Descartes und die menschliche Seele

Philosophisches zum Nachdenken
closs
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#591 Re: Descartes und die menschliche Seele

Beitrag von closs » Mi 26. Okt 2016, 19:06

Pluto hat geschrieben:Weil die Dame, wie Descartes selbst auch, in ihrem Denken im 18. Jahrhundert stehen geblieben ist. Der Unterschied: Descartes kann nichts dafür, Frau Zunke kann aber ser wohl was für ihre offensichtliche Ignoranz der Faktenlage.
Lieber Pluto, Du verwechsest echt etwas.

Die zweifellos vorhandenen Erkenntnisse der Neuroforschung haben wirklich nichts mit der Frage zu tun, zu der sich Descartes und die Dame äußern.

SilverBullet
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#592 Re: Descartes und die menschliche Seele

Beitrag von SilverBullet » Mi 26. Okt 2016, 19:27

closs hat geschrieben:Wo ist ein Argument gegen Descartes, wenn er sagt, dass das, was (sogar sich selbst!) anzweifelt, eine Entität namens Ich ist ist?
Es ist exakt und präzise genau dasselbe Argument, mit dem der Zusammenhang eines wirklichen Köpers angezweifelt wird:
Existenzzusammenhänge sollen nicht deshalb gültig sein, nur weil sie verarbeitet werden.

Das gehört zu den Spielregeln.

Wenn nun der Körper als „anzweifelbare Existenz“ eingestuft wird, dann muss dies mit derselben Berechtigung auch für die „Ich“-Existenz erfolgen, denn auch das ist nur ein Zusammenhang.

Wenn du behauptest, dass „Ich“ ein Zusammenhang sei, der die Wirklichkeit einer „Ich-Denk-Existenz“ sicherstellt, dann ist „Körper“ ganz einfach ein Zusammenhang, der die Wirklichkeit einer „Körperexistenz“ mit „Ich == Körper“ sicherstellt.

Damit ist aber dann, das Spiel (das Descartes vorgibt zu spielen) nicht ausgeführt.

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Es kann nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass am Ende halt doch willkürlich geurteilt werden soll -> Religion/Philosophie – wem soll das etwas bringen?
Jemandem, der Dinge zu Ende denken will und nicht nur methodisch denkt.
Wohl eher Leuten, die Spielregeln aufstellen wollen, bei denen sie selbst entscheiden wollen, wann sie sie einhalten und wann nicht.

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Spielregeln aufstellen und sie dann zu brechen, ist keine Frage der Sichtweise.
WESSEN Spielregeln? Denen Deiner MEthodik?
Na, wohl eher Descartes Spielregel:
Sinngemäss: „Einmal möchte ich in meinem Leben alles umstossen und, von den Grundlagen aus, neu beginnen“.

Das „von den Grundlagen aus“ hat dann ja wohl nicht so ganz geklappt.

closs hat geschrieben:
SilverBullet hat geschrieben:Das steht in der Wahrnehmung nicht direkt zur Verfügung
In diesem einen Fall schon
Damit ist die "Zirkusnummer" entlarvt – du möchtest entscheiden, welcher Zusammenhang auf eine „gültige Existenz“ deutet und dies dann als „sicher“ titulieren.

So etwas nennt man „wünschen“.

closs hat geschrieben:Wenn gezweifelt wird, bedarf es eines Zweifelnden. - Sobald also gezweifelt wird, gibt es einen Zweifelnden. - Das hat mit Körper und Nicht-Körper überhaupt noch nichts zu tun.
Das ist nicht korrekt.

Es gilt:
Wenn gezweifelt wird, muss es zu den Zusammenhängen und den Abläufen von Zweifel kommen. Ob man dies dann als „den Zweifel eines Jemanden“ ansehen kann, hängt davon ab, wie und wodurch die Zusammenhänge und Abläufe aufgestellt werden.

closs hat geschrieben:Ob dieser zweifelnd-reflektierende Kandidat es mit dem Gehirn, dem Hintern oder körperlos macht, ist hier nicht das Thema.
Doch, denn das Thema heisst „Descartes und die menschliche Seele“.

Die Behauptung „körperlos“ kann in keiner Weise mit anderen Zusammenhängen in Verbindung gebracht werden => es kann keine Korrektheit aufgestellt werden.
Wenn man es genau nimmt, kann damit gar nichts aufgestellt werden.

Beim Körper ist dies jedoch möglich. Hier kann man das „Wie“ und „Wodurch“ nachvollziehen. Sogar die Berücksichtigung einer evolutionären Entstehungsgeschichte reiht sich prima in die Zusammenhänge ein, so dass sich ein sauberes Korrektheitsbild ergibt.

closs hat geschrieben:Wenn gezweifelt wird, bedarf es eines Zweifelnden. - Sobald also gezweifelt wird, gibt es einen Zweifelnden. - Das hat mit Körper und Nicht-Körper überhaupt noch nichts zu tun.
Das ist eine Suggestion von jemandem, der zu seiner Behauptung keine weiteren Zusammenhänge liefern kann – ist es jetzt nicht gerade „schwer beeindruckend“.

closs hat geschrieben:Befreie Dich von methodischen Setzungen und Modellen und lasse die Logik knallhart zuschlagen.
„Knallhart zuschlagen“ bedeutet anscheinend „sich das heraussuchen, was man sich wünscht und danach so tun, als ob dies absolut sicher wäre“.

Das hat mit Logik nichts zu tun.
Du führst oft den Begriff „Logik“ an, aber du entwickelst nichts, sondern greifst dir einen Zusammenhang heraus und behauptest seine Gültigkeit.
Du startest deine Behauptung mit „es ist sicher“ und beendest sie mit „er löst das Problem indem er auf Gott vertraut“ – „knallharte Logik“ sollte nun doch noch etwas anderes sein.

Novas
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#593 Re: Descartes und die menschliche Seele

Beitrag von Novas » Mi 26. Okt 2016, 19:40

Pluto hat geschrieben:Weil die Dame, wie Descartes selbst auch, in ihrem Denken im 18. Jahrhundert stehen geblieben ist. Der Unterschied: Descartes kann nichts dafür, Frau Zunke kann aber ser wohl was für ihre offensichtliche Ignoranz der Faktenlage.

Niemand von uns ist im Besitz der Wahrheit, darum könntest Du ganz gelassen darauf reagieren. Who cares? ;) Die Annahme, dass das Gehirn Geist erzeugt, ist eine zulässige Sichtweise. Wenn Du dir sicher bist, dass das wahr ist, sollte es auch erlaubt sein, diese Annahme zu hinterfragen. René Descarte sagte diese bedenkenswerten Worte: „Der einzige Grund, warum viele Leute denken, die Existenz Gottes und das Wesen der Seele seien schwer zu erkennen liegt darin, das Sie Ihren Geist niemals von den Sinnen ablenken und über die Körperwelten erheben.

Damit greift er niemanden an, er spricht nur eine Tatsache aus: der Mensch ist hauptsächlich fixiert mit seinen Sinnen in den „Körperwelten“, der Bereich der „Faktenlage“ von der Du sprichst (die „spirituelle Welt“ ist umgekehrt die Welt des Geistes und Bewusstseins, die nicht so leicht greifbar ist). Daraus kann aber nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das nun gefälligst für alle und für allezeiten alles zu sein habe. Selbst wenn es ein führender Hirnforscher sagt, ein Astronaut oder der Vorsitzende des Kegelclubs, das spielt keine Rolle.
Zuletzt geändert von Novas am Mi 26. Okt 2016, 20:10, insgesamt 1-mal geändert.

JackSparrow
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#594 Re: Descartes und die menschliche Seele

Beitrag von JackSparrow » Mi 26. Okt 2016, 19:46

Novalis hat geschrieben:Mystische Erfahrungen, poetisches Empfinden und religiöses Erleben (was ein sehr weites Feld ist) sind typisch menschliche Erfahrungen,
Das sind körperliche Extremzustände, die weder lebenswichtig (weil das ansonsten von Geburt an unser Normalzustand wäre) noch auf Dauer sonderlich angenehm sind (frag mal einen Schizophrenie-Patienten oder einen LSD-Konsumenten auf Horrortrip).

Ein gesunder Körper ist ständig bestrebt, solche Zustände zu vermeiden. LSD kann nur wirken, weil es a) die Blut-Hirnschranke durchdringt und b) in einer so hohen Dosis eingenommen wird, dass es von den zuständigen Enzymen nicht mehr schnell genug abgebaut werden kann. Würde unser Körper wollen, dass wir solche Zustände erleben, würde sogar Käse psychedelisch wirken. Da sind nämlich ähnliche Substanzen drin.

Es gibt auch Atheisten, die dem zustimmen und keinen Grund sehen dergleichen abzuwerten. Selbst wenn Du es rein vom Gehirn her siehst: eine Gotteserfahrung kann als ein „besonderer Hirnzustand“ beschrieben werden
Ich bezweifle nicht die Erfahrung. Ich bezweifle ihren Nutzen. Möglicherweise eignet sich die Erfahrung dazu, die Funktionsweise des eigenen Denkens zu erforschen (jeder Neurologe sollte mal einen psychedelischen Trip gehabt haben). Aber nicht, um neue Hypothesen über das Universum aufzustellen.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass das menschliche Streben nach künstlicher Intelligenz daher kommt, dass er etwas in sich selbst verloren hat und es nun in der Maschine wiederfinden möchte,
Ich denke, dieses Streben entspringt entweder einem Mangel an billigen [d]Arbeitssklaven[/d] Arbeitskräften oder einem Mangel an sozialen Kontakten. Nun versuchen wir beides durch technologischen Fortschritt auszugleichen.

Technologischer Fortschritt ist wichtig und nützlich, aber der alleine kann uns auch nicht retten.
Da in den Industrieländern mit steigender Lebenserwartung gleichzeitig die Geburtenrate sinkt, gefährdet der technologische Fortschritt offenbar das Überleben unserer Spezies. Aber womit soll man sonst Geld verdienen...

Novas
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#595 Re: Descartes und die menschliche Seele

Beitrag von Novas » Mi 26. Okt 2016, 19:48

JackSparrow hat geschrieben:
Novalis hat geschrieben:Mystische Erfahrungen, poetisches Empfinden und religiöses Erleben (was ein sehr weites Feld ist) sind typisch menschliche Erfahrungen,
Das sind körperliche Extremzustände, die weder lebenswichtig (weil das ansonsten von Geburt an unser Normalzustand wäre) noch auf Dauer sonderlich angenehm sind (frag mal einen Schizophrenie-Patienten oder einen LSD-Konsumenten auf Horrortrip).

Eine echte mystische Erfahrung ist nicht identisch mit einem Drogenrausch. Lese zum Beispiel ein Buch von Thomas Merton, dann wird Dir eher auffallen, dass es umgekehrt ist: eine solche Erfahrung geschieht bei klarem Bewusstsein. Es ist - wie gesagt - eher eine Sensibilsierung, Erweiterung und Lichtung der Wahrnehmung, nicht eine Verwirrung. Deshalb wird es auch als heilsam erlebt.
Die Psychologie spricht weniger von mystischen Erfahrungen, aber von Flow- and Peak-Experiences (Gipfelerfahrungen). Sehr viele Menschen haben dergleichen schon erlebt, auch wenn sie das nicht ins Megaphon hinaus posaunen. Deshalb macht es keinen Sinn, wenn man das einfach beiseite wischt und behauptet, diese Menschen seien alle verwirrt und das sei bedeutungslos. Nein, das gehört alles zum menschlichen Bewusstsein. Wer Bewusstsein verstehen will, muss auch solche Erfahrungen ernst nehmen.
Zuletzt geändert von Novas am Mi 26. Okt 2016, 20:09, insgesamt 1-mal geändert.

JackSparrow
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#596 Re: Descartes und die menschliche Seele

Beitrag von JackSparrow » Mi 26. Okt 2016, 20:08

Novalis hat geschrieben:Lese zum Beispiel ein Buch von Thomas Merton, dann wird Dir eher auffallen, dass es umgekehrt ist: eine solche Erfahrung geschieht bei klarem Bewusstsein.
Ironischerweise fühlt man sich gerade auf einem psychedelischen (Drogen-)Trip bei ganz besonders klarem Verstand und empfindet dabei die "gewöhnliche" Realität als falsch und unecht.

Um aber festzustellen, was ein "klares Bewusstsein" ist, muss man vom Normalzustand ausgehen - der ja schließlich von der Evolution bevorzugt wurde und Milliarden von Menschen das tägliche Überleben ermöglicht. Eine Abweichung vom Normalzustand ist eben nicht "klar", sondern pathologisch (= krankhaft).

Pluto
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#597 Re: Descartes und die menschliche Seele

Beitrag von Pluto » Mi 26. Okt 2016, 20:15

Novalis hat geschrieben:Eine echte mystische Erfahrung ist nicht identisch mit einem Drogenrausch. Lese zum Beispiel ein Buch von Thomas Merton, dann wird Dir eher auffallen, dass es umgekehrt ist: eine solche Erfahrung geschieht bei klarem Bewusstsein.
Darin stimme ich mit dir vollkommen überein! :D

Worin wir unterschiedlicher Meinung sind, ist die Herkunft dieser sog. mystischen Erfahrungen.
Du meinst sie sei ein Zeichen des Übernatürlichen, sozusagen ein "Wunder Gottes".
Ich gehe hingegen davon aus, dass der Mensch ein autonomes Wesen ist, und diese Erfahrungen aus unserem Gehirn und Geist selbst entstehen.
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

Novas
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#598 Re: Descartes und die menschliche Seele

Beitrag von Novas » Mi 26. Okt 2016, 20:23

JackSparrow hat geschrieben:
Novalis hat geschrieben:Lese zum Beispiel ein Buch von Thomas Merton, dann wird Dir eher auffallen, dass es umgekehrt ist: eine solche Erfahrung geschieht bei klarem Bewusstsein.
Ironischerweise fühlt man sich gerade auf einem psychedelischen (Drogen-)Trip bei ganz besonders klarem Verstand und empfindet dabei die "gewöhnliche" Realität als falsch und unecht

Wer sagt, dass die gewöhnliche Realität falsch und unecht ist? Dergleichen habe ich noch nie behauptet, auch wenn ich die Welt schon mal als illusionär oder traumähnlich bezeichnet habe. Du kannst das mit dem Traum- und Wachzustand vergleichen. Wenn Du aus einem Traum erwachst, dann ist der Traum für Dich illusionär und der Wachzustand „die“ Realität, nicht wahr? Eine mystische Erfahrung bedeutet, dass Du noch mal erwachst, allerdings während Du wach bist.
Mit anderen Worten: Du erwachst in eine umfassendere Erfahrung der Wirklichkeit hinein. Im Vergleich dazu scheint die Welt dann illusionär zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass sie falsch ist, keineswegs. Sie ist dann einfach nicht mehr alles. Für mich ist das so ;)

Um aber festzustellen, was ein "klares Bewusstsein" ist, muss man vom Normalzustand ausgehen - der ja schließlich von der Evolution bevorzugt wurde und Milliarden von Menschen das tägliche Überleben ermöglicht

Ganz einfach: klares Bewusstsein bedeutet, dass der Geist still und friedvoll in sich ruht, sodass von keinem Wahn oder Verwirrung gesprochen werden kann. Ich habe das schon erlebt und es war eine Erfahrung unendlichen Friedens, in der ich deutlich erkannte, dass ich an einem größeren „Bewusstsein“ teilhabe – seitdem ist für mich persönlich klar, dass Bewusstsein nicht auf das Gehirn begrenzt ist.


Eine Abweichung vom Normalzustand ist eben nicht "klar", sondern pathologisch (= krankhaft).

Selbst wenn Du das ganz nüchtern betrachtest, so ist es ein besonderer Hirnzustand, der auch durch das Hören von Musik oder das Lesen eines Gedichtes ausgelöst werden kann. Was genau ist daran krankhaft, solange es mich und andere nicht schädigt? Was ist daran krankhaft, wenn es heilsam ist und das Leben sinnreicher macht? Wenn es Menschen dazu treibt, liebevoller zu sein und das Leben mehr zu schätzen?
Wenn Du meinst, dass „anders sein“ pathologisch ist, so genügt ein Spaziergang im Wald: jedes Blatt an einem Baum ist einzigartig. Da marschiert nichts im Gleichschritt. Interessant ist doch die Frage, weshalb die Natur „auf die Idee“ kam menschliche Gehirne hervor zu bringen, die großartige Kunstwerke erschaffen, Symphonien komponieren oder Gotteserfahrungen haben.

Novas
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#599 Re: Descartes und die menschliche Seele

Beitrag von Novas » Mi 26. Okt 2016, 20:47

Pluto hat geschrieben:
Novalis hat geschrieben:Eine echte mystische Erfahrung ist nicht identisch mit einem Drogenrausch. Lese zum Beispiel ein Buch von Thomas Merton, dann wird Dir eher auffallen, dass es umgekehrt ist: eine solche Erfahrung geschieht bei klarem Bewusstsein.
Darin stimme ich mit dir vollkommen überein! :D Worin wir unterschiedlicher Meinung sind, ist die Herkunft dieser sog. mystischen Erfahrungen. Du meinst sie sei ein Zeichen des Übernatürlichen, sozusagen ein "Wunder Gottes". Ich gehe hingegen davon aus, dass der Mensch ein autonomes Wesen ist, und diese Erfahrungen aus unserem Gehirn und Geist selbst entstehen.

Das Wort „Wunder“ habe ich nicht gebraucht. Verwunderlich vielleicht, aber kein Wunder. Ich würde es natürlich nennen. Selbstverständlich kannst Du jede Erfahrung sofort auf das Gehirn zurück führen und dann ist auch eine Gotteserfahrung nur ein besonderer Hirnzustand. Interessant finde ich eher die Frage ob solche Erfahrungen, die zweifellos mit einem besonderen Hirnzustand einher gehen und so beschrieben werden können, uns einen wichtigen Einblick in die Natur der Wirklichkeit geben.
Mit anderen Worten: wenn ich tatsächlich ein Bewusstsein erlebe, welches über mich selbst hinaus geht, dann vielleicht deshalb, weil es wirklich existiert und es eben nicht nur eine bedeutungslose Einbildung ist.

Das ist möglich. Vielleicht ist Bewusstsein ein fundamentaler Bestandteil der gesamten Natur der Wirklichkeit und all jene, die das Gegenteil behauptet haben, irrten sich einfach. Ein Wissenschaftler muss offen sein für die Möglichkeit, dass er sich geirrt hat, um zu weiteren Erkenntissen zu kommen.

Vielleicht leben wir in einem bewussten Kosmos:


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#600 Re: Descartes und die menschliche Seele

Beitrag von Halman » Mi 26. Okt 2016, 21:00

Pluto hat geschrieben:
fin hat geschrieben:Closs hatte bereits einen Aspekt aufgeführt.
closs hat geschrieben:Im Grunde sagt sie, dass man "Geist" nicht biologistisch vereinnahmen und diese Hypothese verabsolutieren kann.
Das ist eine sehr gewagte Behauptung. Ihr widersprechen tausende Hirnforscher mit ihren Experimenten, die den Ursprung von Geist erklären.
Dem mag man entgegenhalten, dass man damit einen "Geist" jenseits der Biologie nicht wiederlegen kann. Könnte man diese Diskussion nicht auf folgende zwei Thesen herunterbrechen:
1. Der menschliche Geist wird von neurologischen Erregunsmustern erzeugt und ist somit ein Innenaspekt des Gehirns. Der menschliche Geist ist Resultat hochkomplexer Hirnprozesse.
2. Hirnfunktionen korrelieren mit dem Geist, aber es besteht keine Kausalität. Der Geist existiert unabhängig von biologischen Prozessen, der Geist wird nicht vom Gehirn erzeugt. Ein materielles Organ kann keinen komplexen Geist mit Bewusstsein hervorbringen.

Beide Sichtweisen kann man offenbar vertreten. Sind beide Thesen gleichwertig, weil sie das Selbe unterschiedlich erklären? Mag sein.
Die zweite These führt eine supernaturalistische Ebene ein. Grundsätzlich habe ich nichts dagegen, doch warum wird die Möglichkeit der ersten These verneint? Weil man einem materiellen Organ diese Fähigkeit abspricht. Hirnforscher sind da anderer Meinung und sie sind die Experten auf diesem Gebiet.
Ich denke, dass Supernaturalisten der Natur und der Materie zu wenig zutrauen. Sie empfinden es als "Kränkung", auf Materie reduziert zu werden. "Ich habe doch Würde! Meinen Geist biologistisch vereinnahmen beraubt mich ja dieser." Doch stimmt das?
Dass ich gewissermaßen aus Staub gemacht bin, beraubt mich doch nicht meiner Würde. Oder spricht man einem Kunstwerk dadurch seinen Wert ab, indem man erkennt, dass es aus ganz gewöhnlichen Materialen besteht?

Meiner Meinung nach zeigt die Hirnfoschung recht überzeugend, dass die Korrelation zwischen Hirnfunktionen und dem menschlichen Geist kausaler Natur ist und der Geist tatsächlich vom Gehirn auf natürliche Weise erzeugt wird.
Da mag man versucht sein, das Gehirn mit einem Computer zu vergleichen, doch dieser Vergleich hinkt gewaltig, denn das Gehirn funktioniert völlig anders als ein Computer.
Zitat von Wolf Singer (s. PDF-Datei):
Das menschliche Gehirn verkörpert fraglos das komplexeste System im uns bekannten Universum – wobei komplex nicht einfach für kompliziert steht, sondern im Sinne der Komplexitätstheorie als terminus technicus spezifische Eigenschaften eines Systems benennt, das aus sehr vielen aktiven, miteinander auf besondere Weise interagierenden Einzelelementen besteht.
Obiges Zitat ist W. Singers Artikel Das Gehirn – ein Orchester ohne Dirigent entnommen, welches auf seinen Festvortrag auf der Jahresversammlung der Max-Planck-Gesellschaft in Rostock (2005) basiert.

Zwar machte die Hirnforschung in der Dekade seit diesem Festvortrag bis heute große Fortschritte, doch ist Singers oben zitierte grundlegende Aussage meiner bescheidenen Kenntnis nach auch heute noch aktuell.
Bemerkenswert erscheint mir Singers Aussage über dieses komplexe Hirnsystem im folgenden Absatz:
Zitat von Wolf Singer (s. PDF-Datei):
Solche Systeme zeichnen sich durch eine hoch nichtlineare Dynamik aus; sie können Qualitäten hervorbringen, die aus den Eigenschaften der Komponenten nicht ableitbar sind – und sie sind kreativ: Sie können nahe zu unendlich viele Zustände in hochdimensionalen Räumen einnehmen und dabei neue, unvorhersehbare Muster ausbilden. Das liegt daran, das sie sich selbst organisieren und ohne den koordinierenden Einfluss einer übergeordneten Instanz hochgeordnete, metastabile Zustände einnehmen können.
Wolf Singer negiert kathegorisch eine übergeordnete Willens-Instanz; er ist Experte für das visuelle System und beschreibt das distributiv arbeitende Gehirn.
Doch laut Hans Helmut Kornhuber (✝ 2009) und Prof. Lüder Deecke arbeitet unser Gehirn nicht nur distributiv, sondern auch hierarchisch. In Deeckes Artikel Unter Zwang läuft alles schlechter, der auf seinen Vortrag „Freiheit und Kreativität“ (2010) basiert, wird ausgesagt:
Die Klinische Neurologie hat das größte Erfahrungsgut über Fähigkeiten und Gehirn des Menschen gesammelt. Diese Erfahrung hat zu zwei Theorien („Modellen“) über die Hirnfunktion geführt: erstens ein „hierarchisches“ System neben- und übergeordneter Zentren; dafür sprechen spezifische Ausfälle bei lokalisierten akuten Hirnläsionen, auch die Fähigkeit zur vernünftigen Selbstführung des Menschen, die Ergebnisse der funktionellen Kernspintomografie und die Hirnpotentiale. Zweitens ein verteiltes System, in dem durch Leitungen das meiste mit vielem anderen verbunden ist und das seine Leistungen stets durch ausgedehnte Zusammenarbeit hervorbringt. Dafür sprechen das assoziative Gedächtnis und die allmähliche Erholung von Funktionen (mit Hilfe von aktiver Übung) nach Läsionen, aber auch die Histologie und Hodologie cerebraler Netze.
Dies tangiert aber m.E. nicht die Korrektheit folgender Festellung von Singer:
Zitat von Wolf Singer (s. PDF-Datei):
Denn mit ihnen lassen sich Probleme der Informationsverarbeitung sehr viel eleganter bewältigen als mit linearen Operationen – etwa, wenn es darum geht, Muster zu erkennen, Kategorien zu bilden, große Mengen von Variablen assoziativ zu verknüpfen oder Entscheidungen zu treffen.
Dazu passt meiner Meinung nach ergänzend, was Kornhuber und Deecke über die Besonderheit des menschlichen Assoziatonscortex' aussagen:
Zitat aus Wille und Gehirn (Seite 91):
Dass der Mensch ein geistig überlegenes Wesen ist, ist nicht nur Tatsache, sonern vor allem auch eine Verpflichtung, ... Die Grundlage dieser Überlegenheit ist aber nicht die Zweifüßigkeit, auch nicht Lustempfindung oder limbisches System (das sich beim Menschen nicht wesentich von den Affen unterscheidet), sondern die enorme Entwicklung des Assoziatonscortex, ... Der Mensch hat aber nicht nur mehr Nervenzellen in seinem Assoziatonscortex als irgendein anders Tier einschließlich der Delphine, er hat auch infolge Zusammenarbeit mit Sprache, Kultur und langer lernender Kindheit unvergleichlich mehr Wissen, und leider hat er diese Überlegenheit oft unverantwortlich genutzt.

In seinem Buch "Die Natur des Bewusstseins" von Prof. Reionhard Werth lautet eine Kapitelüberschrift: Die Entstehung des Bewusstseins aus der Funktion neurnaler Netzwerke.

²Der Begriff Bereitschaftspotential ging als deutsches Fremdwort sogar im angelsächsischen Sprachraum als Fachwort ein.

Zwar mag man nun noch immer einwenden, dass all diese Erkenntnisse einen supernaturalistischen Geist, welcher unabhängnig vom Gehirn existiert, nicht widerlegt, doch zeigen oben genannte Belege nicht recht gut, dass man den menschlichen Geist auch sehr plausibel als Innenaspekts des Gehirns verstehen kann?
Wenn nun beide Thesen gleichwertig sind, welche ist gem. Ockhams Skalpell vorzuziehen? Die einfachere oder die komplizierte mit der zusätzlichen Annahme einer supernaturalistischen Ebene des menschliches Geistes? Ich ziehe die sparsamere vor.
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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