Mirjam hat geschrieben: ↑Lass mich von unten anfangen... konstruieren wir uns nur "unser eigenes Ägypten"?
Ja, in einem gewissen Maße schon. Das ist unvermeidlich.
Die Geschichtswissenschaft insgesamt ist sich heute zum Glück bewusst, wie schwierig- wenn nicht gar unmöglich - eine objektive Auswertung der historischen Quellen und
Überreste ist. So, wie alles andere in der Welt, bewerten wir natürlich auch die Geschichte immer im Kontext unserer eigenen Prägungen und Vorurteile.
Das hört sich gut an, denn meine Fragen zielten auch daraufhin, wie selbstbewusst die Wissenschaft sich positioniert.
Dein Hinweis "ist sich heute zum Glück bewusst" weckt in mir den Eindruck, dass dies nicht unbedingt immer so war und da wohl etwas überwunden werden musste, nennen wir es eine "ungerechtfertigte Meinungsverfestigung".
Wenn ich also davon ausgehe, dass es in der Ägyptologie eine gewisse Vorsichtsanpassung, bezüglich der eigenen Qualität gab,
wie würdest du es in anderen Bereichen einschätzen, z.B. Richtung der Erforschung des "Neuen Testaments" - mich würden hierzu zwei Fragen interessieren (siehe unten)
In Bezug auf Ägypten liegen viele Schriftstücke vor, aber es ist auch ein grosser Zeitraum.
In Bezug auf das Neue Testament und damit das erste Jahrhundert, liegt im Grunde ein Bibel-Text vor (Wundertext in vielen Abschriften) und daneben gibt es die "Flavius Josephus"-Texte.
Mir ist unbekannt, wie die ägyptischen Texte von der Motivation her eingeschätzt werden, aber die Bibel-Texte sind klar als religiös propagandistisch (Wunder) einzuordnen und die Flavius-Josephus-Texte klar als Rom-propagandistisch.
Wenn du vergleichen müsstest:
einmal die Rekonstruktion eines ägyptischen Zeitraumes (ein Jahrhundert für das Texte vorliegen, gerne das erste Jahrhundert) mit
der Rekonstruktion des ersten Jahrhunderts im nahen Osten (Israel) aus den propagandistischen Texten.
Frage 1:
=> hat man es bei ägyptischen Texten auch mit einem Propaganda- und Wunder-Problem zu tun, ist es also ein Wagnis, die Vergangenheit entlang dieser Texte zu entwerfen?
Frage 2:
=> würdest du es in Bezug auf das "Neue Testament" als Argument gelten lassen, wenn gesagt wird "alle Forscher sind sich einig" oder
würdest du sagen "nö, unsere Bewusstseinsänderung bzgl. der Gültigkeit unserer Auswertung, verbietet ein derartiges Argument" (insbesondere bei Porpaganda- und Wunder-Texten)?
(klar, ich frage natürlich, weil ich mir zum ersten Jahrhundert eigene Gedanken mache, diese von den Forschern abweichen und ich damit gegen "alle Forscher sind sich einig" positioniert bin)
Mirjam hat geschrieben: ↑Mit der Überarbeitung älterer Übersetzungen, dem Fund und der Auswertung neuer Texte und dem Fortschreiten der
wissenschaftlichen Methoden wird immer wieder neu in Frage gestellt, was wir über Ägypten zu wissen glauben. Und das ist sehr gut so, denn dadurch werden allzu gewagte Interpretationen systematisch geprüft und hinterfragt.
Auch das klingt sehr gut und müsste die Qualität der Forschung und die der Ergebnispräsentation (denn dort müsste im Grunde die Unsicherheit transportiert werden) verbessern.
Mirjam hat geschrieben: ↑Können wir uns überhaupt über irgendetwas sicher sein? Nun ja, wir haben zumindest einiges mehr an Quellenmaterial als in den meisten anderen Kulturen der Bronzezeit.
Wir haben so viele ägyptische Texte, dass die Entschlüsselung der Sprache relativ vollständig ist.
Durch die Vielzahl an Belegstellen für ein einziges Wort oder eine grammatische Form kann man jeden Übersetzungsvorschlag mehrfach überprüfen. (dazu gibt es inzwischen auch eine Belegstellendatenback online, den Thesaurus Linguae Aegyptiae unter
http://aaew.bbaw.de/tla/servlet/TlaLogin )
Das hält die Ägyptologie natürlich nicht davon ab, das Bedeutungsspektrum und die beste Übersetzung eines einzelnen Begriffs in endlosen Fachartikeln zu debattieren... und wiederum, das ist auch gut so.
Es ist beeindruckend welch ein Geschichtsschatz hier vorliegt.
Die Debatte ist auch sehr wertvoll, denn letztlich geht das Verständnis der Schrift-Aussagen aus meiner Sicht auf eine Art "Mustererkennung" zurück, d.h. unser Wissen umfasst Zusammenhänge, die irgendwie schon einmal in einem Schriftstück/Statue/Relief aufgebaut werden konnten.
Mirjam hat geschrieben: ↑Klar, ein Interpretationsspielraum bleibt immer. Aber was meinst du mit "aktivem Umgang"?
Mit "aktivem Umgang" ziele ich darauf ab, dass wir ein Art "Lese-Verständnis" haben, aber kein wirkliches "Interaktions-Verständnis".
Angenommen wir könnten beide in die Zeit des alten Ägyptens (klar der Zeitraum ist riesig) zurückspringen und du müsstest einem Eingeborenen einen relativ komplizierten Auftrag geben, wie gross wäre dein Lampenfieber, dass er das dann auch tatsächlich genauso versteht?
(klar, das kommt natürlich auf den Auftrag an)
Mirjam hat geschrieben: ↑Da wir die Texte lesen können, müssen wir uns zumindest nicht zu jedem Kunstwerk eine Geschichte frei ausdenken, wir können es einfach in den Worten der Vorfahren nachlesen. Praktischerweise sind fast alle Wandbilder und viele Statuen beschriftet (ich halte die Ägypter für die Erfinder des Comics: die Reliefs enthalten sowohl "Sprechblasen" als auch kommentierende Beischriften)
Das ist ein grosses Pfund, denn ich habe mir vorgestellt, dass man in so einem Relief (oder Kunstwerk) einzelne Figuren entdeckt, an Hand der relativen Grösse und ihrer Tätigkeit auf ihre Funktion schliesst und eine "Gott/Pharao X besteht hier das Abenteuer Y"-Aussage aufbaut.
Mirjam hat geschrieben: ↑Dabei hat die Hieroglyphenschrift, im Gegensatz zur hieratischen Schreibschrift, niemals ihren Bildcharakter ganz verloren und steht immer in unmittelbarer Beziehung zu Bild oder Statue. Beispielsweise kann man bei den "Sprechblasen" erkennen, wer angesprochen wird - denn die Leserichtung ist so gewählt, dass sie auf die Zielfigur passt. Wenn sich also im Tempelrelief ein König und eine Gottheit gegenüberstehen, so ist die Beischrift des Königs auf den Gott, und die des Gottes auf den König gerichtet.
Das ist kurios.
D.h. die Ägypter haben auf eine enorme Informationsklarheit gesetzt, nicht schlecht.
Mirjam hat geschrieben: ↑Worauf ich damit hinaus will? Eigentlich dies: Wenn ich ein ägyptisches Kunstwerk oder einen Text interpretiere und dabei eine gewollten Mehrdeutigkeit oder einen hintergründigen Symbolgehalt postuliere, dann mag ich mit meiner Deutung im Detail falsch liegen, aber nicht damit, dass es einen Symbolgehalt gibt.
OK, man ist sich sicher, dass eine Informationsdarstellung auf Symbolbasis vorliegt, nur was die konkrete Aussage ist, kann debattiert werden.
Mirjam hat geschrieben: ↑Denn eine Kultur, die ihre Schrift aus Rebusrätseln entwickelt hat und diese komplexe, bildhafte Form der Schrift über 3000 Jahre beibehält OBWOHL ein viel simpleres Konsonantenalphabet vorhanden war (und zum buchstabieren von Fremdworten benutzt wurde)... eine solche Kultur wird mit Sicherheit Texte und Kunstwerke hervorbringen, die auf mehreren Ebenen wirken.
Dieser Schluss ist wahrscheinlich und plausibel, aber für wie bedeutend würdest du ihn im Hinblick auf das Verständnis der Vergangenheit einschätzen?
So eine Ebenendedeutung könnte eine relativ nachhaltige Auswirkung haben.
Mirjam hat geschrieben: ↑Übrigens gibt es eine Theorie wonach unser heutiges Alphabet in seiner urtümlichsten Form aus Ägypten stammt, wenn auch nicht von den einheimischen ÄgypterInnen. Die Wadi el-Hol Inschriften lassen den Schluss zu, dass levantinische Einwanderer aus einigen Einkonsonantenzeichen (eine Klasse von Hieroglyphenzeichen) ihr eigenes Alphabet zusammensetzten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wadi-el-Hol-Schrift
Das würde mir sogar gefallen.
Darf ich zum Abschluss sagen, dass ich gerade ganz schön schwer beeindruckt bin - keine Ahnung, wie ich aus diesem Zustand wieder rauskommen soll
