Bohr mag das zwar so formuliert haben, tatsächlich aber sagt die Kopenhagener Deutung das so nicht aus. Was die Kopenhagener Deutung tatsächlich aussagt ist, dass es sehr wohl eine objektive Realität gibt, ein Ding an sich, dass nämlich die Wellenfunktion gerade diese objektive Realität darstellt. Während z.B. die minimale statistische Interpretation betont, dass die Wellenfunktion nur statistischen Charakter habe - und zugleich betont, dass es gar nicht sinnvoll sei, darüber nachzudenken, ob es eine objektive Realität gibt - geht die Kopenhagener Deutung davon aus, dass der Wellenfunktion durchaus eine gewisse (objektive) Realität zukommt.Novalis hat geschrieben:Was für mich selbstverständlich ist, denn die objektive Realität, nach der manche Menschen suchen, gibt es m.E. nicht. Es gibt verschiedene Sichtweisen, die wir uns gegenseitig erzählen. Da wir hier im Physik-Bereich sind weise ich mal auf diese Worte über die Kopenhagener Deutung hin:
Die Kopenhagener Deutung beantwortet die metaphysische Frage über die Natur der Welt mit einem klaren Nein: Die objektive Realität ist eine Illusion, die wir zu unserem eigenen Wohl erschaffen. Bohr kam zu der Überzeugung, dass wir uns bestenfalls ein geschlossenes Modell der Welt schaffen können, das ihre gemessenen Eigenschaften reproduziert, ohne dass wir behaupten können zu beschreiben, was wirklich ist. In einem Brief an einen Kollegen erläutert er seine Sichtweise von der Aufgabe der Wissenschaft:
«Unsere Aufgabe besteht nicht darin, in das Wesen der Dinge einzudringen, dessen Bedeutung wir ohnehin nicht kennen, sondern Konzepte zu entwickeln, mit deren Hilfe wir in fruchtbarer Weise über die Phänomene in der Natur sprechen können.»
An anderer Stelle brachte er denselben Gedanken etwas deutlicher zum Ausdruck: «Es gibt keine Quantenwelt. Es gibt nur eine abstrakte quantenphysikalische Beschreibung. Es ist falsch zu denken, die Aufgabe des Physikers sei zu ergründen, wie die Natur wirklich ist. Die Physik bezieht sich auf das, was wir über die Natur sagen können.» Am Beispiel des Wasserstoffatoms können wir Bohrs Einstellung verdeutlichen. Die Frage lautet nicht mehr: «Wie ist das Atom wirklich aufgebaut?», sondern: «Mit welcher Wahrscheinlichkeit finden wir das Elektron hier oder dort?»
Die höchste Form der Realität ist nach Bohr nicht mehr das Ding an sich, sondern die Menge all unserer Informationen über das Ding, quantifiziert in den Begriffen der Wahrscheinlichkeit. Die Wellenfunktion, in der diese Information kodiert ist, besitzt daher mehr Realität als die Vorstellung von einem Elektron, das wie ein Planet den Atomkern umkreist.
Dass Bohr sich so ausgedrückt hat, dass das ganz anders klingt, liegt einfach nur daran, dass diese Idee damals, als er diese Zeilen schrieb, ausgesprochen revolutionär war. Damals erwarteten die meisten Physiker noch, dass eine objektive Realität auf ein klassisches Teilchen- oder Wellenkonzept hinauslaufen müsse, und weil die Wellenfunktion eben keines von beidem war, sondern ein völlig neuartiges Prinzip darstellte, sah sich Bohr zu einer so obskuren Umschreibung veranlasst.
Bohr betonte z.B. auch, dass es einen Welle-Teilchen-Dualismus gebe, und dass Welle und Teilchen zueinander "komplementär" seien - beschrieb damit aber einfach nur den Sachverhalt, der auch durch die Heisenbergsche Unschärferelation ausgedrückt wird, dass nämlich die Wellenfunktion entweder scharf im Ortsraum lokalisiert sein könne ("Teilchen") und entsprechend unscharf im Impulsraum, oder umgekehrt scharf im Impulsraum und dafür entsprechend unscharf im Ortsraum ("Welle"). Was beides vollständig durch das Konzept der Wellenfunktion beschreibbar ist und daher die Annahme eines Welle-Teilchen-Dualismus überflüssig macht.
Kurzum: Bohr hatte die Angewohnheit, seine Ideen, da sie halt für die damalige Zeit sehr unkonventionell waren, sehr mysteriös klingend zu formulieren, deswegen muss man mit vorschnellen Schlüssen aus seinen Formulierungen vorsichtig sein.