sven23 hat geschrieben:Wenn man mal begriffen hat, daß es im religiösen Bereich sowieso keine absoluten Wahrheiten gibt, sondern alles Ansichtssache ist, ist man schon ein gutes Stück weiter.
Es gibt eine relative Seinsebene und eine absolute Seinsebene. Die Vielfalt der Wahrnehmungen zeigt, dass es ein paradoxes Miteinander dieser Ebenen gibt, und ich halte es für richtig, diese Gleichzeitigkeit zuzulassen, zu bejahen und zu entdecken. Andererseits verneine ich die einseitige Überbetonung einer der beiden Ebenen, ob das nun die relative oder die absolute ist.
Für einen spirituellen Geist ist das miteinander dieser beiden Dimensionen der Bewusstheit selbstverständlich, während es viele andere Menschen, als "anmaßend" empfinden überhaupt den Versuch zu starten, das Absolute zu beschreiben oder - wie es im Zen heißt - in das tiefere Sein oder die Realität des reinen Gewahrseins "durchzustoßen". Die Frage ist selbstverständlich: kann der Mensch das überhaupt? (Da finde ich in der Philosophie den Diskurs zwischen Hegel und Kant sehr interessant, da braucht man aber starke Nerven und eine gewisse literarische Tapferkeit

) Ich beantworte diese Frage gerne mit einem großen Ja, denn es haben - im Abstand von Jahrhunderten, in unterschiedlichsten Kulturen und Religionen oder ganz unabhängig von einer Tradition einzelne freie Geister besondere Erfahrungen eines befreiten oder erweiterten Bewusstseins gemacht und sind dabei zu ähnlichen Einsichten und Beschreibungen gekommen. Auch von atheistischer Seite gab es immer wieder Erfahrungen von "Erleuchtung", zum Beispiel wenn wir Friedrich Nietzsche oder Robert Musil betrachten. Da finden wir in der Literatur sehr viele erhellende Einsichten und eine riesige Schatzkammer von Inspiration. Es braucht in Wahrheit keine religiöse Orientierung, um eine mystische Erfahrung, Einssein oder sogar eine "Gotteserfahrung" zu haben. Es gibt Menschen denen das ganz spontan widerfahren ist. Der übliche Weg ist jedoch eine (in den meisten Fällen jahrelange) spirituelle Übungspraxis oder ein achtsamer, überlieferter Glaubensweg (und alles Weitere ist Glück oder Gnade, wie man so schön sagt).
Grundsätzlich möchte ich drei Anregungen geben:
* wir können versuchen die relative Wahrnehmung der Welt - wie sie uns üblicher Weise erscheint - zu durchschauen, um so tiefere Seinserfahrungen zu machen.
* Die große Möglichkeit ist das Erkennen des unveränderlichen, ewigen und absoluten Seins, deren gemeinsame Einsicht in den großen Weisheitslehren bisher immer war: ALLES IST GEIST /BEWUSSTSEIN. Das braucht niemand zu glauben, aber das kann jeder für sich selbst entdecken, wenn er dazu bereit ist (oder auch dem widersprichen, wenn es beliebt

)
* Außerdem ist es möglich das relative Sein, als eine Spielweise des Absoluten Seins zu erfahren. Beide Ebenen sind nicht getrennt voneinander, sondern vollkommen eins, nur betrachtet unsre übliche, konditionierte dualistische Wahrnehmung lediglich einen kleinen Ausschnitt des Großen Ganzen und "zensiert" gewissermaßen den gigantischen Rest. Jeder geistliche Weg versucht diese individuellen Ausschnitt eins werden zu lassen mit dem Großen Ganzen, bzw. zu entdecken, dass schon immer Einssein existiert hat und Geist oder Bewusstsein schon immer existiert hat und mit diesem Großen Ganzen identisch ist (denn wenn alles "eins" ist, dann kann das individuelle Sein nicht "geistvoller" Sein, als das Große Ganze, es ist dann viel mehr das individuelle eine Spielart des Ganzen, wie das Wellenspiel eine Spielart des ganzen Ozeans) Es gibt verschiedene Beschreibungen für diese "Erste" oder "Letzte" Wahrheit, das Ewige, welches allem zutiefst zueigen und zugrunde liegt - und doch wurde von allen Weisen immer betont: wir können es nicht beschreiben, wir können uns diesem Großen Ganzen annähern, eine liebevolle Beziehung zu ihm aufbauen, es immer weiter erforschen und "eintauchen", aber es bleibt unbegreiflich, sowie das gesamte Leben ein ewiges Mysterium ist.
Dennoch erlaube ich mir - als Christ - vom göttlichen Du, vom liebenden Vater und meiner geistlichen Gemeinschaft mit ihm zu sprechen. Denn diese Worte fassen die Intimität und Schönheit, die Beziehung des Einzelnen zum Ganzen in die (meines Erachtens) richtigen Worte.