Tyrion hat geschrieben:
Inwiefern kannst du der Logik des Autors nicht folgen? Dass du die Meinung nicht teilst und den Artikel tendenziös findest, verstehe ich ja (es ist auch keine Fachpublikation in einem peer reviewd Jorunal). Wo kannst du der Logikkette nicht folgen, wo sind sachliche Fehler? Oder hat er im Grunde recht, nur gefällt dir das nicht? (Ohne Widerspruch könnte man es so auffassen)
Ich kann der Logik folgen, diese ist aber nicht stringent. Zumal sich der Autor in Andeutungen gefällt, d.h. vor klaren Aussagen zurückscheut.
Beispiel:
Der Autor schreibt im ersten Absatz, nachdem er eine Liste von Grausamkeiten aufgezählt hat, die im Verlauf der Geschichte von Europäern begangen wurden, oft im Namen der Religion
Die Gewalt, die von Christen ausgeübt und von ihnen mit der christlichen Religion legitimiert wurde, hatte immer mit gesellschaftlicher Machtausübung und mit materiellen Interessen zu tun. Das Christliche diente häufig nur als Fassade, hinter der sich ganz andere soziale Kräfte Geltung verschafften.
Es wäre jetzt wissenschaftlich, Indikatoren zu entwickeln, wie man erkennen kann, wann eine Tat - speziell auch Gewalt - welchen sozialen Kräften als Ursache zuzuordnen ist. So sind soziale Unterschiede oft Auslöser von Gewalt, politische Machtkämpfe ebenso, Missernten, Änderungen im politischen Gleichgewicht usw.
Waren die Kreuzzüge jetzt religiös oder politisch motiviert (es gibt gute Gründe, die Ursache in der Politik zu suchen), war der Kampf gegen die indigenen Ureinwohner Amerikas religiös oder wirtschaftlich motiviert (es gibt gute Gründe, dass es wirtschaftliche Gründe waren) usw.
Aber darauf geht der Autor nicht ein. Stattdessen beginnt er einen Exkurs über religiöse Gesetze.
1. Angeblich errichtet Jesus Aggressionstabus
Dass das gar nicht korrekt ist, bemerkt der Autor nicht.
Korrekt ist, dass Jesus auf die tiefere Ursache von Gewalt hinweist. Gewalt entsteht im Kopf. Eigentlich ist das eine recht moderne Aussage, die z.B. bei den Forschungen zu Amokläufen aktuell ist. Der typische Amokläufer frisst seine Gewaltphantasien oft jahrelang in sich hinein, bevor sie ausbrechen.
Die Psychologie empfiehlt hier, den potenziellen Täter früh zu identifizieren und mit ihm zu arbeiten, dass es nicht zu einem solchen Aggressionsstau kommt.
Dasselbe gilt auch für moderne soziale Empfehlungen, wie Gewalt gegen Frauen, Gewalt in der Familie, Fremdenhass usw. Immer wird heutzutage empfohlen, dass man sein Denken ändert, seine Sprache ändert, aktiv an sich arbeitet.
Die Zeit Jesu kannte noch keinen Psychotherapeuten, an dessen Stelle stand Gott. Jesus sagt, dass man seine Aggressionen bei Gott abgeben soll, dass man sie mit Hilfe Gottes überwinden soll. Im Grunde ist das eine psychotherapeutische Frühform, die auch eine Institutionalisierung in Form der Seelsorge hat. Dass Seelsorge zu oft in Machtausübung umgeschlagen ist, hat zur Folge, dass diese Therapie eben oft nicht korrekt funktionierte.
Aber Vinnai sagt einfach "das Christentum definiert Tabus und dadurch entsteht Frustration und dadurch Gewalt". Er macht das, um damit indirekt zu sagen "die Gewalt hat ihre Ursache in der Religion", ohne auf die Frage einzugehen, dass sie ihre Ursache auch in anderen sozialen Mechanismen haben kann.
2. Angeblich errichtet Jesus Sexualtabus
Hier gilt ähnliches. Nun war Sexualität tatsächlich oft tabuisiert, aber es ist eigentlich bekannt, dass die Ursache die patriarchalische Gesellschaftsstruktur war, also eine soziale Ursache. Man kann das aber gut an den kommunistische Regimen sehen z.B. DDR oder China, die - vollkommen ohne Religion - eine starke Tabuisierung von Sexualität zeigen.
Auch hier geht der Autor nicht auf das Henne-Ei Problem ein. Wurde Sexualität tabuisiert wegen der Gesellschaftsstruktur oder der Religion. War Religion die Ursache oder Deckmantel?
Die im NT überhöhte Darstellung der sexuellen Sünde hat theologische Gründe. Das kann Vinnai natürlich nicht erkennen, da er diesen Teil schlicht ausblendet. Der theologische Grund liegt im Grundverständnis der Gesetze. Im Judentum galt noch die Devise "Gesetze verdienen dir das Wohlwollen Gottes und sind der einzige Weg in den Himmel". Israel definierte sich über das Gesetz.
Genau dagegen stellt Jesus seine Aussage "jeder ist sündig, niemand kann von sich aus gerecht werden". Das Ziel ist die Rettung durch Glaube.
Nun kann man berechtigterweise einwenden, dass das so ziemlich lange nicht gelebt wurde. Nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, wandelte es sich von einer Befreiungsreligion in eine Gesetzesreligion. Das hat meines Erachtens gesellschaftliche Ursachen. Erst durch Luther wurde die wahren Werte des Urchristentums wiederentdeckt und dann mit der Gegenreformation auch in eine Reform der katholischen Kirche eingebracht.
Tyrion hat geschrieben:
Würden die Kirchen auch Toleranz predigen, wenn sie noch so viel Macht hätten wie früher?
Genau das frage ich mich auch. Und ich habe das oft genug hier geäußert - den Kirchen wurde unter Opfer vieler Menschenleben die direkte Macht genommen. Seitdem ist Ruhe mit christlich motivierten Gewaltexzessen bei uns. Wie wäre es aber, wenn die Kirchen die Macht zurück bekämen?
Die Antwort ist meines Erachtens recht klar. Wird Religion mit Macht verbunden, dann greifen die Gewaltmaßnahmen der Macht. Diese würden also zum Vorschein kommen und dann zusätzlich Religion als Feigenblatt haben.
Tyrion hat geschrieben:
Da finde ich die Logikkette des Autoren schlüssig.
Schlüssig kann eine Logikkette nur sein, wenn sie eindeutig ist.
Das gilt aber bei dem Thema nicht. Es gibt viele Aspekte, die der Autor einfach ignoriert hat und seine Allgemeinplätze sind keineswegs geeignet, einen logischen Zusammenhang herzustellen.
So ist der Allgemeinplatz "sexuelle Tabuisierung kann Gewaltneigung verstärken" keineswegs geeignet zu begründen "die Ausrottung der Indianer in Amerika hatte ihre Ursache in der sexuellen Unterdrückung der Siedler".
Das sagt Vinnai auch nicht, denn so direkt im Zusammenhang wird der Unsinn dieser Logikkette zu deutlich
Stattdessen macht Vinnai etwas sehr Hinterhältiges.
Er erklärt den Allgemeinplatz (und sagt damit die Wahrheit) und lässt das kommentarlos in dem Zusammenhang stehen. Den (falschen) Schluss darf der Leser ziehen - so wie du das tust - Herr Vinnai kann sich seine Hände in Unschuld waschen.
Die typische Vorgehensweise von Demagogen.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.