Die werkimmanente Interpretation, ausgehend von der Fragestellung, was die Intention des Autors ist, ist wichtig, kann aber nur ein Aspekt einer Interpretation sein, denn zumeist sagt uns ein Autor in seinen Texten viel mehr, als das, was er uns sagen will. So gibt er uns auch Auskunft darüber, in welcher Welt und welchem Weltbild er lebt, denkt und schreibt. Oder in seinen Texten spiegeln sich gewisse psyschische Befindlichkeiten des Autors selbst, die zwar ein Leser, nicht aber unbedingt der Autor selbst erkennen kann (berühmtes Beispiel ist Kafkas problematische Vater-Beziehung).Die Rezeptionsforschung geht vom Leser aus: Wie versteht er den Text?
Die literaturwissenschaftliche Rezeptionsanalyse hat in dieser Hinsicht genau die gleichen Erkenntnisse wie die kanonische Exegese:
Es gebe drei Bereiche; in den Worten von Egbert Ballhorn:
a. Die Textwelt
b. Die Herkunftswelt des Textes
c. Die Welt des Lesers
Punkt b. wird von der historisch-kritischen Forschung thematisiert
Punkt a. wird von der werkimmenanten Analyse thematisiert, die in der theologischen Forschung heute mit Punkt b. verbunden ist
c. ist ein entscheidender Punkt des Rezeptionsgedankens, der nicht nur in der Literaturwissenschaft und der Theologie immer mehr an Wichtigkeit gewinnst, sondern insgesamt in den Wissenschaften, sogar in den Naturwissenschaften.
Eine Rezeptionsanalyse untersucht nicht nur Punkt c, sondern c in Zusammenhang mit b und a.
Das ist wichtig.
Ich zitiere dazu - aus Bequemlichkeit - aus Wikipedia, und zwar zu Thesen von Wolfang Iser, einem der profiliertesten literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheoretiker ->
Die historisch-kritische Exegese kümmert sich zwar besonders um das, was die biblischen Autoren uns sagen wollen, sie schließt eine rezeptionsästhetische Sicht aber nicht aus. Gerade in der christlichen Exegese muss es sogar darum gehen, die alten christlichen Texte für uns heutige Leser neu zu erschließen. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass dies weniger gut gelingt, wenn man nicht die existenziellen Aspekte dieser Texte hervorhebt, sondern diejenigen, die eigentlich dem noch weitgehend mythischen Welt-Verständnis der antiken Autoren entspringen, wie z.B. ihren Glauben an allerlei wundersame Begebenheiten und dämonische Kräfte etc. Wobei es zu dieser Zeit allerdings auch schon eine gebildete griechische und römische Oberschicht gab, die mit alle dem ebenfalls schon nicht mehr viel anfangen konnte.