Es ist verständlich, dass der Gedanke an Impfprivilegien einen faden Beigeschmack hat, vor allem im Kontext einer derart vergifteten Debatte und einer chaotisch wirkenden Impfstrategie.
Wenn ich davon und auch vom emotionalen Ballast des Wortes "Privileg" Abstand nehme, dann denke ich, ist ein derartiger Ansatz richtig.
Die Frage ist ja nicht, ob wir jetzt alles für alle aufmachen oder erstmal nur für Geimpfte/Immune. Klar wäre ersteres wünschenswert, aber es ist eben nicht realistisch, dass das zeitnah passiert. Konzerte in irgendwelchen Kellerclubs mit 150 Ungeimpften wird es so schnell nicht geben. Es ist also vielmehr eine Frage ob man jetzt erstmal für Geimpfte/Immune aufmacht oder ob man wartet, bis Inzidenz so niedrig bzw. Anteil der Geimpften/Immunen so hoch ist, dass man statistisch gesehen gute Chancen hat, dass bei solchen Veranstaltungen ein geringes Ansteckungsrisiko besteht und man wieder für alle aufmachen kann. Bis das dann soweit ist, hast du aber Menschen (und zwar täglich zunehmend), die sich, meiner Ansicht nach zurecht fragen
"Aber ich bin doch schon geimpft, warum darf ich dann nicht X machen?" und es gibt vor allem Veranstalter etc, die sich zurecht fragen
"Die Geimpften sind doch da, warum können wir nicht mit diesen Leuten arbeiten? Warum müssen wir warten, bis wieder für alle aufgemacht wird?"
piscator hat geschrieben: ↑Mi 24. Feb 2021, 10:22
Gehen wir mal davon aus, dass es irgendwann gelingt, Gelähmte heilen zu können. Müssen dann Geheilte trotzdem im Rollstuhl sitzen bleiben, bis auch der letzte Gelähmte geheilt ist?
Ist man nicht eigentlich genau dafür, wenn man dagegen argumentiert, dass Geimpfte bestimmte Sachen schon früher machen dürfen? Die Geheilten könnten schon laufen, müssen aber warten, bis alle geheilt sind.
Natürlich fühlt es sich mies an, wenn man selbst zu denen gehört, die dann noch nicht teilhaben dürfen. Ich mache mir keine Hoffnung, dass ich noch in diesem Halbjahr geimpft werde, natürlich wäre ich irgendwie angefressen, wenn ich bestimmte Angebote nicht wahrnehmen dürfte. Klar. Aber man sollte aufpassen, dass man da nicht gedanklich ins "Wenn nicht ich, dann auch kein anderer" abkippt. Ist es mir wirklich lieber, wenn bestimmte Bereiche des öffentlichen Lebens für alle geschlossen bleiben und Leute noch einmal einige Monate ohne Einnahmen bleiben? Sicherlich nicht.
Das Problem ist die Optik.
Lena hat geschrieben: ↑Mi 24. Feb 2021, 11:15
Nein, dieser indirekte Impfzwang, ist gegen die Würde des Menschen.
Natürlich drängt sich sofort ein derartiger Gedanke auf, das kann ich total verstehen. Aber ist es wirklich so, wie hier beschrieben? Ist es ein indirekter Zwang, ist es gegen die Würde?
Unmoralisch auch, wenn man bedenkt, dass die ganze Welt Strassenverkehr
zulässt, obwohl er unzählige, junge Menschen in den Rollstuhl befördert, oder zum Tode führt.
Ich tu mich schwer, nachzuvollziehen, wie der Vergleich zum Straßenverkehr die Unmoralität von Impfprivilegien deutlich macht? Kannst du das vielleicht noch einmal ausführen?
Ich persönlich würde eher sagen, dass der Vergleich zum Verkehr geeignet wäre, die vorherige Aussage hinsichtlich Zwang und Würde in Frage zu stellen.
Es gibt in Deutschland keinen Zwang seinen Führerschein zu machen, kein Gesetz, das besagt, dass jeder Bürger einen Führerschein besitzen muss. Aber ich brauche einen Führerschein, wenn ich (legal) ein Auto, Motorrad etc fahren möchte. Warum? Weil ich am Steuer eines Fahrzeugs ein Risiko für mich und - wichtiger - meine Mitmenschen, ob nun Mitfahrer oder andere Verkehrsteilnehmer, darstelle. Das heißt ich muss erst einen Nachweis für eine erfolgreiche Ausbildung erbringen, die darauf ausgelegt ist, dieses Risiko zu senken.
Aber Moment, werde ich nicht in meiner Freiheit eingeschränkt, wenn mir ohne diesen Nachweis verwehrt wird, ein Auto zu fahren? Gibt es etwa einen indirekten Führerscheinzwang und wenn ja, ist dieser gegen die Würde des Menschen? Wo ist der Aufschrei gegen Führerscheine?
Natürlich sind Führerschein und Impfnachweis nicht exakt das Gleiche, aber grundverschieden sind sie als "Risikoreduktionsnachweis" auch nicht. Nur wird ein Impfnachweis deutlich kontroverser aufgefasst und ich kann mir vorstellen, dass das nicht unwesentlich daran liegt, weil wir das System mit Führerschein gewohnt sind. Man könnte sich als Gedankenspiel ja einmal eine Welt vorstelllen, in der alle Autos autonom fahren, der Mensch selbst keine Ahnung mehr von Verkehrsregeln hat und in der es plötzlich zu Problemen mit dem Server oder so kommt und man vor dem Problem steht, dass man den Verkehr nicht vollkommen stilllegen kann, aber wenn man die Leute selbst fahren lässt, wäre es vielleicht sinnvoller, wenn sie erst nachweisen müssen, dass sie das auch irgendwie ein bisschen beherrschen und keine erhöhte Gefahr für sich und andere darstellen. Dann kann man sich fragen, wie in dieser Welt das Konzept eines Führerscheins, das wir hier größtenteils als "selbstverständlich sinnvoll" bezeichnen würden, aufgrund der Abweichung vom status quo aufgefasst werden würde. Ich könnte mir vorstellen, dass in so einer Welt dann auch schnell mit Begriffen wie
orwellian polemisiert wird.
Lena hat geschrieben: ↑Mi 24. Feb 2021, 17:32
Warum soll dieser Vergleich unangemessen sein?
Weil man, um beides (Umgang mit Juden und Umgang mit Ungeimpften) auf ein vergleichbares Level bringen zu können, entweder einen absurd drastischen Umgang mit Ungeimpften in Aussicht stellen oder das (v.a. historische) Ausmaß des Antisemitismus in der Welt herunterspielen müsste. Ansonsten bleibt ein schwer überwindbarer qualitativer Graben. Ungefähr so wie zwischen Jana aus Kassel und Sophie Scholl.
Dieser Kommentar wurde von einem heimlich bescheidwissenden und unglaublich boshaften Hund mit finsterer Seele, zerfallenem Geist und Aussicht auf finanziellen Gewinn verfasst.