sven23 hat geschrieben:Novalis hat geschrieben:
Es ist interessant, dass Jesus niemals die Frage nach der Existenz Gottes zur Debatte stellt. Stattdessen lebt er aus der Beziehung mit seinem Vater. Die Frage ob diese Beziehung echt ist, ob er authentisch oder nur ein armer Irrer ist, das überlässt er uns.
Zumindest glaubte Jesus, dass "sein Vater" die Gottesherrsschaft auf Erden errichten würde (gemäß jüdischer Tradition), und dass dieses Ereignis unmittelbar bevorstand
Dir ist sicher selbst vollkommen bewusst, dass diese Aussagen vollkommen unterschiedlich interpretiert werden können. Jesus sagte auch, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist, dementsprechend ist das Reich Gottes spirituell zu verstehen. Im apokryphen Thomasevangelium heißt es in Logion 113 dazu ganz passend:
„Das Königreich des Vaters ist ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht.“
Zu beachten ist auch, dass Jesus kein systematischer Theologe war. Erst nach seiner irdischen Lebzeit haben Menschen versucht eine jesuanische Theologie auf den Begriff zu bringen. Das Reich Gottes ist ein mystischer Begriff, der auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden kann: in der Vergangenheitsform, in der Gegenwartsform und der Zukunftsform im Sinne einer sich realisierenden Eschatologie. Als Bedingung für das Sehen des Reiches sagt er, dass der Mensch von neuem aus dem Geist geboren werden müsse (Joh 3,1-8). Das passt zu der Aussage des Thomasevangeliums: das Königreich des Vaters ist jetzt schon hier, aber die Menschen sehen es nicht, solange sie nicht von neuem aus dem Geist geboren wurden.
Das entspricht der Auffassung der christlichen Mystik, wie sie Meister Eckhart vertrat, der die Nähe des Reiches Gottes nicht zeitlich, sondern viel mehr zeitlos auffasste. Im Lukasevangelium verkündigt Jesus:
das Reich Gottes ist in euch (Lk 17,21) ~ hier dazu die Erklärung vom Meister:
„Gott ist mir näher, als ich mir selber bin […] In welcher Seele ‚Gottes Reich‘ sichtbar wird und welche ‚Gottes Reich‘ als ihr ‚nahe‘ erkennt, der braucht man nicht zu predigen noch Belehrung zu geben: sie wird dadurch belehrt und des ewigen Lebens versichert. Wer weiß und erkennt, wie ‚nahe‘ ihm ‚Gottes Reich‘ ist, der kann mit Jakob sagen: ‚Gott ist an dieser Stätte und ich wußte es nicht‘ (1Mos. 28, 16); nun aber weiß ich’s.“
– Meister Eckhart, Predigt 36
und Johannes Tauler sagt, dass das Reich Gottes
„[…] in dem innersten, allerverborgensten, tiefsten Grund der Seele ruhe […]“ (Predigten)
Der einzige Unterschied zwischen uns ist: ich weiß und sehe es und lebe mit diesem Bewusstsein und Du weißt und siehst es nicht

Das alleine führt zu einem vollkommen unterschiedlichen Verständnis der biblischen Texte. Der Mensch kann das Reich Gottes nur erkennen, wenn er die von Jesus geforderte Umkehr/innere Wandlung (Metanoia) vollzieht. Vergleichbare Vorstellungen finden wir ebenso in anderen Religionen. Beispielsweise gibt es im Yoga die Vorstellung, dass nur ein Gottgeweihter die Bhagavad gÄ«tÄ (sozusagen die indische Bibel) verstehen und richtig auslegen kann.