FLEISCHESSEN UND KARMA
«Alles, was der Mensch den Tieren antut,
kommt auf den Menschen wieder zurück.»
(Pythagoras)
«Solange es Schlachthäuser gibt,
wird es auch Schlachtfelder geben.»
(Leo Tolstoi)
Wenn so viele ethische Gründe dem Menschen nahelegen, keine Tiere zu töten und kein Fleisch zu essen, dann stellt sich eine nächste Frage: Was geschieht, wenn die Menschen es trotzdem tun, und dann noch in den Ausmaßen, wie dies heute der Fall ist? Die konkreten Folgen haben wir bereits dargelegt. Aber haben die massenhaften Tiermorde noch andere Folgen, die über die direkt sichtbaren Gesundheitsschädigungen und Umweltzerstörungen hinausgehen?
Während sich die meisten institutionalisierten Religionen heutzutage nicht im klaren darüber sind, ob Tiere auch ein Recht auf Leben haben oder ob sie vom Menschen folgenlos getötet werden können, finden sich – wie in Kapitel 4 und 5 gezeigt – in allen Kulturkreisen gottesbewußte Menschen, die unabhängig voneinander zu den gleichen Schlußfolgerungen gekommen sind. Der entscheidende Faktor in diesem Zusammenhang ist das, was in der indischen Lehre das Gesetz des Karma genannt wird.
INDIVIDUELLES KARMA
Das Sanskritwort Karma bedeutet wörtlich «Tat, Handlung» (Aktion): das, was eine Wirkung oder Folge (Reaktion) verursacht. Das Gesetz des Karma ist also das Gesetz der Kausalität (Aktion/Reaktion bzw. Ursache/Wirkung) und besagt, daß jede Handlung verschiedene kurzfristige und langfristige Folgen verursacht. Da jeder Mensch beständig Handlungen ausführt, das heißt «Karma» erzeugt, untersteht er diesem Gesetz von Aktion und Reaktion, das für jede seiner (Freude oder Leid verursachenden) Handlungen eine entsprechende zukünftige (freud- oder leidvolle) Konsequenz festsetzt. Wenn man vom Karma einer Person spricht, meint man damit also die vorausbestimmte Reaktion auf eine nach freiem Willen ausgeführte frühere Handlung.
Das Gesetz von Aktion und Reaktion gilt nicht nur im Bereich des Physikalischen (gemäß dem Dritten Axiom der klassischen Mechanik nach Isaac Newton, 1687), sondern in jeglichem Bereich menschlichen Tuns. So bekommen wir für unsere guten, das heißt für unsere hilfreichen und liebevollen Taten, aber auch für die Schmerzen und Leiden, die wir anderen Lebewesen zufügen, früher oder später entsprechende Karma-Reaktionen, und zwar sowohl individuell als auch – wie wir im Anschluß sehen werden – kollektiv als Gesellschaft.
Das Kausalgesetz des Karma ist nicht bloß eine östliche Theorie; es ist ein Naturgesetz, das genauso unvermeidlich wirkt wie das Gesetz der Zeit oder das Gesetz der Schwerkraft. Auch in der Bibel wird das Karma-Gesetz an zahlreichen Stellen erwähnt. Zum Beispiel: «Täuscht euch nicht: Gott läßt keinen Spott mit sich treiben; was der Mensch sät, wird er ernten.» (Gal 6,7) «Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr meßt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden.» (Bergpredigt Jesu, Mt 7,1-2)
Auch im Volksmund sind Redensarten bekannt, die auf die Gesetzmäßigkeit von Aktion und Reaktion hinweisen: «Wie man in den Wald ruft, so schallt es wieder heraus», «Jeder ist seines Glückes Schmied» oder «Wie man sich bettet, so liegt man». Oder wie es der deutsche Dichter Novalis (1772–1801) in einem seiner Fragmente ausdrückte: «Wähl ich nicht alle meine Schicksale seit Ewigkeiten selbst?»
Auf jede Aktion, die wir ausführen, folgt also gemäß kosmischem Gesetz eine entsprechende Reaktion, und die Gesamtheit aller karmischen Reaktionen im bisherigen und in früheren Leben schafft unser «Schicksal». Wir sind jedoch nicht auf ewig an unser Karma gebunden, denn das Leben eines jeden Menschen hat eine höhere Bestimmung und einen göttlichen Sinn. Wenn wir diese Bestimmung und diesen Sinn erkennen und erfüllen, brauchen wir nicht mehr endlose Karma-Kreisläufe zu durchlaufen. Hier kommt das ins Spiel, was in vielen Religionen als «Gnade Gottes» bezeichnet wird. (Das Karma-Gesetz ist also weder ein ewiges noch ein gnadenloses Prinzip, wie Kritiker manchmal behaupten.)
Grundlegend für das Verständnis des Karma-Gesetzes ist die Erkenntnis, daß alle Lebewesen beseelt sind, das heißt, daß sie nicht einfach «nur» ein sterblicher Körper sind. In der bereits erwähnten indischen Schrift Bhagavad-Gita wird beschrieben, daß die spirituelle Seele die Quelle des Bewußtseins ist, das den gesamten Körper durchdringt und ihn überhaupt erst lebensfähig macht. Wenn die Seele den Körper verläßt oder verlassen muß, spricht man von «Tod». Einer Seele vorzeitig ihren Körper zu zerstören, wie das beim Töten von Tieren der Fall ist, ist für den Menschen deshalb eine Tat, die nicht folgenlos ist, vor allem, wenn der Mensch dieses Fleisch nicht unbedingt zum Überleben braucht.

Das Buch kann hier gelesen werden: http://vegetarisch-leben.de/buch/einleitung.html
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