Zur Threadfrage erst einmal die Begriffsklärung: unter dem Begriff "Wirklichkeit" im Sinne der hier stattfindenden Diskussion verstehe ich "Sein" oder "Existenz". Denn eigentlich wird hier gerade Ontologie diskutiert, oder nicht?
liebe Ruth, lieber Closs, widersprecht mir bitte, wenn ich hier zu viel hinein interpretiere...
Aber argumentiert ihr nicht im Prinzip, dass:
- die scheinbar klare und messbare physische Welt letztlich gar nicht objektiv messbar ist, da wir stets in unserer fehlbaren, subjektiven Wahrnehmung verhaftet bleiben
- die materielle Ebene der Existenz ("sichtbare Wirklichkeit") aus einer immateriellen Quelle hervorgeht
- diese Quelle transzendent ist, göttlich, irgendwie auf einer höheren Ebene liegend
- wenn die materielle Ebene also nur die Manifestation, der Ausfluss oder das Abbild einer dahinter liegenden Quelle ist, dann muss diese transzendente Quelle irgendwie noch "wirklicher" sein.
Könnte man dann weiter denken: die von Menschen wahrnehmbare Wirklichkeit ist nur ein subjektiv geprägtes Abbild. Dahinter liegen als Ursache und Quelle die idealen, transzendenten Ideen oder Konzepte, welche wiederum aus einem einzigen, allumfassenden Urquell entspringen, dieser Urquell ist Gott.
Wenn ihr dem soweit folgen könnt, dann stimme ich euch zu: euer Denken ist ein wenig altmodisch, es entspricht nicht dem aktuellen Zeitgeist.
Die Ursprünge würde ich allerdings nicht in der Generation eurer Großeltern oder Urgroßeltern suchen, da müssen noch ein paar mehr "ur" davor.

Das von mir oben grob umrissene Weltbild nennt sich "platonisch". Anfänge des Konzepts finden sich in Platons berühmten Höhlengleichnis, weiter entwickelt wurde es durch die spätantike platonische Schule (Plotin, Porphyrios, Iamblichus etc. - man nennt das gerne "Neuplatonismus", selbst haben sie sich aber einfach nur Platoniker genannt)
Die mittelalterliche Welt rund ums Mittelmeer hat das platonische Weltbild in weiten Teilen übernommen, und zwar in allen drei abrahamitischen Religionen (trotz der heidnischen Wurzeln.) Bei den Juden findet es sich in der Kabbalah, bei den Christen hielt es über Boethius und Augustinus Einzug, bei den Muslimen z.B. über al-Farabi.
Ihr seid also in guter und zahlreicher Gesellschaft.
liebe Grüße
Mirjam