In der Folge des akademischen Einflusses der (vor allem französischen und später us-amerikanischen) Postmoderne, die ihre Hochzeit in den 1990er Jahren hatte und sich gerne auf Friedrich Nietzsche (Nietzsches Artistik und Perspektivismus), auf den späteren Heidegger und Georges Bataille zurück bezieht, hat sich im Gegenwartsdenken und auch in den Geisteswissenschaften und den Sozialwissenschaften der Gedanke in den Köpfen eingenistet, es gäbe keine Wahrheit (= Wahrheitsrelativismus), Wahrheit sei nur eine Frage der Perspektive (= Perspektivismus) oder Wahrheit sei stets vom Kontext abhängig, in dem sie behauptet wird (=Kontextrelativismus), ja, es dürfe gar keine Wahrheit geben, weil dies immer schon einer Art Herrschaftsanspruch gleichkäme.lovetrail hat geschrieben: ↑Mi 6. Nov 2019, 08:57Klärt mich mal auf: Da sind also Philosophen, die nicht glauben können dass Wahrheit perspektivisch ist, bzw immer im Lichte von bestimmten Grundannahmen zu verstehen ist?
Hat die Philosophie mittlerweile so abgewirtschaftet bzw liegt sie mittlerweile mit der Naturwissenschaft im Bett? Hab das schon länger nicht mehr verfolgt.
Bekannte Kampfbegriffe der Postmoderne waren und sind "das Ende der großen Erzählungen" (= es kann keine umfassenden systemischen Ansatze in der Philosophie mehr geben; Jean-François Lyotard) und "Dekonstruktion" (Jacques Derrida). Dem Postmodernismus haben wir im Wesentlichen heute die Diskussionen um die political correctness zu verdanken.
Gleichzeitig mit der Postmoderne hat auch der Konstruktivismus großen Einfluss sogar noch auf das Denken der Durchschnittsbevölkerung genommen. Die Vorstellung, jeder einzelne Mensch würde sich seine Welt weitgehend selbst zusammenkonstruieren und wie die Welt wirklich ist, sei im Grunde unerkennbar, herrscht heute ebenfalls in zahllosen Köpfen vor.
Heute regt sich gegen die naive Vorstellung eines radikalen postmodernen Wahrheitsskeptizismus und eines radikalen Konstruktivismus in allen Geisteswissenschaften erheblicher Widerstand, da deren letztliche Selbstwidersprüchlichkeit offenkundig ist, aber lange Zeit einfach ignoriert wurde.
In den Naturwissenschaften war der radikale Wahrheitsskeptizsmus trotz Quantenmechanik und Relativitätstheorien nie so weit verbreitet wie in den Geisteswissenschaften, da die Naturwissenschaften den Anspruch erheben müssen, wahre Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen. Anders sind sie gar nicht denkbar.
Eine der aktuellsten Widerlegungen des radikalen Skeptizismus und Konstruktivismus findet sich in Paul Boghossians Buch: Fear of Knowledge: Against Relativism and Constructivism, Oxford University Press, 2006 (Angst vor der Wahrheit: Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus, 2013).

Wer sich einen Überblick über die Argumentationslage machen möchte, lese: Bernd Irlenborn, Relativismus (Grundthemen Philosophie), De Gruyter; Auflage: 1, 2016):
