closs hat geschrieben:Man wird also nicht behaupten, die vorliegenden Evangelien-Texte müssten glaubensmäßig aus der Hand der Evangelisten sein, obwohl die Wissenschaft anderes nachweisen kann.
Mit dem rot markierten Wort habe ich ein Problem? Was man theoretisch begründen kann, ist damit keinesfalls nachgewiesen. Es gibt auch Gründe, die für die Autorenschaft der bekannten Evangelisten sprechen.
Pluto hat geschrieben:closs hat geschrieben:Insgesamt ist es aus meiner Sicht gut und wissenschafts-freundlich, wenn Ratzinger mit der kanonischen Hermeneutik zwischen Wissenschaft und Weltanschauung trennt
Wieso ist das wissenschaftsfreundlich?
Sieht mir eher nach Ausschluss des unangenehmen Stachels der Wissenschaft. Damit werden Erkenntnisse einfach von der kanonischen Exegese unter den Tisch gekehrt, nach dem alten Motto,
Was nicht sein darf, kann auch nicht sein.
Die kanonische Hermeneutik ist im Grunde gar nicht so schwer zu verstehen: Der hermeneutische Zugang geht von der Prämisse aus, dass der Bibelkanon im Gesamtkontext zu interpretieren ist. Mit dieserm Zugang lässt sich die historisch-kritische Betrachtung durchaus ergänzen.
Ich halte es für extrem unwahrschienlich, dass die Bibelschreiber ohne Kenntnis der älteren biblischen Schriften ihre Texte verfassten. In Qumran wurde ganz selbstverständlich mit den biblischen Schriften des Tanach gearbeitet. Es gibt Bezüge in den Psalmen auf die Torah, hunderte von Bezugnamen im NT auf das AT, Parallelen zwischen der Buchrolle der Könige und der Chronik Esras. Daraus folgere ich: Die Schriften wurden schon in der Antike im Zusammenhang betrachtet.
Wenn Du magst, schau doch mal in die
PDF-Dokumente von Zenger rein.
Zitat von Prof. Erich Zenger:
Esra/Neh setzen die Tora des Mose als normative Größe voraus
Hier einen kanonischen Zusammenhang zwischen den esranischen Schiften und Mose zu leugnen, würde bedeuten, die esranischen Torah-Bezüge zu negieren. In 2Kön wird sogar vom Fund der Torah im Tempel berichtet, der dort als sehr bedeutsam geschildert wird.
Zitat von Prof. Erich Zenger:
2. Joschija nimmt 622 das Dtn als Basis zur Selbstverpflichtung (2Kön 22f): Tora wird im Tempel gefunden (Erzählgefüge Dtn-2Kön  es handelt sich um das Dtn, d.h. kleine Vorstufe zu Dtn 5-28, ohne narrative Elemente, keine Sozialgesetze aber Segen-Fluch). Verpflichtung Josijas = Dtn wird zur Bundesurkunde und Staatsgrundgesetz.
Prof. Erich Zenger schrieb über die Hermeneutik:
5. Jüdisch-christliche Bibelhermeneutik.
5.1. Keine systematische Einheit, sondern dramatischer Zusammenhang
Die Polyphonie des Ersten Testaments ist von seinen "Arrangeuren" gewollt.
Die komplexe und kontrastive Gestalt des Tanach / Ersten Testaments ist zum größten Teil ausdrücklich gewollt. Daß und wie die Töne, Motive und Melodien, ja sogar die einzelnen Sätze dieser polyphonen Sinphonie miteinander streiten und sich gegenseitig ins Wort fallen, sich ergänzen und bestätigen, sich wiedersprechen - das ist kein Makel und keine Unvollkommenheit dieses Opus, sondern seine intendierte Klanggestalt, die man hören und von der man sich geradezu berauschen lassen muß, wenn man sie als Kunstwerk, aber auch als Gotteszeugnis erleben will.
5.2. Der spannungsreiche Dialog der beiden Teile der einen christlichen Bibel
Läßt man beide Testamente als Rivalinnen im Streit um die Gotteswahrheit zu, kann aus ihrer Korrelation eine neue, produktive Lektüre der einen, zweigeteilten Bibel hervorgehen, die keines der beiden allein und in sich selbst ermöglichen würde. Das erste Testament kann seine Rolle als Herausforderin, Rivalin und Kommentatorin des Neuen Testaments natürlich nur dann spielen, wenn man ihm sein Eigenwort mit Eigenwert beläßt. Die Differenzen müssen auch gelten gelassen werden.
5.3. Hermeneutik der kanonischen Dialogizität
Intertextuell erkennbare Bezüge der erst- und neutestamentlichen Texte werden in einen offenen "kanonischen" Dialog gebracht. Den ersttestamentlichen Prätexten wird aber dabei auch ihr Eigenleben gelassen.
Kannst Du was damit anfangen?
Die hermeneutische Systematik des Tanach stellt Zenger folgendermaßen dar:
Zitat von Prof. Erich Zenger:
2. Die hermeneutische Systematik des Tanach
2.1. Programmatische Schlußtexte (Epiloge/Kolophone) der drei Teile
a) Dtn 34,10-12 ist Schlußtext der gesamten Tora: ("Niemals wieder ist in Israel ein Prophet aufgestanden wie Mose...")
• die Mosetora ist unüberbietbare und ewig gültige Offenbarung und Lebensweisung
• Hauptaufgabe "der Propheten" - Auslegung der Tora;
• Exodus wird in Unvergleichbarkeitsdimension aufgenommen und ist ein Gründungsgeschehen
b) Mal 3,22-24 ist (geschichteter) Schluß des gesamten Prophetenkorpus: ("Gedenket der Tora des Mose...")
• Prophetie - Aktualisierung der Tora
• Tora ist JHWH-Tora
• Tora ist gebündelt in Dtn (Ausdruck "Gesetz und Rechtsvorscgriften")
• Elija ist Schüler des Mose par excellence, weil er JHWH gehört hat. Er wurde in Himmel entrückt und kann deswegen wiederkommen, um Israel zur familiären Tora-Lerngemeinschaft zu machen;
• Bei der Tora-Auslegung der Propheten geht es um die Beziehung Gott - Israel - Land;
• Prophetie legt die Tora in eschatologisches aus, im Hinblick auf den "Tag JHWHs".
Prof. Erich Zenger war einer der bedeutensten Exegeten und Alttestamentler seiner Zeit. Damit will ich nicht zum Ausdruck bringen, dass ich in allem seiner Exegse folge, meine bescheidene Perspektive ist schon verschieden von der fachlichen Sicht Zengers, doch vermag ich in Zengers Dokumenten den Wert der kanonischen Exegese durchaus zu erkennen.
Ich gehe davon aus, dass die Bibelschreiber gläubige Juden waren, für die die bereits bestehenden Schriften natürlich höchst bedeutsam waren, insbesondere die Torah.
Die Schreiber des NT leiteten ihren "Weg" ganz selbstverständlich aus dem Tanach her.