Undogmatischer Atheismus

Philosophisches zum Nachdenken
Benutzeravatar
Savonlinna
Beiträge: 4300
Registriert: So 2. Nov 2014, 23:19

#71 Re: Undogmatischer Atheismus

Beitrag von Savonlinna » Do 10. Dez 2015, 17:12

Savonlinna hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Warum lässt Du die Schelte Kahls auf den Neu-Atheismus weg?
Mir ging es erst mal um die Positionen, die Kahl vertritt. Oder hat er sich inzwischen davon distanziert?
Er hat Stellung zu dem Neu-Atheismus bezogen.
Ich suche irgendwann den Text raus, er wäre aber wirklich leicht hier im Forum zu finden. Jetzt habe ich keine Zeit leider.

So, jetzt habe ich den Text rausgesucht. Er heißt:

Joachim Kahl
Mai 2008
Weder Gotteswahn noch Atheismuswahn
Eine Kritik des „neuen Atheismus“ aus der Sicht
eines Vertreters des „alten Atheismus“

Und daraus zitiere ich jetzt einen Abschnitt ab Seite 15 bis Schluss auszugsweise:

Joachim Kahl hat geschrieben:Ohne Berührungsängste möchte ich den Begriff „Spiritualität“ verwenden, weltlichhumanistisch aneignen, retten, reinigen, positiv besetzen, so dass er ohne Bruch mit taghellem Bewusstsein und intellektueller Klarheit benutzbar ist.

Ein Humanismus, der keine spirituelle Dimension entfaltet, ist armselig und steril, verkürzt auf Rationalismus. Ein spirituell vertiefter Humanismus dagegen baut auch begrifflich eine Brücke zu einer einflussreichen Strömung des Zeitgeistes und erleichtert so das Gespräch mit
suchenden Menschen aus diesen Milieus.

Die Definitionsmacht zu bestimmen, was unter Spiritualität zu verstehen sei, trete ich nicht an esoterische Publikationen ab. Unter Berufung auf den lateinischen Wortursprung (spiritus = Geist) stelle ich zunächst schlicht fest: Spiritualität heißt Geistigkeit, Geistorientiertheit. Gemeint
sei damit: die geistige Einstellung zum Leben, die innere Haltung zur Wirklichkeit, und zwar gemüthaft vertieft, Verstand und Gefühl umgreifend.

Insofern ist klipp und klar zwischen Spiritualität und Religiosität zu unterscheiden. Beides sind verschiedene Dinge, die zwar Berührungspunkte haben, aber nicht gleichgesetzt werden dürfen. Spirituelle Bedürfnisse sind gemüthafte Bedürfnisse: das Verlangen nach Selbstvergewisserung,
Selbstfindung, Selbstkongruenz.

Wie alle geistigen Bedürfnisse, die zur Natur des Menschen gehören, können sie eine religiöse und eine nicht-religiöse Antwort finden.
Jedenfalls ist es intellektuell unredlich, bereits diese Bedürfnisse selbst religiös zu vereinnahmen und mit Hilfe eines weit gefassten, funktionalistischen Religionsbegriffs jeden Sinnsucher zum Gottsucher zu mystifizieren.

[...]

Zur ganzheitlichen – Verstand und Gefühl umschließenden – Art von Spiritualität gehört das Gespür für Symbolik und deren nichtsprachliche, visuelle Ausdruckskraft. Für eine weltlichhumanistische Spiritualität möchte ich gerne das Yin-Yang-Symbol erschließen, ein geistiges Geschenk Asiens an die Menschheit.
☯

[...]

Erst die Spirale, die den Kreis öffnet und mit der geraden Linie verbindet, ermöglicht den inhaltlichen Komparativ: höher als, später als. Insofern ist das Bild der Spirale, das Heraklit, Goethe und
Friedrich Engels in die abendländische Dialektik eingebracht haben, dem asiatischen Kreissymbol
überlegen. Dieser Vorbehalt schmälert jedoch nicht im Geringsten die produktive Verwendbarkeit des Yin-Yang-Symbols als eines spirituellen Leitmotivs.

[...]

Die Polarität von Kopf und Herz liegt dem Verhältnis von Aufklärung und Erleuchtung zugrunde. Soll Aufklärung nicht zur öden Belehrung verkommen, muss sie sich zur Erleuchtung vertiefen. Aufklärung, die nicht ein-leuchtet und dann er-leuchtet, bleibt aufgesetzt und äußerlich. Aufklärung und Erleuchtung verhalten sich zueinander wie Begreifen
und Fühlen, wie Begriff und Bild. Wer freilich nach Erleuchtung ohne Aufklärung strebt, sucht begrifflose und sprachlose, also geistlose Unmittelbarkeit. Aufklärung und Erleuchtunggehören zusammen wie Reflexion und Meditation.

Benutzeravatar
Savonlinna
Beiträge: 4300
Registriert: So 2. Nov 2014, 23:19

#72 Re: Undogmatischer Atheismus

Beitrag von Savonlinna » Do 10. Dez 2015, 17:20

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Dann wirst du sicher auch erklären können, was eine "innere" Wahrheit überhaupt ist.
Kann ich. Mache ich aber nicht. Nicht Dir gegenüber.
Du wirst es schon tun müssen wenn du deine Glaubwürdigkeit nicht verlieren willst,
Ich verliere meine Glaubwürdigkeit nicht, keine Sorge.
Wenn Du Textverständnis-Kurse gemacht haben wirst, können wir über die Sache reden. ;)

Pluto
Administrator
Beiträge: 43975
Registriert: Mo 15. Apr 2013, 23:56
Wohnort: Deutschland

#73 Re: Undogmatischer Atheismus

Beitrag von Pluto » Do 10. Dez 2015, 17:31

Savonlinna hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Kann ich. Mache ich aber nicht. Nicht Dir gegenüber.
Du wirst es schon tun müssen wenn du deine Glaubwürdigkeit nicht verlieren willst,
Ich verliere meine Glaubwürdigkeit nicht, keine Sorge.
Du überschätzt dich. Ich glaube, du weißt gar nicht wie schnell man Glaubwürdigkeit verlieren kann. ;)
Der Naturalist sagt nichts Abschließendes darüber, was in der Welt ist.

Benutzeravatar
Queequeg
Beiträge: 1259
Registriert: Mi 13. Mai 2015, 14:08

#74 Re: Undogmatischer Atheismus

Beitrag von Queequeg » Do 10. Dez 2015, 17:33

closs hat geschrieben:
Queequeg hat geschrieben:Wenn ein, wie du schreibst - intelligenter und intellektuell redlicher Mensch die Bibel vergleichend mit der Geschichte des Christentums liest, vergleichend also auch mit dem Istzustand des Christentums, dann kann ein redlicher Mensch gesunden Geistes und der Vernunft verhaftet nur zu diesem Ergebnis kommen
In diesem Satz stecken zwei Irrümer:

Irrtum 1:

Es geht hier nicht um den intellektuellen Umgang mit der Geschichte des Christentums.

Irrtum 2:
Wenn man schon die Geschichte des Christentums thematisiert, wird man zu differenzierten Ergebnissen kommen und nicht zu demagogischen. - Nur EIN Beispiel: Selbst heute noch hört man, der 30jährige Krieg sei primär ein Glaubens-Krieg gewesen - einfach falsch.

Dass das Christentum in seiner Geschichte genug Dreck am Stecken hat, ist unbestritten. - Aber die Undifferenziertheit, mit der man aus eigen-religiösen Gründen damit umgeht, ist sicherlich NICHT redlich - das endet dann oft auf dem Niveau von "Alle Männer sind Schweine". - Nicht satisfaktionsfähig.

Selbstverständlich war der dreißigjährige Krieg auch, ich betone - auch ein Religionskrieg. Das kannst du jetzt verumclossen wie du willst, denn dazu müsstest du nicht nur die Bibel, sondern auch den Menschen die Geschichtsbücher verbieten, um deinen extrem reaktionäres und fanatisch schwulstiges Geschichtsverständnis an den Mann, oder auch die Frau zu bringen.

Es geht hier nicht um den intellektuellen Umgang mit der Geschichte des Christentums.

* editiert * (Pluto)
Lassen wir einmal die Atheisten außen vor und nehmen nur die Agnostiker, die Humanisten, die sich noch suchenden und findenden Freigeister, die sich vorurteilsfrei der Bibel nähern und die biblischen Inhalte mit dem vergleichen, was dieses Christentum innerhalb von zweitausend Jahren der Menschheit an Verbrechen antat.

Früher oder später bleibt den Menschen freien Verstandes und ungehinderten Denkens dann nur noch eine Festsellung:

„Religion ist eine Beleidigung für die Menschenwürde. Mit ihr oder ohne sie gibt es gute Menschen, die gute Dinge tun, und es gibt böse Menschen, die böse Dinge tun. Aber damit gute Menschen böse Dinge tun, dafür braucht es die Religion!“
(Steven Weinberg, Physik-Nobelpreisträger)


Wobei ich gerade den Monotheismus, egal hier ob Islam oder Christentum, für das Krebsgeschwür der Menschheit schlechthin halte.

Im clossischen Religionsverständnis hieße das dann: der Islam tötet aus Hass und die Christen aus Liebe, was aber nichts daran ändert, das der Monotheismus die Pest und Cholera der sich frei definierenden Menschheit war und ist.

Benutzeravatar
Savonlinna
Beiträge: 4300
Registriert: So 2. Nov 2014, 23:19

#75 Re: Undogmatischer Atheismus

Beitrag von Savonlinna » Do 10. Dez 2015, 18:12

Pluto hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Du wirst es schon tun müssen wenn du deine Glaubwürdigkeit nicht verlieren willst,
Ich verliere meine Glaubwürdigkeit nicht, keine Sorge.
Du überschätzt dich. Ich glaube, du weißt gar nicht wie schnell man Glaubwürdigkeit verlieren kann. ;)
Gut möglich. Bei manchen ist es allerdings eine Ehre, wenn man bei ihnen "Glaubwürdigkeit" verliert.
Also verliere ich die Glaubwürdigkeit nicht, wenn ich nicht bei jedem hingehaltenen Stöckchen brav rüberspringe.

closs
Beiträge: 39690
Registriert: Fr 19. Apr 2013, 20:39

#76 Re: Undogmatischer Atheismus

Beitrag von closs » Do 10. Dez 2015, 18:43

Queequeg hat geschrieben:Selbstverständlich war der dreißigjährige Krieg auch, ich betone - auch ein Religionskrieg.
Das war er AUCH - wiewohl sich der katholische französische König nicht scheute, zeitweise eine Koalition mit dem protestantischen preußischen König gegen den katholischen Hof in Wien zu schmieden. - Dieses "auch" bezieht sich also vornehmlich auf die Historie vor dem Krieg, die in der Tat bis 1555 (Augsburger Religionsfriede) primär religiös geprägt war.

Queequeg hat geschrieben:Früher oder später bleibt den Menschen freien Verstandes und ungehinderten Denkens dann nur noch eine Festsellung
Dein "nur noch" ist gewohnt ideologisch.

Queequeg hat geschrieben:Im clossischen Religionsverständnis hieße das dann: der Islam tötet aus Hass und die Christen aus Liebe
Interessante Kreation - wie kommst Du darauf?

Benutzeravatar
Savonlinna
Beiträge: 4300
Registriert: So 2. Nov 2014, 23:19

#77 Re: Undogmatischer Atheismus

Beitrag von Savonlinna » Do 10. Dez 2015, 18:46

closs hat geschrieben:
Queequeg hat geschrieben:Im clossischen Religionsverständnis hieße das dann: der Islam tötet aus Hass und die Christen aus Liebe
Interessante Kreation - wie kommst Du darauf?
Das ist NICHT die Ansicht von closs, wenn ich das mal klar sagen darf.

Benutzeravatar
Queequeg
Beiträge: 1259
Registriert: Mi 13. Mai 2015, 14:08

#78 Re: Undogmatischer Atheismus

Beitrag von Queequeg » Do 10. Dez 2015, 19:06

closs hat geschrieben:
Queequeg hat geschrieben:Selbstverständlich war der dreißigjährige Krieg auch, ich betone - auch ein Religionskrieg.
Das war er AUCH - wiewohl sich der katholische französische König nicht scheute, zeitweise eine Koalition mit dem protestantischen preußischen König gegen den katholischen Hof in Wien zu schmieden. - Dieses "auch" bezieht sich also vornehmlich auf die Historie vor dem Krieg, die in der Tat bis 1555 (Augsburger Religionsfriede) primär religiös geprägt war.

Queequeg hat geschrieben:Früher oder später bleibt den Menschen freien Verstandes und ungehinderten Denkens dann nur noch eine Festsellung
Dein "nur noch" ist gewohnt ideologisch.

Queequeg hat geschrieben:Im clossischen Religionsverständnis hieße das dann: der Islam tötet aus Hass und die Christen aus Liebe
Interessante Kreation - wie kommst Du darauf?

Von dem tumben Volke die Bibel verbieten wollen bis zum Bejahen einer neuen Inquisition wäre es nicht nur ein kleiner Schritt, sondern dieser Schritt ist eigentlich schon getan.

Dein "nur noch" ist gewohnt ideologisch.

ohne Ideologie geht hier nichts, garnichts, egal ob die Ideologie der Himmelblaufraktion oder der Nichtchristen, als ob du frei von einer Ideologie wärest.

Und das hier:

Das war er AUCH - wiewohl sich der katholische französische König nicht scheute, zeitweise eine Koalition mit dem protestantischen preußischen König gegen den katholischen Hof in Wien zu schmieden. - Dieses "auch" bezieht sich also vornehmlich auf die Historie vor dem Krieg, die in der Tat bis 1555 (Augsburger Religionsfriede) primär religiös geprägt war.

ist unwichtig in Bezug auf diese, deine Behauptung:

Nur EIN Beispiel: Selbst heute noch hört man, der 30jährige Krieg sei primär ein Glaubens-Krieg gewesen - einfach falsch.

hier primär und sekundär unter (deine) Deutungshoheit zu stellen wäre dann - richtig, wäre dann wieder wie gewohnt ideologisch.

Gott nun als ein Katholik ist, oder ein Protestant, oder ein Zeuge der Zeugen, oder auch zeitweise ein Mitglied der NSDAP, für Primaten, die einen Führer brauchen, wird er immer das sein, was diese aus ihn machen wollen, sollen, müssen.

Gott als Placebo und warum auch nicht.

Benutzeravatar
Queequeg
Beiträge: 1259
Registriert: Mi 13. Mai 2015, 14:08

#79 Re: Undogmatischer Atheismus

Beitrag von Queequeg » Do 10. Dez 2015, 19:08

Savonlinna hat geschrieben:
closs hat geschrieben:
Queequeg hat geschrieben:Im clossischen Religionsverständnis hieße das dann: der Islam tötet aus Hass und die Christen aus Liebe
Interessante Kreation - wie kommst Du darauf?
Das ist NICHT die Ansicht von closs, wenn ich das mal klar sagen darf.

Du darfst, natürlich.

Angesichts schwerstleidender Menschen und Tiere darf man die Behauptung "Gott ist Liebe" als ebenso beleidigend empfinden wie das berüchtigte "Arbeit macht frei" über dem Eingang zu den Konzentrationslagern.
(Nelly Moia)


Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Benutzeravatar
sven23
Beiträge: 23476
Registriert: Fr 10. Mai 2013, 15:55

#80 Re: Undogmatischer Atheismus

Beitrag von sven23 » Do 10. Dez 2015, 19:21

Savonlinna hat geschrieben: So, jetzt habe ich den Text rausgesucht.
Ja, danke für die Mühe.
Spiritualität ist ja ein sehr dehnbarer Begriff. So wie ich das sehe, will Kahl den Begriff nicht aufs religiöse/esoterische/transzendente verengt wissen.
Kahl schrieb:

"Insofern ist klipp und klar zwischen Spiritualität und Religiosität zu unterscheiden. Beides sind verschiedene Dinge, die zwar Berührungspunkte haben, aber nicht gleichgesetzt werden dürfen."...
"Die Definitionsmacht zu bestimmen, was unter Spiritualität zu verstehen sei, trete ich nicht an esoterische Publikationen ab. Unter Berufung auf den lateinischen Wortursprung (spiritus = Geist) stelle ich zunächst schlicht fest: Spiritualität heißt Geistigkeit, Geistorientiertheit. Gemeint
sei damit: die geistige Einstellung zum Leben, die innere Haltung zur Wirklichkeit, und zwar gemüthaft vertieft, Verstand und Gefühl umgreifend...."

Wer freilich nach Erleuchtung ohne Aufklärung strebt, sucht begrifflose und sprachlose, also geistlose Unmittelbarkeit.

Dem kann man doch nur zustimmen.



"Neuerdings wird der Begriff auch ohne Gottes- oder Transzendenzbezug aufgefasst, so z. B. von André Comte-Sponville in “Woran glaubt ein Atheist?: Spiritualität ohne Gott”. Gerechtigkeit, Mitgefühl, Liebe, Demokratie und Menschenrechte könnten Gottgläubige, Agnostiker und Atheisten vereinen, ohne einander missionieren zu wollen."
Quelle: Wikipedia
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

Antworten