Novalis hat geschrieben:Solange die Europäer von soetwas wie ihrer rassischen Überlegenheit überzeugt waren, hatten sie keinen Anlass am Christentum als dem alleinseligmachenden Glauben zu zweifeln. Unter Verweis auf die Krone des Universums fiel es leicht, alle anderen Religionen zu nichts anderem als naiven Versuchen abzuwerten, die um Antworten auf Fragen nach der Ewigkeit ringen. Erst als diese rassische Selbstüberzeugtheit allmählich verschwand, schlichen sich die ersten Zweifel ein. Wie konnte ein gütiger Gott eine überwältigende Mehrheit menschlicher Wesen erlauben, im Dienste falscher Religionen zu leben und zu sterben?
~ Charles Le Gai Eaton, Der Islam und die Bestimmung des Menschen
Wie lautet eure Antwort auf die Frage? Die Frage ist vollkommen berechtigt.
Meine Antwort lautet so:
Es gibt eine übersinnliche Wahrheit, die ungefähr so ist wie der impersonale Gott des Patheismus, das Brahmen des Hinduismus oder das Tao des Taoismus. Am treffendsten könnte man diese übersinnliche Wahrheit als All-Einheit oder als Weltprinzip bezeichnen. Nun haben im Laufe der Geschichte immer wieder Menschen (Mystiker) auf dem Wege mystischer Erfahrung Zugang zu dieser All-Einheit erhalten, und ihre Erfahrungen dann anderen Menschen mitgeteilt. So sind die traditionellen religiösen Lehren entstanden. Dabei war aber nicht jeder Mystiker rein genug im Geist, um die gemachte Erfahrung voll erfassen zu können. Bewusst oder unbewusst hat er dann versucht, das Erfahrene auf Vorstellungen herunterzubrechen, die ihm aus der Alltagswelt vertraut waren. So entstand die Vorstellung von einem oder mehreren personalen Göttern.
Es ist nun also so, dass allen religiösen Lehren dieselbe Wahrheit zugrundeliegt, und die Wahrheit somit über allen Religionen steht. In gewissem Sinne sind daher alle Religionen wahr, aber auch alle Religionen falsch, eben weil die Wahrheit über allen Religionen steht. Zwar tritt z.B. im Hinduismus oder im Taoismus die Wahrheit etwas deutlicher hervor als etwa in den abrahamatischen Religionen, weil die Vorstellung vom Brahman oder vom Tao näher an der Wahrheit ist als die eines personalen Gottes, aber auch diese beiden Religionen sind davon beeinflusst, dass mystische Erfahrungen verwässert wurden.
Die Frage, wie ein gütiger Gott zulassen konnte, dass es zu der Verwässerung mystischer Erfahrungen kam, die schließlich zur Etablierung unterschiedlicher religiöser Lehren führte, stellt sich nicht, da es eben keinen personalen Gott gibt. Es gibt die All-Einheit, und für den Menschen ist es häufig schwierig, diese zu erfahren, und so kam es immer wieder zu der beschriebenen Verwässerung und damit zur zur Etablierung unterschiedlicher religiöser Lehren. Bleibt noch die Frage, weshalb religiöse Lehren dann so oft dazu tendieren, sich als die einzig richtige Lehre hinzustellen. Das könnte mit der Intensität mystischer Erfahrungen zusammenhängen: weil für einen Mystiker die mystische Erfahrung so intensiv ist, kann er sich leicht dazu verführt fühlen zu denken, die gemachte Erfahrung sei etwas ganz besonderes, und das, was er aus seiner Erfahrung ableitet, müsse die einzig richtige Wahrheit sein. So eine Arte dunkle Seite der Macht, wenn man so will.