Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

closs
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#621 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von closs » Do 30. Jul 2015, 19:05

Anton B. hat geschrieben:Meines Erachtens ist es viel wichtiger, sich mit der Methodik als mit dem Ergebnis auseinander zu setzen.
Sehe ich wirkllich anders - einfach deshalb, weil ich darauf vertraue, dass Wissenschaftler innerhalb ihrer methodischen Arbeit sorgfältig sind. - Mir geht es darum zu begründen, dass auch höchste methodische Sorgfalt (normalerweise) nichts an dem A-priori-Korridor möglicher Ergebnisse ändert, der weltanschaulich präjudiziert wird.

Anton B. hat geschrieben:Mich bestürzt daher Deine Verweigerungshaltung bezüglich der Methodenkenntnisse auch so.
Ich finde das Thema wirklich interessant, sehe aber, dass es ganz woanders zwickt.

Anton B. hat geschrieben:Und dafür ist es doch irrelevant, ob wir hier von einer Methode im natur- oder geisteswissenschaftlichen Kontext sprechen.
Für inner-methodische Diskussion ist das richtig - für die Ergebnis-Bandbreite nicht. - Beispiel:

Es wird keine Methode fertigbringen, ein anderes Ergebnis für die Lichtgeschwindigkeit (Naturwissenschaft) zu erbringen - c ist schlicht und ergreifend objektiv fassbar. - Bei der Frage der Naherwartung (Geisteswissenschaft) kann innerhalb einer Methode (hier: HKM) rauskommen, dass Jesus
a) eine "äußere" Naherwartung hatte oder
b) NICHT hatte.

Nicht weil die HKM schlecht wäre, sondern weil man je nach eigener Weltanschauung deren Ergebnisse diametral entgegengesetzt interpretieren kann. - Wenn es also zur Zeit einen Konsens darüber GÄBE, dass Jesus eine (äußere) Naherwartung hatte, dann würde dies nichts über Jesus, sondern über die Weltanschauung der Konsensler aussagen.

Und weil DAS das Problem ist, interessiert mich eine tiefere Beschäftigung mit der HKM nicht, weil ich ihr schlicht und ergreifend vertraue - als Beobachtungs- und Beschreibungs-Instrument, nicht aber als Interpretations-Instrument - denn das ist in Geisteswissenschaften normalerweise nicht wissenschaftlich, sondern weltanschaulich. - Die HKM liefert lediglich eine wissenschaftliche Rechtfertigung dafür.

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Scrypt0n
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#622 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Scrypt0n » Do 30. Jul 2015, 19:11

closs hat geschrieben:aber die HKM kann für verschiedene geistige Ansätze verwendet werden. - Als Handwerkszeug ist es für einen Atheisten genauso gut verwendbar wie für einen Christen - mit dementsprechend unterschiedlichen Ergebnissen.
Wenn geistige Ergebnisse der Befundlage widersprechen, sind die geistigen Ergebnisse falsch und damit für die Tonne.
Ein Narr ist, wer trotzdem daran festhält.
Zuletzt geändert von Scrypt0n am Do 30. Jul 2015, 19:19, insgesamt 1-mal geändert.

closs
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#623 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von closs » Do 30. Jul 2015, 19:14

Scrypt0n hat geschrieben:Wenn geistige Ergebnisse der Befundlage widersprechen, sind die geistigen Ergebnisse falsch und damit für die Tonne.
Ein Narr ist, wer trotzdem daran festhält.
Du bist naiv bis auf die Knochen. - Dieselbe wissenschaftliche Befundlage kann zu diametralen Schlussfolgerungen führen - eben weil die Interpretationen aus DERSELBEN Befundlage weltanschaulich unterschiedlich geprägt sein können.

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#624 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Pluto » Do 30. Jul 2015, 19:20

Halman hat geschrieben:Die ergebnisoffene Wissenschaft ist ein Ideal. Glaubst Du wirklich, dass dieses im Bereich der Geisteswissenschaften, insbesondere in der Theologie, erreicht wird?
Ideale kann man anstreben und theoretisch perfekt definieren, aber real Leben kann man sie nicht. Wir können nur danach streben.
Da gebe ich dir vollkommen Recht. Die HKM ist eine Methodik, und man strebt dem Ideal an, erreicht es aber vermutlich nur ganz selten oder gar niemals.

Halman hat geschrieben:Bevor man einfach unkritisch glaubt, dass die Exegese völlig ergebnisoffen sei, sollte man vielleicht die Thematik kritischer beleuchten.
Die HKM ist bekanntlich eine relativ moderne Technik.
Wäre es falsch zu behaupten, dass eine Exegese die der HKM folgt näher an der Wahrheit dran ist, als eine die nur auf Überlieferung und theologische Tradition basiert?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#625 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Scrypt0n » Do 30. Jul 2015, 19:20

closs hat geschrieben:
Scrypt0n hat geschrieben:Wenn geistige Ergebnisse der Befundlage widersprechen, sind die geistigen Ergebnisse falsch und damit für die Tonne.
Ein Narr ist, wer trotzdem daran festhält.
Du bist naiv bis auf die Knochen.
Also mit unhaltbaren Vorwürfen entsteht weder ein Argument aus dem Nichts noch kann es von deiner Naivität unzähliger Dogmen ablenken.

closs hat geschrieben:Dieselbe wissenschaftliche Befundlage kann zu diametralen Schlussfolgerungen führen.
Nein, denn wie der Glaubens- und Überzeugungseffekt praktisch ausgeschaltet wird - innerhalb der wissenschaftlichen Methodik - wurde dir schon mehrmals ausführlich dargelegt. Dass du dir das nicht merken kannst und immer wieder vergisst entschuldgt diesen Missstand nicht.

closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:Meines Erachtens ist es viel wichtiger, sich mit der Methodik als mit dem Ergebnis auseinander zu setzen.
Sehe ich wirkllich anders
Das ist auch der Grund dafür, weshalb du so festgefahren bist mit deinen Dogmen.
Du hältst an den willkürlichen und beliebigen "geistigen" Ergebnissen fest und negierst die Ergebnisse der wissenschaftlichen/objektiven Methodik.

So wird kein Schuh draus.

closs hat geschrieben:
Scrypt0n hat geschrieben:
closs hat geschrieben:Nicht mehr und nicht weniger als allen Geistes-Wissenschaftlern.
Die historisch kritische Methode ist jedoch keine geistige Methode.

Daher macht deine Aussage so schlicht keinen Sinn.
Als wissenschaftliches Handwerk ist es in der Tat keine geistige Methode
Eben!

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Halman
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#626 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Halman » Do 30. Jul 2015, 19:39

Pluto hat geschrieben:
Halman hat geschrieben:Die ergebnisoffene Wissenschaft ist ein Ideal. Glaubst Du wirklich, dass dieses im Bereich der Geisteswissenschaften, insbesondere in der Theologie, erreicht wird?
Ideale kann man anstreben und theoretisch perfekt definieren, aber real Leben kann man sie nicht. Wir können nur danach streben.
Da gebe ich dir vollkommen Recht. Die HKM ist eine Methodik, und man strebt dem Ideal an, erreicht es aber vermutlich nur ganz selten oder gar niemals.
Okay,.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich will die histoisch-kritische Methode nicht schlechtreden, wenngleich ich die unerhörte Frechheit besitze, sie relativieren und kritiscieren zu wollen. Damit meine ich im Kern lediglich, dass sie hinterfragt werden darf.

Pluto hat geschrieben:
Halman hat geschrieben:Bevor man einfach unkritisch glaubt, dass die Exegese völlig ergebnisoffen sei, sollte man vielleicht die Thematik kritischer beleuchten.
Die HKM ist bekanntlich eine relativ moderne Technik.
Wäre es falsch zu behaupten, dass eine Exegese die der HKM folgt näher an der Wahrheit dran ist, als eine die nur auf Überlieferung und theologische Tradition basiert?
Nein, das wäre nicht falsch dies zu behaupten, zumindest in Teilen nicht. Durch so eine Analyse ist es z.B. möglich, innerbilbische Lehren von außerbiblischen, traditionellen theologischen Lehren zu unterscheiden - wie bspw. die Trinität.
Die größte Leistung der historisch-kritischen Methode liegt wohl darin, durch die historische Forschung die altertümlichen und antiken Kulturkreise und deren soziokulturellen Aspekte als "historische Kontexte" zu berücksichtigen. Diese Leistung würdigt sogar Klaus Berger. Diese historisch-kritischen Rekonstruktionen sind in fachlicher Hinsicht sicher ernst zu nehmen, aber es sind Rekonstruktionen, die man hinterfragen darf. Ich darf glauben, dass Jesus in Bethelem geboren wurde. Dass dies falsch sei, ist eine Auffassung, kein gesichertes Faktum. Um sowas geht es mir.
Daher wage ich mich an mein neues Thema: Exegese - Segen oder Fluch?
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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#627 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von closs » Do 30. Jul 2015, 19:53

Scrypt0n hat geschrieben:denn wie der Glaubens- und Überzeugungseffekt praktisch ausgeschaltet wird - innerhalb der wissenschaftlichen Methodik - wurde dir schon mehrmals ausführlich dargelegt
Das ist exakt meine Aussage seit 1848 - INNERHALB der Methodik sind solche Effekte abgeschaltet - aber nur da. - Bei den Interpretationen daraus sind sie aber eben NICHT ausgeschaltet. - Willst Du provozieren, wenn Du vorgibst, dies nicht zu verstehen?

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#628 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Pluto » Do 30. Jul 2015, 19:55

Halman hat geschrieben:Ich darf glauben, dass Jesus in Bethelem geboren wurde. Dass dies falsch sei, ist eine Auffassung, kein gesichertes Faktum. Um sowas geht es mir.
Im Altertum war es üblich, dass die Menschen keine Nachnahmen hatten. Stattdessen nannte man den Geburtsort mit dem Vornamen.
Jesus wird in der Bibel mehrfach als Nazarener bezeichnet, aber nirgendwo steht "Jesus von Bethlehem".
Das macht mich stutzig, was deine Annahme betrifft.

Halman hat geschrieben:Daher wage ich mich an mein neues Thema: Exegese - Segen oder Fluch?
Gutes Thema! :thumbup:
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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#629 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von Anton B. » Do 30. Jul 2015, 20:04

closs hat geschrieben:
Scrypt0n hat geschrieben:denn wie der Glaubens- und Überzeugungseffekt praktisch ausgeschaltet wird - innerhalb der wissenschaftlichen Methodik - wurde dir schon mehrmals ausführlich dargelegt
Das ist exakt meine Aussage seit 1848 - INNERHALB der Methodik sind solche Effekte abgeschaltet - aber nur da. - Bei den Interpretationen daraus sind sie aber eben NICHT ausgeschaltet. - Willst Du provozieren, wenn Du vorgibst, dies nicht zu verstehen?
Ich verstehe es genauso wenig, und provozieren möchte ich sicherlich nicht.

Der kritische Punkt könnte ein unterschiedliches Wissenschaftsverständnis sein: Ohne jetzt jemandem ein Fehlverständnis attestieren zu wollen, in Scrypt0ns und meinem Verständnis gibt es schon diese "Interpretationen" nicht. Auch Deine anderen Aussagen zu meinem letzten Beitrag weisen darauf hin. Es werden keine Beobachtungen gesammelt und dann "interpretiert", es werden Modelle erstellt und diese dann bewährt/falsifiziert. Das eine ist ein positivistisch-induktiver, das andere ein deduktiv-kritischer Ansatz.
Die Eiche "ist" - sie steht da - mit oder ohne Wildschweine.

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#630 Re: Historische Textkritik- Was bleibt am Ende des Tages?

Beitrag von closs » Do 30. Jul 2015, 20:28

Anton B. hat geschrieben:Der kritische Punkt könnte ein unterschiedliches Wissenschaftsverständnis sein
Vielleicht in Bezug auf die Zuständigkeit der Wissenschaft.

Unter "Wissenschaft" (ob naturwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich) verstehe ich, dass beobachtet und beschrieben wird. - Beispiele:

Wir beobachten/beschreiben
* dass das Fragment x nach 80 n.Chr. verfasst sein muss.
* dass aufgrund unabhängiger Quellen als sicher angesehen werden darf, dass es zur Zeit Jesu im Volk eine Naherwartung gab ("Endzeit-Stimmung").
* dass der Schreiber des Textes x in Kenntnis dieser Endzeitstimmung zu sein scheint.
* dass Jesus vom Schreiber x und y als Prediger einer solchen Endzeitstimmung verstanden wird.
* etc.

Jetzt zieht man Schlussfolgerungen. - Als wissenschaftliche Schlussfolgerung würde ich bspw. den Satz bezeichnen:
"Wenn die Beobachtungen zutreffend sind und man die Einschätzung Jesu durch den/die Schreiber für glaubwürdig halten darf, hatte Jesus selber eine (apokalyptische) Naherwartung".

Als unwissenschaftliche Schlussfolgerung würde ich bspw. den Satz bezeichnen:
"Die Wissenschaft weist nach, dass Jesus eine Naherwartung hatte"

Wie vertragen sich meine Ausführungen bisher mit Deinem Wissenschaftsverständnis?

Anton B. hat geschrieben:es werden Modelle erstellt und diese dann bewährt/falsifiziert
Geht das bei geistes-wissenschaftlichen Themen?

Davon abgesehen: Gehe ich recht in der Annahme, dass ein "Modell" eine Vorgabe des Forschers ist?

Wie auch immer: Wenn die Aussage wäre "Nach unserem Modell hatte Jesus eine Naherwartung", wäre dies nach meinem Wissenschafts-Verständnis ebenfalls wissenschaftlich. - Aber das klänge schon ganz anders als "Die Wissenschaft weist nach, dass Jesus eine Naherwartung hatte".

Fragte man einen christlichen Theologen nach SEINEM Modell, wäre es ein Leichtes, zum Ergebnis zu kommen: ""Nach unserem Modell hatte Jesus KEINE Naherwartung". - Wir reden also streng genommen nicht über Jesus, sondern über Modelle.

Gerne bin ich bereit, das Wort "Interpretationen" zu ersetzen durch "Modell-Vielfalt" (zum selben Thema) - damit bleibt meine Aussage im Kern erhalten.

Tipp und Bitte: Schau mal rüber in Halmans Thread "Exegese - Segen oder Fluch" - da wird es genau um dieses Thema gehen.

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