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Das Lernen der biblischen Überlieferung im beschriebenen Sinn ist im Judentum immer zentral gewesen und bis heute geblieben. Der Talmud hat eine eigene Regel für das Auswendiglernen im Schulunterricht entwickelt. Sie besteht darin, die Texte, die gelernt werden sollen, viermal zu wiederholen. Durch viermalige Wiederholung hätten schon die Israelitinnen und Israeliten am Sinai die Tora auswendig gelernt und zwar folgendermassen:
Moses lernte im Begegnungszelt von Gott, dann trat sein Bruder Aaron ein und Moses wiederholte für ihn das Empfangene. Aaron setzte sich, seine Kinder traten ein und Moses wiederholte zum zweiten Mal. Sie setzten sich, die Ältesten traten ein und Moses wiederholte zum dritten Mal. Die Ältesten setzten sich, das Volk trat ein und Moses wiederholte zum vierten Mal. So hörte Aaron viermal, seine Kinder dreimal, die Ältesten zweimal und das ganze Volk einmal. Daraufhin verliess Moses das Begegnungzelt und Aaron wiederholte noch einmal, dann ging Aaron und seine Kinder wiederholten, dann gingen sie und die Ältesten wiederholten – so hörten alle viermal die Überlieferung (bEr 54b).9
Diese Struktur von Wiederholungen lässt sich auch im «Herzstück des Markusevangeliums» (Martin Ebner), dem Weg von Galiläa nach Jerusalem (Mk 8,27–10,52) erkennen. Es ist gegliedert durch drei Leidens- und Auferstehungsankündigungen Jesu: Mk 8,31–32; 9,30–32; 10,32–34. Ihre Gemeinsamkeiten sind auffallend, zum Teil gibt es wörtliche Übereinstimmungen. Für Hermann-Josef Venetz erwecken diese drei Ankündigungen «den Eindruck, als ob etwas eingehämmert werden müsste».10
Was hier eingehämmert, was in- und auswendig gelernt werden soll, das erinnert Venetz an das urchristliche Glaubensbekenntnis, das Paulus im Ersten Korintherbrief überliefert: «Christus ist für unsere Sünden gestorben gemäss der Schrift, er ist begraben worden, er ist auferweckt worden am dritten Tag gemäss der Schrift» (1Kor 15,3–5). Dabei geht es aber um mehr als darum, dieses Glaubensbekenntnis auswendig zu lernen und es hersagen zu können. Im Herzstück des Evangeliums geht es um ein existentielles Verinnerlichen und Sich-Aneignen im Vollzug. Es geht darum, das Gelernte zu praktizieren, mit ihm auf dem Weg zu sein, auf dem Weg des eigenen Lebens.
Die vierte Wiederholung
Die Jüngerinnen und Jünger hören diesen «Lernstoff » dreimal. Wo bleibt die vierte Wiederholung? Sie soll sich im Leben der Leserinnen und Leser des Evangeliums ereignen. Dabei ist sich das Evangelium sehr wohl bewusst, dass das alles andere als einfach ist. Die Jüngerinnen und Jünger verkörpern ja auf drastische Weise die Schwierigkeiten diesem Lernstoff gegenüber. Die Leserinnen und Leser sind also vorgewarnt. Sie werden vom Evangelium auf die Blinden verwiesen, die sehend wurden und deren Heilungserzählung den Weg Jesu mit den drei Ankündigungen an die Jüngerinnen und Jünger einrahmen (Mk 8,22–26; 10,46–52). Sie werden eingeladen wie der blinde Bartimäus, dessen Geschichte die Wegerzählung abschliesst, Jesus zu bestürmen und zu schreien, dass ihnen doch endlich die Augen geöffnet werden.
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Quelle