Anton B. hat geschrieben:Bekannt ist, dass die Auffassung des naturwissenschaftlichen Wissens als "Wirklichkeit" vielerlei Vorteile da bringt
Ginge es um NAturwissenschaft, müßten wir nicht reden. - Denn bei den Naturwissenschaft gibt es noch die unabhängigen Überprüfungsmöglichkeiten. - Mit anderen Worten: In der Naturwissenschaft ist der Spielraum für Interpretationen von vorne herein weit kleiner als in den Geisteswissenschaften.
Der descartsche Radikal-Skeptizismus gilt zwar prinzipiell auch in der Naturwissenschaft, spielt aber de facto keine Rolle, weil es ein Einvernehmen gibt, dass die Behandlung der "Res Extensae" als Entität zutreffend ist - was ja auch Descartes glaubt. - Nein, das ist nicht das Problem, um das es hier geht.
Anton B. hat geschrieben:Was "wirklich ist", können wir aber nicht sagen.
Richtig - das weiß jeder Theologe, weshalb er ständig darauf pocht, dass er "glaubt", dass etwas "wirklich so" ist, wie er begründet. - Aber die Naturalisten wissen das nicht - sie denken, dass methodische Ergebnisse der Wissenschaft kategorial Dasselbe sei wie"so ist/war es wirklich".
Pragmatisch mag man dies bei Naturwissenschaft so handhaben, aber bei Geisteswissenschaften geht es nicht, weil dort in vielen Fällen Beobachtetes und Beschriebenes je nach Vorannahmen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führt.
Anton B. hat geschrieben:Im wissenschaftlichen Kontext weiter untersucht, zeigen sie ein wissenschaftliches "was wäre wenn" auf, ohne dass die Wissenschaftlichkeit der Annahme derzeit oder absehbar begründet ist.
Genau so ist es. - Denn im Fall Exegese sind die Vorannahmen in der Regel nicht falsifizierbar.
Anton B. hat geschrieben:Die HKM als Methode wird aber nunmal ihrerseits vernünftig begründet, und nicht einfach so als Vorannahme in den Raum gestellt.
Das wird die kanonische Exegese doch auch. - Unzulässig verkürzt untersucht der eine, was wäre, wenn es keine geistige Welt (mit allen Konsequenzen) gäbe, und die andere, was wäre, wenn es eine geistige Welt gäbe. - Beides ist Wissenschaft.
Oder anders gesagt: Die Aussage "Jesus HATTE eine Naherwartung" (im kolportierten Sinne) ist genauso vernünftig oder unvernünftig wie die Aussage "Jesus hatte KEINE Naherwartung" (im kolportieren Sinne). - Beides lässt sich sauber herleiten und begründen.
Anton B. hat geschrieben:Wenn für den Wissenschaftler seine Ergebnisse die Realität über die bekannten Beobachtungen hinaus als Wahrheit beschreiben, tritt in vielen Fällen noch nicht mal ein direkter Schaden ein. Womöglich arbeitet er einfach fröhlich und erfolgreich weiter. Diese seine Interpretation ist aber ihrerseits nicht wissenschaftlich.
Siehst Du: Und genau da sind die Verfechter der HKM gefährdeter als Verfechter der kanonischen Exegese, weil sie meinen, sie seine die einzigen, die überhaupt qualifiziert für die Bibel-Exegese seien. - Innerhalb der Theologie wird das weggelacht, aber die Betroffenen scheinen dies oft zu meinen.
Ein Theologe dagegen betont immer, dass seine Forschung auf Glauben beruht: "Ich interpretiere, als gäbe es Gott als Entität". - Er weiß also, dass er eine nicht-falisifizierbare Vorannahme hat, die in Bezug auf die "ontische Wirklichkeit" richtig oder falsch sein kann - vom kritischen Rationalismus geprägte Wissenschaftler neigen eher dazu, das, was nicht falsifizierbar ist, als "irrelevant" zu bezeichnen. - Das ist methodisch richtig, reicht aber nicht, wenn man die Bibel verstehen will.
Letztlich läuft es hinaus auf:
Fall A: Die geistige Existenz ("Gott") ist Grundlage meiner Interpretationen dessen, was ich wissenschaftlich beobachte und beschreibe.
Fall B: Solange diese geistige Existenz nicht falsifizierbar ist (also nie), untersuche ich Jesus nur so, als sei er Mensch. - Kann man machen, aber man kann damit die Bibel nicht für den Fall verstehen, dass es Gott gibt.
Jetzt wäre naheliegend, dass sich beide einigen, indem sie sich gegegnseitig sagen: "Hey Du, Gegenstück: Wir sind beide Profis und wissen deshalb, dass unsere wissenschaftlichen Beobachtungen und Beschreibungen der Quellen aufgrund unserer jeweiligen nicht-falsifizierbaren Vorannahmen zu mutmaßlich sehr unterschiedlichen Interpretationen/Verständnissen führen. Ich mache es mal mit meinen Vorannahmen und Du mit Deinen: Dann vergleichen wir mal".
Ein Profi würde jedoch NICHT sagen (aber genau das scheint in diesem ideologischen Kampf üblich zu sein): "Du bist ein schlechterer Wissenschaftler als ich, weil Du andere nicht-falsifizierbare Vorannahmen hast". - Ich bin einigermaßen erschüttert, dass es trotzdem passiert.
Anton B. hat geschrieben:Die geschilderten Wunder Jesu verstoßen eben nun mal gegen die Erkenntnisse der fundierenden Naturwissenschaften Physik und Chemie.
Moment: "Vernunft" ist doch keine Domäne der Naturwissenschaften, sondern eine Größe der Logik und argumentativen Konsistenz. - Nach dieser (extrem anthropozentrischen) Definition wäre Gott "unvernünftig". - Deine Aussage verstehe ich als Kotau vor den Naturwissenschaften, die damit gar nichts zu tun haben.
Und selbst WENN man "Vernunft" so definieren WÜRDE, würde man ihr ihren universalen Anspruch wegnehmen - sie wäre dann eine Provinzgröße.
Anton B. hat geschrieben:Wissenschaft auf der einen und Glaube auf der anderen Seite sind aber schon mit ihrer Definition beladen.
Es geht doch nicht um die Gegenüberstellung von "Wissenschaft und Glaube" (Du machst hier auf milde Art denselben Fehler wie Sven), sondern um die Frage, unter welchen nicht-falsifizierbaren Prämissen man wissenschaftlich Beobachtetes und Beschriebenes interpretiert.
Einfaches Beispiel: Wenn Jesus sagt "Ich bin die Wahrheit, ...", ist er ein Fall für die Psychiatrie, wenn er nur Mensch war. - Wenn es die geistige Welt und somit Gott gibt und Gott aus ihm spricht, ist dies ein ernstzunehmender Satz.
Anton B. hat geschrieben:Die, die innerhalb der Theologie die HKM nutzen, wissen um die Verortung der HKM und wissen um die Voraussetzungen
Zunehmend NICHT. - Dein Satz "die innerhalb der Theologie die HKM nutzen" passt voll in Ratzingers Konzept: "HKM ist unverzichtbar FÜR (!) das Textverständnis" - zu ergänzen: "Aber IST nicht das Textverständnis".
Dem gegenüber stehen LEute in der Theologie und vor allem Kräfte von außen, die meinen, die interpretativen Ergebnisse der HKM (die es gar nicht geben dürfte, wollte man an seiner Apriori-Freiheit festhalten) seien die einzig wissenschaftlich zulässigen und wären damit am nähesten an der Realität Jesu dran.
Nun kann man natürlich "Wissenschaft" so definieren (mit Sprache geht alles), dass nur noch die HKM übrigbleibt - aber dann um den Preis, dass Wissenschaft in Geisteswissenschaften so gut wie nichts verloren hat. - Also was soll das? ---- Gar nicht geht, wenn man mit diesen Vorannahmen meint, dem Jesus in seiner Zeit gerecht zu werden - sobald es Gott gibt und aus Jesus spricht, ist das Gegenteil der Fall.
Wir sind uns (nach wie vor) einig, dass ein methodisches System ("Wissenschaft") nicht einfach mit "Wirklichkeit" gleichgesetzt werden kann. - Aber es macht doch keinen Sinn, dass etwas "Wissenschaft" genannt wird, das mit seinen interpretativen (!) Ergebnissen vollkommen an der Wirklichkeit vorbeigeht, falls es Gott als Entität gibt. - Siehst Du das anders?