ThomasM hat geschrieben:
Du könntest ja für Leute, die sich einlesen wollen, ein paar Links angeben.
Okay, dann mal los. Hier kommt der Einführungspost für diejenigen, die erst mal wissen wollen worüber wir hier eigentlich streiten.
Einen Überblick über die im Moment allgemein angenommene Chronologie der ägyptischen Kultur gibt es bei Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%84gyp ... _Wikipedia
Dort sind auch Abschnitte zur Methodik absoluter und relativer Datierung dabei.
Soweit ich sehen kann stützt sich Wikipedia dabei vor allem auf Jürgen von Beckerath:
Jürgen von Beckerath: Chronologie des pharaonischen Ägypten. von Zabern, Mainz 1997, ISBN 3-8053-2310-7.
Relative Datierung in der Archäologie ist auch wirklich kein Zauberwerk und beruht auf sehr einfachen Grundlagen.
Relativ bedeutet in dem Zusammenhang: Wir wissen zwar weder, wie alt X noch wie alt Y ist, aber wir können sicher sein: X ist älter als Y.
1. Stratigrafie
Wenn du ein altes Treppengeländer abschleifst, dann kommen da oft Stück für Stück verschiedene Farbschichten zum Vorschein, nicht wahr? Und man kann dabei sehr einfach erkennen, in welcher Reihenfolge das Geländer mit welcher Farbe überpinselt wurde... die untersten Schichten müssen älter sein als die oberen Schichten, denn man kann schlecht eine neue Farbschicht UNTER der alten anbringen.
Wenn Archäologen eine alte Siedlung oder einen Friedhof ausgraben gehen sie nach genau diesem Prinzip vor.
Problem ist natürlich, wenn jemand vor zehn Jahren schon mal das Treppengeländer bis aufs Holz abgeschliffen hat... dann sind alle älteren Farbschichten verloren. Ich will damit sagen: Stratigrafie funktioniert nur dort, wo Schichten unzerstört erhalten sind. Wo der Boden durch tiefe Pflüge oder den Bau einer Strasse durchwühlt wurde haben die Archäologen keine Chance mehr.
Zum Glück kann man aber diese Bodenbefunde kaum fälschen. Es könnte ja jemand auf die Idee kommen und ein gefälschtes Artefakt in einem tiefen Loch vergraben. Bei der Ausgrabung würde man dann diesen Gegenstand tief unten finden und ihn für sehr alt halten? Nein! Denn das Loch, dass man graben muss um den Gegenstand hinein zu legen, ist bei der Ausgrabung deutlich sichtbar: Die Erde, die man beim verfüllen des Lochs verwendet, hat nämlich immer eine leicht andere Zusammensetzung als der Boden drum herum, und das zeichnet sich auf dem Planum, also dem geglätteten Boden bei der Ausgrabung, als deutlicher Fleck ab. Auf diese Weise stellen Archäologen auch die Umrisse von Grabgruben, Pfostenlöchern oder Festungsgräben fest. Im Profil, als der senkrechten Variante des Planums, ist das auch sehr hübsch sichtbar:

Ich habe das auch schon in eigener Anschauung miterlebt, bei studentischen Lehrgrabungen im Solling. Es ist eine langwierige Arbeit, ein Stück Grubenboden mit der Maurerkelle ganz sauber abzuschaben. Aber das Ergebnis lohnt sich: kleinste Verfärbungen im Boden werden dann sichtbar.
mehr dazu gibt's hier:
https://www.praehistorische-archaeologi ... ntdeckung/
2. Seriation und warum Scherben Glück bringen
Moden ändern sich. Kleidung, Geschirr, Schmuck, Waffen - jede Epoche und jede Kultur hat ihre eigenen Vorlieben, schon immer. Archäologische Seriation nutzt diese Tatsache und untersucht statistisch das Vorkommen und die Überlappungen solcher Modeerscheinungen. Typologie ist so ähnlich, bezieht sich aber auf die stilistische und funktionale Entwicklung bestimmter Gegenstände und Formen.
Stellt euch vor, man würde euch fünf Koffer mit Kleidung geben. Jeder enthält die Kleidung einer jungen Frau.
Einer gehört deiner Schwester, einer deiner Mutter, einer deiner Großmutter, und so weiter.
Die Aufgabe: Kann man, ohne irgendeine Ahnung von der Mode des 20. Jahrhunderts zu haben, diese Koffer ihrem Alter nach sortieren? Stellen wir uns vor, die Kleidung ist alle sehr gut erhalten, man kann also das Alter nicht so einfach am Zustand feststellen.
Nun finden wir in einem Koffer mehrere Schnürmieder. In einem anderen wenigstens ein einziges Mieder. In allen anderen Koffern gar kein Mieder. Ergebnis? Die beiden Koffer mit Mieder liegen schon mal nebeneinander, und der mit mehreren Miedern wahrscheinlich an einem Ende der Reihe. Oder Strümpfe: zwei Koffer enthalten ausschließlich Strümpfe mit Gummizug, 2 Koffer enthalten Strümpfe mit Strumpfband, ein Koffer hat beides. Den letzteren können wir damit in die Mitte sortieren.
Ihr merkt, worauf das hinausläuft? Anhand vieler Beispiele und dem Vergleich von Merkmalen und Überlappungen kann man eine Sequenz feststellen. Wir wissen dabei im Extremfall noch nicht einmal, welches das "alte" und welches das "junge" Ende der Kette ist, aber die Reihenfolge selbst ist ziemlich eindeutig.
Nun finden wir in der Archäologie zwar keine Kleiderkoffer, aber dafür Grabbeigaben, die oft aus Schmuck, Waffen und Tontöpfen bestehen. Und Metall ist zum Glück recht haltbar, und Keramik sogar noch mehr. Seriation ist also eine statistische Methode, man braucht relativ viele Funde, die man dann in Tabellen nach Merkmalen und Häufigkeit sortiert.
https://www.thoughtco.com/seriation-sci ... bon-170607
Zum Glück gibt es Scherben mehr als genug. Schon seit der Jungsteinzeit verwenden die Menschen verschiedenster Kulturen Geschirr aus gebranntem Ton. Solche Gefäße gehen leicht mal zu Bruch und es ist einfacher, sie zu ersetzen als sie zu flicken. Daher landen im Laufe der Jahrhunderte viele, viele Scherben im Boden. Keramik ist sehr beständig und wird durch Chemikalien im Boden kaum zersetzt. Und diese Scherben enthalten viele Informationen: Zusammensetzung des verwendeten Tons, Brenndauer- und Temperatur, Oberflächenbehandlung (Politur oder Glasur), Bemalung und/oder Verzierung, Form und Größe des Gefäßes.
Wenn wir also durch Seriation einmal die Abfolge gewisser Moden bei der Keramik festgestellt haben, genügen uns bei einem neuen Fund schon ein paar unscheinbare Scherben um eine ungefähre Datierung vorzunehmen.
https://www.uni-frankfurt.de/45742076/f ... le_keramik
3. Terminus post quem und Terminus ante quem
Das sind die vornehmen Fachausdrücke für "jünger als" und "älter als". Diese Begriffe werden verwendet, wenn ich eine Sache zwar nicht absolut datieren kann, aber ich kann sie sicher vor oder nach einem bekannten Fixpunkt datieren.
Wenn ich auf dem Dachboden einen verschlossenen Umschlag finde, und darin liegt ein D-Mark Schein, dann kann dieser Umschlag nicht vor 1948 verschlossen worden sein, denn vorher gab es keine D-Mark. 1948 ist mein "Terminus post quem", mein "jünger als X".
Wenn ich weiß, dass Oma die Blümchentapete beim Einzug in Haus 1953 angebracht hat, dann ist die Wandfarbe, die ich beim renovieren hinter der Tapete finde, notwendig früher als 1953 aufgetragen worden: Ich habe einen "Terminus ante quem", ein "älter als X"
https://de.wikipedia.org/wiki/Terminus_ante_quem
Ich habe das hier vor allem beschrieben, um einmal auf zwei Punkte hinzuweisen:
1. Relative Chronologie nutzt statistische Methoden, die über die Masse der archäologischen Daten funktionieren. Die ganze Chronologie hängt also
nicht nur an einzelnen, eventuell unzuverlässigen Quellen. Bezogen auf Ägypten: Wir haben Königslisten als schriftliche Quellen, die uns eine bestimmte Reihenfolge von Herrschern angeben. Diese Listen könnten aber natürlich - absichtlich oder unabsichtlich - Fehler enthalten. Daher ist es sehr gut, dass wir die Abfolge der Herrscher auch durch die archäologische Methoden ergänzen und korrigieren können.
R.F. hat geschrieben:Während sich die von den Historikern konstruierte Geschichte Ägyptens aus unzähligen Artefakten und fragmentarischen Überlieferungen zusammensetzt, zeigen die historischen Texte des Alten Testaments eine geschlossene Geschichte der Stämme Israels.
Eben deshalb... die MENGE der VERSCHIEDENEN Bruchstücke, die sich gegenseitig ergänzen, ist für mich viel glaubwürdiger als die EINZELNE QUELLE.
2. Relative Chronologie ist keine komplizierte Sache, bei der Historiker irgendwelche Ergebnisse präsentieren, die der Laie nicht nachvollziehen kann. Die verwendeten Methoden sind sogar ziemlich einfach und logisch.
liebe Grüße
Mirjam
PS: zu den absoluten Datierungen bin ich jetzt noch gar nicht gekommen... aber ich schau mal, wie viel Zeit ich am WE habe und schreibe noch was dazu, ist nämlich hoch interessant.