Rembremerding hat geschrieben:Ich kann hier nur von eigenen Erfahrungen und Gesprächen im Nahen Osten sprechen. Junge Muslimen bezeichneten immer wieder Frauen als Nutten, die kein Kopftuch tragen. Gerade unter den männlichen Teens entsteht da in letzter Zeit wieder ein besorgniserregender Chauvinismus, der ganz klar religiöse Motive hat. Sie hören es in den Moscheen und Koranschulen. Wir dürfen uns dieser Entwicklung nicht verschließen.
Auf Nachfrage sagten sie mir stets, es sei Sünde das Haar der Frau so offen zu zeigen, denn es ist Symbol der Sexualität der Frau. Und diese offen zur Schau getragene Sexualität "verführt" den Mann, ist böse, womit die Frau sich versündigt, eine Sünderin ist. Das Kopftuch schützt demnach die Frau davor, eine Sünde zu begehen. Aus dieser Einstellung folgt, dass es sogar besser wäre, die Frau würde auch ihre "Rundungen" verhüllen.
Frauen erzählten mir auch, dass das Kopftuch ihnen Identität gibt. Auf Nachfrage wurde bald klar, dass es keine Identität ist, welche die Frau als Individuum meint, sondern die der Mann ihr gibt. Viele Frauen unterliegen hier einem subtilen Druck vielleicht nicht immer direkt ihres Ehemannes, aber der muslimischen Gesellschaft. Und ein Mann wird in seiner Ehre beeinträchtigt, wenn seine Frau eine "Nutte" ist, also nicht ihr Haar verhüllt und damit ihre Keuschheit anzeigt.
Bei Besuchen von Lehrern, also eher liberal gesinnten Muslimen, im Westjordanland mit einer Freundin, hat ihr
keiner die Hand gegeben. Die Männer haben immer nur mit mir gesprochen. Als Ungläubiger oder Mann, den Grund konnte ich nicht recht herausfinden, kamen die Frauen im Haus nur kurz zum Bedienen, sollten aber keinen Kontakt zu mir bekommen. Immer wieder wurde die Freundin verstohlen von den Frauen und Mädchen des Hauses in einen anderen Raum gewinkt, wo sie dann "ihr Ding" machten. Hier wurde unter Frauen noch offener gesprochen. Kopftuch und auch Verhüllung geschieht unter gesellschaftlichen-religiösen Druck. Das ist ja nicht verwerflich, wenn es die Gesellschaft sozial verbindet, aber man sollte nicht so tun, als wären Frauen hier vollkommen frei in ihrem Handeln.
Servus

Hallo, Rem. Vielen Dank für deinen Erfahrungsbericht. Das ist sicher eine gute Ergänzung. Ja, hier wird erkennbar wie der westliche Individualismus und der Islam aufeinander treffen. Allerdings ist es ebenso bei uns, dass es dem einzelnen Menschen niemals erlaubt ist, seinen Individualismus/Persönlichkeit über die Verfassung, dem Verhaltens-, Gesetzes- und Wertekodex der Gemeinschaft hinaus zu entfalten. Diese Polarität von Individualismus und Kollektivismus, hat es schon immer gegeben. Im Islam gibt es die mystische Richtung der Sufis, welche die persönliche Gotteserfahrung suchen und in den Mittelpunkt rücken, aber die wurden und werden bis heute vom Mehrheitsislam kritisch und zwiespältig wahrgenommen, weil die individualistische Mystik als Gefahr für traditionelle Moral- und Wertvorstellungen gesehen wird; und das obwohl die meisten islamischen Mystiker, die „
Mystische Dimensionen des Islam“ keineswegs im Gegensatz zum Islam verstehen (
Yasar Nuri Öztürk
Rumi und die islamische Mystik: Über das Menschenbild im Islam) Mehr differenziert gesprochen: der Islam lehnt einen extremen Individualismus ab, erlaubt ihn aber in einem gemäßigten Rahmen. In vielen islamischen Ländern ist es außerdem ein Luxus:
Individualisierung scheint vorallem finanziell,sozial und bildungsbedingt zu sein. Unterprivilegierten verspricht die Einbettung in die traditonsgeprägte, solidarische Religionsgemeinschaft Zugehörigkeit und Sicherheit. Islamisten nutzen die Bedürfnislage im Nahen Osten, in Asien, Afrika und Europa, um etwas über die finanzielle Förderung von Einzelpersonen oder Familien, einen streng gelebten Islam zu etablieren. Gesellschaftliche Missstände, Fehlen bürgerlicher Freiheiten, Angst vor Restriktion und Benachteiligung setzen in vielen islamischen Gesellschaften Pluralismus und öffentlicher Selbstverwirklichung Grenzen.
Akademie-Forum-Masonicum: Islam: Individualisierung versus Kollektivierung
als soziales und politisches Problem
Oder mit anderen Worten: Individualismus, so wie er bei uns existiert, ist ein Luxus. In vielen anderen Weltregionen können sich die Menschen das nicht leisten. Den eigenen Individualismus auf Kosten der Gemeinschaft zu leben, wäre unmittelbar existenzbedrohend. Wenn Muslime in Europa leben und sozial und bildungsmäßig eine höhere Stellung haben, dann interpretieren sie ihren Glauben wesentlich individualistischer, aber auch dann niemals im Sinne eines extremen Individualismus. Doch ist es nicht so, dass extremer Individualismus und Religion sich auch im Falle des Christentums ausschließen? Christsein und „
westlicher Individualismus“ stehen ebenfalls in einem Spannungsverhältnis. Der Philosoph Karel Mácha beschreibt Individualismus als eine gesellschaftliche Erscheinung, die nur dort möglich ist, wo die notwendigen Bedingungen gegeben sind: „
Individualismus ist bestimmt durch das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft sowie materielle Gegebenheiten.“ (
Karel Mácha: Individuum und Gesellschaft. Berlin 1964, S.15).
Sehen können wir das sehr gut, wenn wir über den westlichen Tellerrand hinaus die ganze Welt betrachten: China, Indien und alle arabischen Länder betonen alle wesentlich mehr die kollektive Dimension und weniger die Individualität. Ich habe mich mal mit einem Mädchen aus Indien unterhalten, die sich ihren Ehepartner vom Vater aussuchen lässt. Bei uns würde man soetwas sofort mit Frauenunterdrückung gleichsetzen, aber sie empfindet das keineswegs als Unterdrückung, weil das in Indien so normal ist. Sie sieht sich als Prinzessin ihres Vaters und der Vater, der König und Patriarch der Familie, sucht ihr den passenden Prinzen aus. So will sie es, das macht sie glücklich, so lautete ihre Antwort. Daran sehen wir auch wie relativ “Glück†ist: glücklich kann ein Mensch auch sein, wenn er im Einklang mit den sozialen Werten seiner Community und Peer-Group lebt
Hier wurde unter Frauen noch offener gesprochen. Kopftuch und auch Verhüllung geschieht unter gesellschaftlichen-religiösen Druck. Das ist ja nicht verwerflich, wenn es die Gesellschaft sozial verbindet, aber man sollte nicht so tun, als wären Frauen hier vollkommen frei in ihrem Handeln.
Was ist Freiheit? Ein sehr relativer Begriff.