closs hat geschrieben:Halman hat geschrieben:Sind die Muslime deutlich in der Minderheit, entspricht ihre Situation der mekkanischen Phase und sie passen sich an, sind sie hingegen in der Mehrheit, entspricht dies der medinensischen Phase und dann setzen sie die Scharia durch (s. die Geschichte des Libanon in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts).
Vielleicht ist es so - vielleicht nicht. - Wäre so, würde ich medinesische Moslems mit Christen vergleichen, die die AT-Gesetzgebung durchsetzen wollen. - Hinzu kommt, dass "die Scharia" eine ganz normale Gesetzgebung ist, die wenig mit dem zu tun hat, was in den Medien als "Scharia" verkauft wird. - Anders gesagt: Im AT steht ja AUCH, dass Homosexuelle getötet werden müssen, etc.
Nun kann man einwenden, dass es im Islam ja kein NT gäbe - das ist wohl richtig. - Aber das gibt es im Judentum genauso wenig. - Mich würde interessieren, wie sich heutige religiöse Gesetzgebungen des Judentums von deren alten Gesetzgebungen unterscheiden. - WENN sie sich unterscheiden, gäbe es Entwicklung auch ohne den Paradigmenwechsel eine NT. - Bist Du diesbezüglich orientiert?
Die Evolution des jüdischen Glaubens ist untrennbar mit ihrer Geschichte verwoben. Das Judentum hat unter den mir bekannte Religionen den stärksten geographischen Bezug. Die Erfüllung der rituellen Opfergebote kann nicht in jeder beliebigen Synagoge in der Diaspora erfolgen, sondernd ist am TEMPEL auf dem TEMPELBERG gebunden.
Nun wurde die heilige Stadt Jerusalem und der Tempel von den Römern im Jahre 70 n. Chr. im ersten jüdischen Krieg vernichtet. Vor einigen Tagen hatte ich Novalis
HIER einiges dazu erklärt. (Ich vermute, dass Dich der verlinkte Beitrag wirklich interessieren könnte.)
Hinzu kommt, dass vor dem jüdischen Krieg verschiedene jüdische Strömungen miteinander um die rechte Interpretation der Torah stritten: Sadduzäer, Pharisäer, Zeloten und Sikarier, Essener, Qumran-Leute, die Täuferbewegung von Johannes dem Täufer (die gnostischen Mandäer sind vermutlich darauf zurückzuführen) und die jesuanische Messias-Strömung „der. Weg“, dessen Anhänger in Antiochia (Syrien) später "Christen" genannt wurden.
Die Sadduzäer richteten sich streng nach der Torah und sie waren die elitäre religiöse Gruppe, da sie den Tempel verwalteten. Mit der Vernichtung des Tempels durch die Römer verschwand diese Gruppe weitesgehens, zum einen, weil die Meisten von ihnen abgeschlachtet wurden, zum anderen, weil die wenigen Überlebenen die Basis ihrer Autorität, den Tempel, verloren hatten.
Als der Bar-Kochba-Aufstand im Jahre 135 n. Chr. von den Römern niedergeschlagen wurden, versiegte auch der Einfluss der Zeloten und Sikarier.
Die Essener und Qumran-Leute gerieten im Laufe der Geschichte in Vergessenheit. Als einflussreiche religiöse Gruppe blieben die Pharäsier, aus denen das rabbinische Judentum hervorging. Sie schrieben ihre mündliche Mischna im zweiten Jahrhundert nieder. (s. bitte mein Beitrag
Sa 9. Mai 2015, 22:01).
In der Spätantike verfassten die Rabbiner die Gemara. Der Talmud wurde bis etwa zurzeit der Gründung des Islam und dem Beginn des Wirkens der Masoreten vollendet.
Im SciFi-Forum war der kundige User
C.Baer so freundlich, mir zu antworten:
Im 1-2. Jahrhundert nach der Zeitenwende wurde die mündliche Tora, d.h. genauer gesagt der pharisäische Konsens der Auslegung der Tora in der Mischna (= Wiederholung) schriftlich niederlegt.
Auf Basis von Tora + Mischna entstanden bis zum 5. bzw. 7. Jahrhundert der (später wenig einflussreiche) Jerusalemer Talmud und der (heute als der Talmud bekannte) Babylonische Talmud.
Diese Werke fügen der Mischna die Gemara hinzu: dokumentierte Diskussionen der Rabbinen zu den einzelnen Fragen des Gesetzes - Diskussionen die ein weites Feld abdecken bis hin zu kleinen religiösen Legenden und Gleichnissen, verschiedene Meinungen anbieten und am Ende manchmal mehr als eine Position gleichberechtigt gelten lassen.
Der Talmud ist also die Tora mit 2 Kommentarebenen: Mischna und Gemara, wobei der Textanteil der Tora selbst nur noch sehr gering ist und die Gemara sehr ausführlich ist.
Der Talmud ist durch Ordnungen und Traktate nach Themen gegliedert, sodass man zügig themengebunden Auslegungen und Lehrmeinungen nachschlagen kann.
Der
Talmud umfasst in der deutsche Ausgabe ein Dutzend Bände.

Es ist also keineswegs so, dass der Tanach (AT) im Judentum unkommentiert wäre. Zwar gibt es bei ihnen kein NT, aber dafür haben die Rabbinen die talmudische Traditation entwickelt.
Nun zum Islam.
Im sunnitischen Islam wird der Koran mit Hilfe von zehn Quellen der Sunnah ausgelegt. Darin unterscheiden sich übrigens die verschiedenen islamischen Strömungen: Zwar haben alle den Koran, aber in der Bewertung der Sunnah differieren sie.
Bei den Sunniten erfolgt die Koranexegese meiner Kenntnis nach mehrheitlich nicht philosophisch, sondern
sunnitisch (traditionell) und gem. der TafsÄ«r al-JalÄlayn.
Die klassische „Tafsir“ (
Koranexegese), gem. dem klassischen und anerkannten Exegese-Büchern von Al-Razi, Ibn Kather bis Al-Qurtubi und At-Tabary, erfolgt auf Grundlage der sechs Sahih-Hadith-Sammlungen. Erwähnt seien hier Sahih Bukhari (* 810, ✠870)
 und Sahih Muslim (* 821, ✠875). Darin steht auch einiges
zum Jihad.
Hinzu kommt die SÄ«ra-Literatur. Die älteste Prophetenbiographie stammt von Ibn IshÄq.
Nachtrag:
Zur "schwulen Frage" habe ich Dir einen Vortrag von Prof. S. Zimmer rausgesucht.