Die Früchte des Reduktionismus.

Philosophisches zum Nachdenken
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sven23
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#51 Re: Die Früchte des Reduktionismus.

Beitrag von sven23 » Di 23. Dez 2014, 07:46

closs hat geschrieben: Übrigens ein anderes Beispiel: Wenn Du Deine Hand nach 5 Minuten aus der Kühltruhe nimmst und einen 10° C warmen Stab anfasst - wie fühlt sich dieser Stabe an? Warm oder kalt?

Keine Ferkeleien bitte. :lol:


Beim Schachbrett ist es ja so, daß aus nachweislich falschen Werten ein für unser Gehirn stimmiges Bild entsteht. Aber die Wahrnehmung von Helligkeitsunterschieden ist subjektiv, weil unsere Gehirn immer die Umgebung mit einbezieht. (Relativität von Helligkeit)

Bei folgendem Balken wird das noch deutlicher:
1024px-Gradient-optical-illusion.svg.jpg
1024px-Gradient-optical-illusion.svg.jpg (27.4 KiB) 554 mal betrachtet
Quelle: Wikipedia

Obwohl überhaupt keine Notwendigkeit aus einem Bildzusammenhang besteht, interpretiert das Gehirn den Balken als unterschiedlich hell und dunkel. Betrachtet man den Balken für sich, erkennt man, daß er einen einheitlichen Grauwert besitzt.
Holistisch betrachtet interpretiert das Gehirn falsch, reduktiv richtig.

Da könnte man auch Parallelen zur Spiritualität/Transzendenz ziehen. Wer sich zu sehr auf das Sein fixiert, verliert leicht den Blick für das Dasein, das wäre kontraproduktiv.
Das Gehirn läßt sich leicht was vormachen und Selbsttäuschung ist oft schwer zu erkennen für den Betroffenen selbst.
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#52 Re: Die Früchte des Reduktionismus.

Beitrag von closs » Di 23. Dez 2014, 08:40

sven23 hat geschrieben:Aber die Wahrnehmung von Helligkeitsunterschieden ist subjektiv, weil unsere Gehirn immer die Umgebung mit einbezieht. (Relativität von Helligkeit)
Genau so ist es - das gilt auch für Dein neues angehängtes Bild - es geht um die Verstärkung von Kontrasten, um Kontraste zu betonen.

sven23 hat geschrieben:Aber die Wahrnehmung von Helligkeitsunterschieden ist subjektiv
Sogar intersubjektiv.

sven23 hat geschrieben:Holistisch betrachtet interpretiert das Gehirn falsch, reduktiv richtig.
Jetzt ist halt die Frage, was "richtig" und "falsch" überhaupt ist. - Natürlich sprechen die physikalischen Werte eine klare Sprache. Allerdings ist es einseitig interpretiert, wenn man deshalb von einer Täuschung des Gehirns spricht - denn es steht zu vermuten, dass das Gehirn das absichtlich macht, um einem komplexen Sachverhalt Rechung zu tragen, von dem der physikalische Messwert nur EIN Bestandteil ist.

Insofern würde ich anders bewerten: Das Gehirn "übersieht" absichtlich die physikalisch gleichen Werte, um eine situativ bessere Wahrnehmung zu ermöglichen.

sven23 hat geschrieben:Wer sich zu sehr auf das Sein fixiert, verliert leicht den Blick für das Dasein
Das würde ich exakt umgekehrt formulieren: Der Daseins-Konstellation wird Rechnung getragen - auf Kosten der Seins-Realität, dass es sich um einen identischen Farbwert handelt.

sven23 hat geschrieben:Da könnte man auch Parallelen zur Spiritualität/Transzendenz ziehen.
Ja - aber auch hier würde ich eine andere Perspektive vorziehen: Transzendente Wahrnehmung ist immer situativ und deshalb variabel, weil das Reflektierte selbst fix ist (Gott - auch wenn man ihn wahrnehmungs-mäßig nicht genau orten kann) - deshalb verschiedene Gleichnisse, Chiffren, situatives Verstehen, etc.

Eine Parallele zwischen a) komplexe Wahrnehmung (wie hier bei Deinen Beispielen) und b) transzendentem Denken scheint es auf jedem Fall zu geben: Der Reduktionist/Naturalist/Materialist betrachtet diese Fähigkeiten quasi als Täuschungen resp. Kollateralschäden der Evolution, während der geistige Mensch sie als das versteht, was den Menschen erst über den Computer erhebt. - Also eine diametral andere Einschätzung.

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#53 Re: Die Früchte des Reduktionismus.

Beitrag von sven23 » Di 23. Dez 2014, 09:36

closs hat geschrieben:Jetzt ist halt die Frage, was "richtig" und "falsch" überhaupt ist.

Richtig ist das, was der Fall ist, also in diesem Fall der gleichmäßige Grauwert des Balkens, der sich aber nur in der Reduktion zeigt. Im Umfeld, also holistisch betrachtet, erzeugt das Gehirn eine falsche Warhnehmung, die nicht der Realtität entspricht, es interpretiert also, ohne daß wir diese Interpretation auf Anhieb als Fehler erkennen. Es gaukelt uns eine falsche Realität vor.
Die Parallelen zur Esoterik sind unübersehbar.

Noch ein Beispiel:
Poggendorf-Täuschung

Nicht die schwarze, sondern die rote Linie ist die Verlängerung der blauen Linie. Auch hier liefert die Funktion "autovervollständigen" des Gehirns eine falsche Information.

Oder nehmen wir die Fraser-Spirale.
So sehr man sich auch bemüht: in der holistischen Betrachtung "sieht" das Gehirn eine Spirale. Es erkennt erst in der reduktiven Betrachtung, daß die Spirale eigentlich aus geschlossenen Kreisen besteht. Die Einbeziehung des Umfelds führt zu falschen Informationen.
640px-Fraser_spiral.svg.jpg
640px-Fraser_spiral.svg.jpg (123.06 KiB) 548 mal betrachtet
Quelle: Wikipedia

Die Holistik schafft hier eine neue "Realität", die so aber gar nicht existiert. Es ist eine Fehlinterpretation, die auf Anhieb als solche gar nicht erkannt wird. Parallelen zum Sein sind nicht rein zufällig.
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#54 Re: Die Früchte des Reduktionismus.

Beitrag von closs » Di 23. Dez 2014, 09:42

sven23 hat geschrieben: Es gaukelt uns eine falsche Realität vor.
Was die physikalische Mess-Realität angeht, ist das richtig. - Aber Mess-Realität kann - wie man sieht - holistisch in die Irre führen. - Was ist besser?

sven23 hat geschrieben:Parallelen zum Sein sind nicht rein zufällig.
Wenn es "Parallelen" zum Sein gibt, dann wäre das ja gut. - Die Herausforderung scheint mir hier zu sein, wie man reduktive und komplexe Realität jeweils bewertet. - Denn auch das Verhältnis von (hellem) Quadrat und (dunklem) SChatten des Zylinders ist physikalisch beschreibbar.

sven23 hat geschrieben:Die Einbeziehung des Umfelds führt zu falschen Informationen.
Möglicherweise gibt es in der Natur keine Konstellation, bei der verschieden große Kreise ineinander liegen - wahrscheinlich gibt es diese Konstellation nur als Spirale.

Natürlich kann sich komplexe Wahrnehmung auch im Einzelfall täuschen - aber das kann doch nicht dazu führen, das Reduktive an sich über das Holistische zu stellen. - Damit würde man den Menschen auf das Formal eines Computers oder eines Messgeräts reduzieren.

sven23 hat geschrieben:Die Parallelen zur Esoterik sind unübersehbar.
Hat damit überhaupt nichts zu tun - wenn "komplexe Wahrnehmung" identisch mit "Esoterik" wäre, müsste man jedem empfehlen, Esoteriker zu werden. ;)

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#55 Re: Die Früchte des Reduktionismus.

Beitrag von sven23 » Di 23. Dez 2014, 09:58

closs hat geschrieben:Was die physikalische Mess-Realität angeht, ist das richtig. - Aber Mess-Realität kann - wie man sieht - holistisch in die Irre führen. - Was ist besser?

Nicht die Mess-Realität führt in die Irre, sondern die alleinige holistische Betrachtung. Die Reduktion deckt die falsche Interpretation auf.


closs hat geschrieben: Möglicherweise gibt es in der Natur keine Konstellation, bei der verschieden große Kreise ineinander liegen - wahrscheinlich gibt es diese Konstellation nur als Spirale.

Nein, die Spirale gibt es gar nicht, sie ist eine Fehlinterpretion des Gehirns. Das Gehirn "sieht" etwas, was gar nicht da ist. Die Parallelen zur Transzendenz sind nicht zu übersehen.

closs hat geschrieben: Natürlich kann sich komplexe Wahrnehmung auch im Einzelfall täuschen - aber das kann doch nicht dazu führen, das Reduktive an sich über das Holistische zu stellen. -

Sagt doch auch niemand. Reduktion ist ein Werkzeug, um das Gesamtbild überprüfen zu können. Erst danach läßt sich beurteilen, ob das Gesamtbild korrekt ist.

closs hat geschrieben: Hat damit überhaupt nichts zu tun - wenn "komplexe Wahrnehmung" identisch mit "Esoterik" wäre, müsste man jedem empfehlen, Esoteriker zu werden. ;)

Niemand hat was gegen komplexe Wahrnehmung. Nur der Esoteriker verzichtet auf Überprüfung der Wahrnehmung. So entsteht Aberglaube. Das wäre ein interessantes eigenes Thema: Wie entsteht Aberglaube?
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#56 Re: Die Früchte des Reduktionismus.

Beitrag von Pluto » Di 23. Dez 2014, 10:53

closs hat geschrieben:Wenn Quadrat A und B physikalisch identisch sind, sind auch die Messwerte identisch. -Wie willst Du mit den Messwerten dem Umstand, dass die Quadrate in unterschiedlichen Kontexten stehen?
Das ist es eben. Der Kontext wird vom Gehirn selbst hinzu "konstruiert", obwohl er gar nicht vorhanden ist.
Nun verstehst du vielleicht warum ich ein so entschlossener Anhänger des kompromisslosen Konstruktivismus bin. Alles was wir erkennen wird durch die geistigen Vorgänge des Gehirns verarbeitet und interpretiert. Meist ist es richtig (sonst hätten wir als Art nicht überlebt), aber oft sind es Täuschungen. Letztere sind umso häufiger anzutreffen, wenn keine Referenz (Empirie) zum Vergleich herangezogen werden kann.

closs hat geschrieben:aber über die Messung von Temperatur = -5° C kannst Du nicht dem Umstand gerecht werden, dass ohne Wind (lange) keine Erfrierungen stattfinden, mit Wind dagegen sehr schnell. - Der Kontext macht es.
Nochmals, Nein. Unterkühlung ist ein rein physikalischer Vorgang. Es kommt nicht auf die Tempratur an, sondern auf die Schnelligkeit mit der dem Körper Wärme entzogen wird. Wind beschleunigt diesen Vorgang beträchtlich. Es ist nicht bloße Wahrnehmung, sondern hier bestätigt die Wahrnehmung die Physik — in diesem Fall ist es keine Täuschung!

closs hat geschrieben:das ist primär keine "Täuschung", sondern Verarbeitung auf einem Stockwerk höher.
Tja... Auf der "höheren Ebene" findet eine Konstruktion statt. Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass es sich dabei nicht um eine Täuschung handelt.

closs hat geschrieben:Sinnliche Wahrnehmung IST doch physikalische Wahrnehmung - nur hier eben komplex und nicht reduziert auf einen rechthaberischen Messwert.
Logisch ist sinnliche Wahrnehmung physikalisch. Nur die Weiterverarbeitung im Gehirn ist es nicht. In der Psychologie nennt man das was da abläuft nicht umsonst eine "Sinnestäuschung".

closs hat geschrieben:Der Sinn steckt nicht in der Messung - diese ist allenfalls ein Hilfsmittel für komplexe Wahrnehmung.
Die Messung ist ein unabhängiger Zugang zur Realität. Dieser ist offenbar weniger anfällig auf "Bestechung" als die Verarbeitung (Konstruktion) im Gehirn.

closs hat geschrieben:Fakt ist aber ebenfalls, dass sich der Stab einmal kalt und einmal warm anfühlt.
Nur wenn du Gefühle als Fakten definierst, was mir als eine sehr willkürlich Definition erscheint.

closs hat geschrieben:Tja - was ist Realität?
Wenn du in einem Gedankenexperiment Vorgaben zur Realität machst, dann muss man sich für das Experiment daran halten.

closs hat geschrieben:Eigentlich stimmt ja beides:
Niemals! Das wäre ein Ding der Unmöglichkeit.
closs hat geschrieben:Die Messungen sind un-täuschbar (darüber sind wir uns ja einig)
Richtig!
closs hat geschrieben:Die menschliche Wahrnehmung ist nicht notwendigerweise eine Täuschung, wenn sie eine Messung einem komplexen, situationsbezogenen Transfer unterordnet.
Das Gehirn (der Geist) erfindet offenbar den Bezug zur Situation. Es konstruiert falsch.

closs hat geschrieben:Nochmal die Frage: Sind Bilder von Pointillisten eine Täuschung des Gehirns?
Selbstverständlich, ja!
Die Fantasie des Betrachters wird durch die Kunst des Malers angeregt: Dem Betrachter wird also etwas suggeriert was gar nicht in den Punkten auf der Leinwand vorhanden ist. Das macht den Pointillismus gerade zur Kunst!
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#57 Re: Die Früchte des Reduktionismus.

Beitrag von Pluto » Di 23. Dez 2014, 11:37

closs hat geschrieben:es geht um die Verstärkung von Kontrasten, um Kontraste zu betonen.
Diese Kontraste sind aber in der Realität so nicht vorhanden. Ob das gut oder schlecht ist, hängt vom Kontext der Beobachtung ab. Es ist sicher richtig hundert mal einen Sägezahntiger zu vermutn, als einmal ihn nicht zu vermuten, wenn er tatsächlich in der Dunkelheit lauert.

Das Gehirn beobachtet etwas ungewohntes und versucht mit Hilfe seiner inneren Algorithmen einen Sinn aus der Beobachtung zu machen.
Meistens ist diese Verarbeitung sinnvoll, machmal aber völlig falsch — dann spricht man von Täuschungen.

closs hat geschrieben:Sogar intersubjektiv.
Da die Verarbeitungs-Algorithmen bei allen Menschen sehr ähnlich sind, ist es nicht anders zu erwarten, als dass wir alle denselben Täuschungen unterliegen.

closs hat geschrieben:Natürlich sprechen die physikalischen Werte eine klare Sprache. Allerdings ist es einseitig interpretiert, wenn man deshalb von einer Täuschung des Gehirns spricht - denn es steht zu vermuten, dass das Gehirn das absichtlich macht, um einem komplexen Sachverhalt Rechung zu tragen, von dem der physikalische Messwert nur EIN Bestandteil ist.
Aufgabe des Gehirns ist es, die Signale der Sinne zu interpretieren. Meistens gelingt das (evolutionsbedingt) auch völlig richtig. In manchen Fällen läuft eben die Interpretation in die falsche Richtung. Daher kommt auch der Ausdruck "Irren ist menschlich".

closs hat geschrieben:Insofern würde ich anders bewerten: Das Gehirn "übersieht" absichtlich die physikalisch gleichen Werte, um eine situativ bessere Wahrnehmung zu ermöglichen.
Meistens ist es auch besser, aber manchmal ist die holistische Betrachtung eben auch falsch.
Darum lohnt es sich immer, reduktiv zu arbeiten. Es hilft dann die holistische Sicht besser zu verstehen.

closs hat geschrieben:Transzendente Wahrnehmung ist immer situativ und deshalb variabel...
Ist doch gut so! :)
Aber in der Variabilität lauert auch die Gefahr. Deshalb ist es wichtig solche Wahrhemumgen möglichst in der Realität zu gründen, und da ist der reduktive Ansatz von unschätzbarem Wert.
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#58 Re: Die Früchte des Reduktionismus.

Beitrag von closs » Di 23. Dez 2014, 14:22

sven23 hat geschrieben: Die Reduktion deckt die falsche Interpretation auf.
Die Interpretation ist doch im Sinne der Fragestellung richtig - das Gehirn fragt doch nicht, ob beide Quadrate gleich oder unterschiedlich sind, sondern wie die Quadrate jeweils im Verhältnis zu sie jeweils betreffenden Licht und Schatten stehen.

Wir reden NICHT darüber, ob das Ergebnis der reduktiven Betrachtung physikalisch richtig oder falsch ist (es ist richtig), sondern bei welcher Fragestellung welche Antwort richtig ist. - Wir haben hier ZWEI unterschiedliche Fragestellungen (physikalisch - situativ), die jeweils richtig beantwortet werden. - Das Herunterbürsten der Wahrnehmung als "Täuschung" wäre nur dann richtig, wenn das Gehirn die beiden Quadrate vergleichen wollte - will es aber nicht.

sven23 hat geschrieben:Die Parallelen zur Transzendenz sind nicht zu übersehen.
Hat damit überhaupt nichts zu tun - hier geht es um verschiedene Fragestellungen innerhalb der naturalistischen Welt.

sven23 hat geschrieben: Reduktion ist ein Werkzeug, um das Gesamtbild überprüfen zu können. Erst danach läßt sich beurteilen, ob das Gesamtbild korrekt ist.
Nein - es ist ein Instrument, um mit dem Gesamtbild abzugleichen. - Stimmen reduktive und holistische Betrachtung nicht überein, muss man ganz neu nachdenken: Welche Betrachtung ist in dieser speziellen Situation vorzuziehen?

sven23 hat geschrieben:Wie entsteht Aberglaube?
Sicherlich nicht dadurch, dass das Gehirn Phänomene des Daseins komplex wahrnimmt.

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#59 Re: Die Früchte des Reduktionismus.

Beitrag von closs » Di 23. Dez 2014, 14:48

Pluto hat geschrieben: Der Kontext wird vom Gehirn selbst hinzu "konstruiert", obwohl er gar nicht vorhanden ist.
Ein Phänomen wird um einen Kontext ergänzt, damit sich ein Sinn daraus ergibt. - Das KANN schiefgehen, ist aber in der Regel eine kognitive Leistung, die der reduktiven Wahrnehmung überlegen ist.

Pluto hat geschrieben: in diesem Fall ist es keine Täuschung!
Schon verstanden - es ging hier darum, dass - 5° Celsius in einem Fall etwas anderes bedeuten als im anderen - eine reduktiv verengte Sichtweise reicht hier also nicht aus.

Pluto hat geschrieben:Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass es sich dabei nicht um eine Täuschung handelt.
Aber meistens funktioniert's halt. - Der lebenserprobte Mensch weiss ganz einfach, dass er bei - 5° nicht rausgeht, wenn es windet, weil er weiss, dass es dann sehr viel gefährlicher ist als bei Windstille und denselben - 5°. - Er überlegt nicht, ob es sich dabei um eine Täuschung handelt - er weiss es ganz einfach aus Erfahrung, auch wenn er nicht Physiker ist.

Pluto hat geschrieben: In der Psychologie nennt man das was da abläuft nicht umsonst eine "Sinnestäuschung".
Zu negativ, zu einseitig. - Ohne Wertung würde man sagen: "Das Gehirn macht den Job, für den es da ist: Es verarbeitet Sinneseindrücke situativ, also im Kontext". - Wenn der Kontext nahelegt, die beiden Quadrate unterschiedlich hell erscheinen zu lassen, kann es auch einen guten, überlegenen Grund haben.

Pluto hat geschrieben:Dieser ist offenbar weniger anfällig auf "Bestechung" als die Verarbeitung (Konstruktion) im Gehirn.
Dieser Zugang ist aber auch von Natur aus doof - man darf Messungen nicht zum Herrn, sondern muss sie zum Diener des Urteils machen.

Pluto hat geschrieben:Nur wenn du Gefühle als Fakten definierst
Interessante Frage: Wenn Menschen glaubwürdig (gar intersubjektiv) sagen, dass es die Realität des Wärme-Spürens oder Kälte-Spürens bei derselben Temperatur 10° gibt: Wie nennt man das? - "Gefühl" ist mir zu wenig - "Gefühl" klingt zu sehr nach: "Ich bin in Olga aus dem Nachbarhaus verliebt".

Pluto hat geschrieben:Wenn du in einem Gedankenexperiment Vorgaben zur Realität machst, dann muss man sich für das Experiment daran halten.
Das stimmt, wenn man "Realität" als das definiert, was reduktiv messbar ist - altes Thema.

Pluto hat geschrieben:Das Gehirn (der Geist) erfindet offenbar den Bezug zur Situation. Es konstruiert falsch.
Nein - es erkennt den Bezug und konstruiert deshalb richtig. - Das ist die Regel - die Ausnahme kann sein, dass sich das Gehirn aufgrund ein gängigen Analogie hinters Licht führen lässt. - Aber im Normalfall ist die Bezugs-Verarbeitung eine anspruchsvollere Wahrnehmungs-Form als die Messung.

Pluto hat geschrieben:Dem Betrachter wird also etwas suggeriert was gar nicht in den Punkten auf der Leinwand vorhanden ist.
OK - und eine Person, die auf diesem Weg suggeriert wird, wird intersubjektiv wahrgenommen. - Der Mensch ist also in der Lage, intersubjektiv aus unvollständigen, angedeuteten Mustern (dazu gehört auch der "lila Kreis") einen Sinn zu erkennen. - Wie siehst Du eigentlich Karikaturen: 5 oder 8 Linien - und schon erkennst Du Helmut Schmitt oder Angela Merkel. - Sinnestäuschung?

Pluto hat geschrieben:Meistens ist diese Verarbeitung sinnvoll, machmal aber völlig falsch — dann spricht man von Täuschungen.
Genau so. - Warum wäre es dann eine Täuschung, wenn er in dem "lila Kreis" einen Kreis erkennt? Wenn die Pixel so angelegt sind, dass dies naheliegt, ist es doch keine Täuschung. - Noch weiter: Auch eine mit dem Bleistift gezeichneter Kreis besteht mikroskopisch aus Pixeln? Täuschung, wenn man darin einen Kreis erkennt?

Pluto hat geschrieben: In manchen Fällen läuft eben die Interpretation in die falsche Richtung.
Das kann schon sein: Aber würdest Du - eine biblische Analogie - Dein "Erstgeburtsrecht" der geistigen Urteilskraft eintauschen gegen das "Pflaumengericht" der bewusstlosen Messbarkeit?

Pluto hat geschrieben:Darum lohnt es sich immer, reduktiv zu arbeiten. Es hilft dann die holistische Sicht besser zu verstehen.
Da sind wir uns einig: Zwei Perspektiven schaden nicht vor einer eindgültigen Entscheidung.

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#60 Re: Die Früchte des Reduktionismus.

Beitrag von Pluto » Di 23. Dez 2014, 14:59

closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben: Die Reduktion deckt die falsche Interpretation auf.
Die Interpretation ist doch im Sinne der Fragestellung richtig.
Wie dass denn?
closs hat geschrieben:das Gehirn fragt doch nicht, ob beide Quadrate gleich oder unterschiedlich sind, sondern wie die Quadrate jeweils im Verhältnis zu sie jeweils betreffenden Licht und Schatten stehen.
Das ist die Wahrnehmung. Die Wirklichkeit ist eine andere. Die Täuschung entsteht aus dem Auseinanderklaffen von Wahrnehmung und Realität.

closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben: Reduktion ist ein Werkzeug, um das Gesamtbild überprüfen zu können. Erst danach läßt sich beurteilen, ob das Gesamtbild korrekt ist.
Nein - es ist ein Instrument, um mit dem Gesamtbild abzugleichen.
Das scheint mir ein Streit um des Kaisers Bart zu sein. Im Grunde seid ihr euch einig, dass Reduktion ein Werkzeug, bzw. Instrument der Analyse sist.

closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:Wie entsteht Aberglaube?
Sicherlich nicht dadurch, dass das Gehirn Phänomene des Daseins komplex wahrnimmt.
Wirklich? Bist du dir da ganz sicher?
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

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