen, scheitert an dem schlichten Hinweis, dass eine Interpretation z.B. des Faust oder der kantischen Kritik der reinen Vernunft oder der Aussage der Herr der Ringe-Trilogie ganz sicher keine Frage ist, die die Physik mit ihren Methoden beantworten kann. Gleichwohl ist es ein tatsächlich bestehendes Faktum in der realen Welt, dass der Faust oder die Kantischen Kritiken oder Der Herr der Ringe verstanden und interpretiert werden können. Damit ist bereits erwiesen, dass die Physik nicht die Welt, wie sie ist, vollständig und adäquat beschreiben kann. Verweisen die Physik und die Neurowissenschaft darauf, dass jeder Interpretation physikalische und neuronale Prozesse zurunde liegen, dann verweist die Philosophie darauf, dass die Ableitung: der neuronale Zustand p erzeugt einen anderen neuronalen Zustand p* eben keine Interpretation des Faust oder Kants oder des Herrn der Ringe ergibt. So einfach ist das. ;)

SilverBullet hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Die Neurowissenschaften erklären dir vermeintlich, wie dein Hirn funktioniert, was du fühlst und glaubst, und eine Freiheit gibt es auch nicht, weil deine Neuronen im Hirn schon feuern, bevor du überhaupt eine Entscheidung zu irgendwas getroffen hast.
Was soll dieses „Du“ sein, wenn es Entscheidungen treffen kann?

Wozu braucht dieses „Du“ Neuronen?

Was sagt die Philosophie (Hermeneutik?) über die konkreten Aufgaben der Neuronen im (menschlichen) Gehirn?
Die Philosophie sagt dazu, dass es neuronaler (und physikalischer) Prozesse im Gehirn bedarf, um eine Interpretation des Faust oder der Kritiken Kants erzeugen zu können. Sie verweist aber gleichzeitig darauf, dass diese neuronalen und physikalischen Prozesse nicht diese Interpreationen SIND (sie sind eine notwendige, aber keine eben hinreichende Bedingung!).

SilverBullet hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Die Grundlagen der physikalischen Forschung können nicht durch die Physik selbst beantwortet werden. Das ist nämlich eine wissenschaftstheoretische Frage und also eine Frage der Philosophie.
Ich denke, es ist eine Frage von Wahrnehmung, also der Suche und der Verarbeitung von Bedeutungszusammenhängen, sowie der Optimierung der Vorstellungen (des Verstehens) über viele verschiedene, abgesicherte Blickwinkel. (-> Datenverarbeitung auf Basis von Verstehalgorithmen)

Dass dies von der Philosophie „beansprucht“ wird, wirkt eher etwas komisch auf mich.
Tatsächlich muss sich die Philosophie wie alle Geisteswissenschaften heute gegen gewisse Übernahmeansprüche der Physik vor allem verteidigen, die durch manche Physiker/Naturwissenschaftler vorgetragen werden. Das ist aber recht leicht zu bewerkstelligen, weil die Naturwissenschaftler, die solche Forderungen aufstellen, sich sogleich in Widersprüche verwickeln, was ihnen oft aber nicht auffällt, weil sie schlechte Philosophen sind. :D
Kein Physiker kann mit physikalischen Methoden die Frage beantworten, warum die Naturwissenschaften eigentlich empirisch und experimentell arbeiten müssen, um erfolgreich zu sein? Das ist eben eine wissenschaftstheoretische und also philosophische Frage.

SilverBullet
Beiträge: 2414
Registriert: Mo 17. Aug 2015, 19:04

#39 Re: Was ist Hermeneutik?

Beitrag von SilverBullet » Di 3. Nov 2015, 18:59

Thaddäus hat geschrieben:Eine Physik, die glaubt, die Welt und einfach alles letztlich physikalisch erklären zu wollen, scheitert…
Ich stimme zu.
Wahrnehmung kann sich durch immer neue Blickwinkel optimieren. Wenn aber alle möglichen Blickwinkel eingenommen wurden, dann gibt es keine weitere Optimierung. D.h. das Verstehen in der Wahrnehmung kommt letztlich nie an den eigentlichen „Existenz-Sachverhalt“ heran.
Die Zusammenhänge, die von der Wahrnehmung gefunden werden, können aber dennoch sehr praktisch sein und tadellos funktionieren.

Thaddäus hat geschrieben:…dass eine Interpretation z.B. des Faust oder der kantischen Kritik der reinen Vernunft oder der Aussage der Herr der Ringe-Trilogie ganz sicher keine Frage ist, die die Physik mit ihren Methoden beantworten kann.
Physik wohl eher nicht.
Wie sieht es mit Informatik aus?

Thaddäus hat geschrieben:Verweisen die Physik und die Neurowissenschaft darauf, dass jeder Interpretation physikalische und neuronale Prozesse zurunde liegen, dann verweist die Philosophie darauf, dass die Ableitung: der neuronale Zustand p erzeugt einen anderen neuronalen Zustand p* eben keine Interpretation des Faust oder Kants oder des Herrn der Ringe ergibt. So einfach ist das
Kannst den Vorgang in „Interpretation des Faust oder Kants oder des Herrn der Ringe“, der ja sehr komplex zu sein scheint, ein wenig besser beschreiben?

Ich nehme an, hier werden keine Substanzen von A nach B bewegt. Es soll auch nichts erschaffen werden, das man danach wegtragen kann.

Mir geht es hier um die Einordnung, also die „Richtung“ der dabei stattfindenden Aktivitäten – um was soll es gehen?
(ich kann die Frage leider nicht besser ausdrücken)

Thaddäus hat geschrieben:Die Philosophie sagt dazu, dass es neuronaler (und physikalischer) Prozesse im Gehirn bedarf, um eine Interpretation des Faust oder der Kritiken Kants erzeugen zu können. Sie verweist aber gleichzeitig darauf, dass diese neuronalen und physikalischen Prozesse nicht diese Interpreationen SIND (sie sind eine notwendige, aber keine eben hinreichende Bedingung!).
Ich habe eigentlich gefragt, was dieses „Du“ sein soll, das ohne Neuronen, Entscheidungen treffen können soll.

Verstehe ich dich richtig: du denkst, die Neuronen machen da „etwas“, was man unbedingt benötigt, aber da muss noch etwas „anderes“ dazu kommen, damit es funktioniert?
Was machen die Neuronen?
Was soll „das Andere“ sein?
Wie sieht die Wechselwirkung aus?

Thaddäus hat geschrieben:Tatsächlich muss sich die Philosophie wie alle Geisteswissenschaften heute gegen gewisse Übernahmeansprüche der Physik vor allem verteidigen, die durch manche Physiker/Naturwissenschaftler vorgetragen werden. Das ist aber recht leicht zu bewerkstelligen, weil die Naturwissenschaftler, die solche Forderungen aufstellen, sich sogleich in Widersprüche verwickeln, was ihnen oft aber nicht auffällt, weil sie schlechte Philosophen sind
Welche Widersprüche sind dies?

Thaddäus hat geschrieben:Kein Physiker kann mit physikalischen Methoden die Frage beantworten, warum die Naturwissenschaften eigentlich empirisch und experimentell arbeiten müssen, um erfolgreich zu sein? Das ist eben eine wissenschaftstheoretische und also philosophische Frage.
Ich denke, diesen „Ball“ kann man ganz flach halten.

Der Grund, warum man empirisch und experimentell die besten Ergebnisse erzielt, liegt ganz einfach am elektrischen Impuls, also am Übergang von physikalischen Sachverhalten zur Wahrnehmungsauswertung.

Es ist vielleicht erstaunlich, aber allein von der Tatsache einer sensorischen Wahrnehmung kann man ableiten, warum man zur Optimierung viele verschiedene, zusammenhängende Blickwinkel braucht.
Je weniger Blickwinkel, desto schlechter sind die Vorstellungen (das Verstehen).

Das Verstehen muss sozusagen trainiert werden, wobei es immer wieder in die korrekte „Bahn“ zurückgeholt werden muss. Man benötigt dabei einen Aussensachverhalt, der das Verstehen korrigiert (Anlass, Hinweis, Experiment).

Beachten das die Philosophien auch?

Benutzeravatar
Thaddäus
Beiträge: 1231
Registriert: Sa 14. Sep 2013, 18:47

#40 Re: Was ist Hermeneutik?

Beitrag von Thaddäus » Mi 4. Nov 2015, 20:09

SilverBullet hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Eine Physik, die glaubt, die Welt und einfach alles letztlich physikalisch erklären zu wollen, scheitert…
Ich stimme zu.
Wahrnehmung kann sich durch immer neue Blickwinkel optimieren. Wenn aber alle möglichen Blickwinkel eingenommen wurden, dann gibt es keine weitere Optimierung. D.h. das Verstehen in der Wahrnehmung kommt letztlich nie an den eigentlichen „Existenz-Sachverhalt“ heran.
Die Zusammenhänge, die von der Wahrnehmung gefunden werden, können aber dennoch sehr praktisch sein und tadellos funktionieren.
Im Grunde tut sich in der Hermeneutik ein fundamentales Problem der Philosophie auf, welches man auch in der body-mind (Körper-Geist und Körper Seele)-Diskussion vorfindet. Welche Rolle spielt der Geist? Was ist der Geist überhaupt?
Die klassische Hermeneutik (Schleiermacher, Dilthey, Heidegger und Gadamer vor allem) betonen die Rolle des Geistes beim Akt des Verstehens.
Wahrnehmungspsychologisch und kognitionspsychologisch kann man sich dem Verstehen durchaus nähern (in der Lern- und Kognitionspsychologie z.B. das berühmte Aha-Erlebnis, bei dem man unvermittelt einen größeren Zusammenhang einsieht und damit versteht). Dennoch weiß man wahrnehmungs- und kogniotionspsychologisch nicht so recht, was in diesem Augenblick eigentlich genau geschieht.
Noch viel komplizierter ist es, z.B. zu verstehen, was die berühmte Gretchenfrage in Goethes Faust I eigentlich bedeutet (also Gretchens Frage an Faust, wie er es mit der Religion hält?).


SilverBullet hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:…dass eine Interpretation z.B. des Faust oder der kantischen Kritik der reinen Vernunft oder der Aussage der Herr der Ringe-Trilogie ganz sicher keine Frage ist, die die Physik mit ihren Methoden beantworten kann.
Physik wohl eher nicht.
Wie sieht es mit Informatik aus?
In der Informatik gibt es den so genannten Turing Test, mit dem man - nach seinem Erfinder Alan Turing - herausfinden können soll, ob ein Computer oder Roboter, also eine künstliche Intelligenz, über tatsächliche Intelligenz und unter Umständen sogar über Bewusstsein/Selbstbewusstsein verfügt. Man unterhält sich mit zwei Gesprächspartnern, ohne diese face to face zu sehen. Kann man nach einem Gespräch nicht angeben, welcher der beiden Gesprächspartner ein Mensch und welcher die künstliche Intelligenz ist, dann ist die beteiligte künstliche Intelligenz - nach Ansicht von Turing - tatsächlich intelligent und damit auch zum Verstehen in der Lage.

ICH würde bei einem Turing Test meinen Gesprächspartnern Heinrich Bölls Kurzgeschichte (1949) An der Brücke (Die ungezählte Geliebte) erzählen. Und ich würde ihnen die Frage stellen, warum der Ich-Erzähler in dieser Geschichte seine Geliebte nicht zählen möchte. Erst, wenn mir meine beiden Gesprächspartner auf diese Frage jeweils eine Antwort geben, bei der ich nicht angeben könnte, wer der Mensch und wer die künstliche Intelligenz ist, würde ich davon sprechen wollen, dass die beteiligte künstliche Intelligenz, deren Antwort ich dann ebenfalls als verständige Antwort auf diese Frage gelten lassen muss, über wirkliche (menschliche) Intelligenz und (menschliches) Verstehen verfügt. Der springende Punkt ist dabei natürlich, dass man, um diese Geschichte zu verstehen und die Frage beantworten zu können, existenziell verstanden haben muss, was es heißt, (einen Menschen) zu lieben (und was es heißt, die geliebte Person als nur eine Zahl in eine Statistik mitzuzählen).


SilverBullet hat geschrieben: Kannst den Vorgang in „Interpretation des Faust oder Kants oder des Herrn der Ringe“, der ja sehr komplex zu sein scheint, ein wenig besser beschreiben?
Die Frage dahinter ist, ob es zum Verstehen noch eines Geistes bedarf oder ob Verstehen als rein neurophysiologisches und damit letztlich physikalischen Geschehen verstanden werden kann?

Einen vom körperlichen Geschehen, also von der Hirnaktivität, unabhängigen Geist anzunehmen, der letztlich Verstehen bewirkt, ist äußerst problematisch.
Wo sollte dieser als immateriell verstandene Geist denn herumfliegen und wie sollte er mit dem Körper/ dem Gehirn interagieren? Dieses Problem hatte schon Rene Descartes, der behauptete, der Geist des Menschen ist vom Körper völlig unabhängig (res extensa(= die ausgedehnte, körperliche Sache) versus res cogitans (die geistige, immaterielle Sache)).
Man hat dann plötzlich einen ghost in the machine, also ein Gespenst in einem Körper.
Ein besonders starkes Gegenargument gegen diese Sicht eines körperunabhängigen Geistes ist, dass es dann unerklärlich wird, warum die Evolution überhaupt ein Gehirn von solcher Komplexität hervorgebracht hat! Dazu gibt es keinen Grund, wenn ein körperunabhängiger Geist das Verstehen leistet.

Versteht man das Verstehen aber als eine rein neurophysiologische und physikalische Aktivität, hat man ebenfalls ein Problem: weil elektrochemische Aktivität des Hirns eben noch nicht selbstverständlich Verstehen bedeutet. Man kann dann nur beschreiben, dass die Neuronen a bis m feuern und damit andere Neuronen n bis q dazu anregen, ebenfalls zu feuern, vielleicht sogar im Kreis herum. Aber das ist nicht Verstehen.
Es ist empirisch belegt, dass man, wenn man etwas versteht oder sich überhaupt geistig betätigt, bestimmte Bereiche des Gehirns und seine Neuronen aktiv sind und feuern. Das Verstehen muss man dann zu einem Epiphänomen dieser Hirnaktivität erklären. Das heißt, die Aktivität des Hirns und seiner Neuronen bewirken ein Phänomen, welches über die reine Hirn- und Neuronenaktivität hinausgeht und noch etwas anderes bedeutet: nämlich verstehen.
Ein Epiphänomen ist z.B., wenn ein Elektriker z.B. eine Leuchtschrift z.B. in einer ihm völlig fremden Sprache, z.B. in russischer Sprache mit kyrillischen Buchstaben über einem Supermarkt anbringt. Der Elektriker montiert nur Leuchtsoffröhren, die leuchten, wenn er den Strom anschaltet. Mehr versteht er nicht. Aber den Leuten, die Russisch sprechen, sagt das Schild: Ikea - Ihr Möbelhaus. Es sind nur Leuchtstoffröhren. Aber in russischer Sprache bringt ihre spezielle Anordnung etwas ganz Bestimmtes hervor, nämlich eine immaterielle Botschaft, nämlich dass hier ein Ikea-Laden ist.


SilverBullet hat geschrieben: Verstehe ich dich richtig: du denkst, die Neuronen machen da „etwas“, was man unbedingt benötigt, aber da muss noch etwas „anderes“ dazu kommen, damit es funktioniert?
Was machen die Neuronen?
Was soll „das Andere“ sein?
Wie sieht die Wechselwirkung aus?
Siehe meine letzte Antwort.


SilverBullet hat geschrieben:
Thaddäus hat geschrieben:Tatsächlich muss sich die Philosophie wie alle Geisteswissenschaften heute gegen gewisse Übernahmeansprüche der Physik vor allem verteidigen, die durch manche Physiker/Naturwissenschaftler vorgetragen werden. Das ist aber recht leicht zu bewerkstelligen, weil die Naturwissenschaftler, die solche Forderungen aufstellen, sich sogleich in Widersprüche verwickeln, was ihnen oft aber nicht auffällt, weil sie schlechte Philosophen sind
Welche Widersprüche sind dies?
Es ist der Widerspruch, dass behauptet wird, die Physik erkläre die gesamte Welt, aber mit rein physikalischen Mitteln nicht herausgefunden werden kann, was alles zu dieser gesamten Welt gehört.
Es ist eine wahre Aussage über diese Welt, dass Frodo Beutlin ein Hobbit ist.
Aber wo existiert Frodo Beutlin?
Offenbar nicht in der Bundesrepuplik Deutschland und auch nicht in Buenos Aires.
Die Physik kann nicht herausfinden, wo Frodo Beutlin (oder Harry Potter meinetwegen) existiert und was er eigentlich ist oder welche Aufgabe er zu erfüllen hat. Also kann die Physik nicht die gesamte Welt beschreiben. Aber die Literaturwissenschaft und die Filmwissenschaft können erklären, wo, wie und warum Frodo Beutlin oder Harry Potter existieren.

Letztlich ist es eine Frage der Ontologie: was bedeutet es zu sagen, etwas existiert und in welchem Sinne existiert es?

Antworten