sven23 hat geschrieben: ↑Sa 17. Apr 2021, 11:42ie Perspektive des anderen einzunehmen ist ja grundsätzlich ein guter Ansatz. Aber auch das hat seine Grenzen. Mir fehlt die Phantasie, mich in die Perspektive eines Nazis zu versetzen oder eines Artzes, der behauptet, es gäbe überhaupt keine Masernviren.
Sicher gibt es Grenzen. Natürlich. Ich werde das jetzt nicht ausführen. Aber innerhalb dieser Grenzen denke ich, ist es kein Schaden, sich zu bewegen. Einfach im Interesse einer gesunden, freundlichen und positiven Zwischenmenschlichkeit.
Ich kenne keinen Menschen, der nicht irgendwelche tatsächlich irrigen, falschen Ansichten im Kopf hat. Mich selbst nicht ausgenommen. Na und? Schmälert das den Wert oder die Glaubwürdigkeit? Grundsätzlich nicht - denke ich. Ich gehe immer davon aus, dass jeder Mensch seine Gründe hat für das, was er denkt, glaubt, versteht, wie er es versteht, wem er vertraut und wem nicht. Sicher gibt es objektive Kriterien, anhand denen man sich orientieren kann: Ausbildung, Werdegang, Expertise etc. etc...
Aber selbst einer, der sich wie ein "Spinner" benimmt, der vielleicht einen geringen "IQ" hat, der vielleicht Legastheniker ist oder stottert, selbst so ein Mensch ist wertvoll und ich denke, dass es keinen Sinn macht, ihn einfach wegzuschieben und herabzuwürdigen. Natürlich muss man selektieren. Aber warum muss man gehässig und abwertend werden. Warum kann man auch solche Menschen nicht zumindest in ihrer Emotionalität ernst nehmen und es dabei belassen, wenn man sich nicht weiter damit befassen will?
Du sprichst das Thema "Drittes Reich" an. Das ist ein sehr emotionalisierendes Thema. Man kann darüber schlecht reden, wenn nicht eine Mehrheit in die gleiche Richtung denkt und empfindet. Ich war immer der Ansicht, dass auch die Menschen, die damals gelebt haben, es verdient haben, nicht vorverurteilt und in eine Schublade gesteckt zu werden. In dem Moment, in dem es laut und aggressiv wird, ist es ein Konflikt. Was bringt das? Wenn ich mich mit Geschichte befasse, dann will ich nicht Partei ergreifen sondern will verstehen, was wirklich geschah. Und das ist nun mal nicht möglich, wenn man emotionalisiert, parteiisch und voreingenommen ist.
Stelle Dir mal vor, Du hast eine Zeitmaschine. Du willst nun etwas über die Zeit zwischen 1933 - 1945 erfahren. Du setzt Dich in die Maschine, stellst das Zieldatum auf den Januar 1930. Zielort: Berlin. Du kleidest Dich vorher passend, bringt einen Haufen Scheine aus der Zeit mit. Und jetzt durchlebst Du diese Zeit. Die politische Wende. Einfach alles, bis zum bitteren Ende. Du bist mittendrin. Ein Teil davon. Du lebst in Familien. Du knüpfst Freundschaften. Du arbeitest auch - einfach nur, um die Zeit zu erleben. Wie wirst Du dann am Ende des Krieges oder sagen wir besser noch bis zur Spaltung des Landes diese Zeit und dieses Land und die Menschen beurteilen?
Wirst Du bei Deinen Ansichten bleiben? Natürlich nicht. Du hast es dann selbst erlebt. Dann weißt Du, welcher Geist damals wehte. Und Du wirst ein tiefes Verständnis haben. Das ist es, was ich meine, worum es geht. Es gab damals Menschen, die wie Tiere waren. Es gab Antisemitismus. Es gab die Shoah. Es gab Greueltaten. Aber das ist nur ein Teil des Ganzen. Das waren Menschen, und es geht m.E. nicht darum, ob sie dem Falschen folgten oder das Falsche dachten, sondern darum, was sie glaubten, wem sie vertrauten und warum das so war.
Es ist nichts dabei, sich in die Perspektive eines Menschen der damaligen Zeit zu versetzen. Es muss nicht unbedingt ein Gewalttäter sein, ein brutaler, derber Anhänger der NSDAP. Es geht nicht darum, zu verurteilen, was zu verurteilen ist. Sondern darum, die Dinge zu sehen, wie sie waren und trotz allem eine respektvolle, menschenachtene Haltung einzunehmen. Man kann viel über den Menschen lernen, wenn man sich darum bemüht, sich seiner Perspektive anzunehmen, auch wenn sie konträr ist. Man kann dabei seine eigene Haltung sehr gut bewahren oder sogar vertiefen und bereichern.
Und wenn jemand zB sagt: Es gibt keine Masernviren. Dann frage ich ihn: Wie kommst Du darauf? Wer sagt das? Bitte nenne mir Quellen. Erzähle mir davon. Oder ich lasse es bleiben aber dann lasse ich es so stehen. Ich kann meine eigene Ansicht dabei behalten: Natürlich gibt es Masernviren. Aber ich muss nicht aggressiv und belehrend werden. Warum sollte man das sein? Was bringt das? Wird ein Mensch seine Ansicht ändern, wenn man ihn anpöbelt oder sich über ihn lustig macht? Im Gespräch kann man dann klar sagen: Ok, ich verstehe nun, warum Du so denkst. Aber ich sehe es anders. Man kann es begründen. Man kennt die Quellen, die Gründe und dann kann man sagen: Das ist falsch m.A.n. aus dem und dem Grund. Oder: Das glaube ich nicht. Was auch immer. So geht man dann auseinander - die Würde des anderen achtend. Der andere kann ausfallend werden - davon muss man sich nicht herunterziehen lassen. Aber ich bin fest davon überzeugt, wer einem Menschen mit Respekt begegnet, der wird normalerweise eine entsprechende Reaktion erleben.
Also auch hier wieder das Thema: Menschlichkeit, Zwischenmenschlichkeit, geistige Haltung, Umgangsformen etc. etc...