Pluto hat geschrieben:
Die wichtige Frage ist, warum wir an Erkenntnissen festhalten, wenn nicht wegen der Wahrnehmung?
Die Erkenntistheorie versucht zu erklären, wie wir überhaupt zu Erkenntnis und Wissen gelangen können. Dazu mus aber der ganze Vorgang der Wahrnehmung auf einer elementaren Ebene problematisiert werden. Kant hat das in seiner Kritik der reinen Vernunft vorbildlich gemacht.
In modernerer Sprache als bei Kant, sieht das dann ungefähr so aus:
Alles, was wir über unsere Sinnesrezeptoren von der Welt wahrnehmen, ist zunächst nichts anderes als elektrochemische Impulse, die über die Nervenbahnen zum Gehirn geleitet werden. Nichts anderes. Diesen elektrochemischen Impulsen in den Nervenbahnen haftet selbst weder eine Räumlichkeit an, noch eine Zeitlichkeit. Zeitlichkeit könnte allenfalls in der zeitlichen Aufeinanderfolge dieser Impulse als Datenstrom gesehen werden, die im Gehirn ankommen. Aber erst das Gehirn schafft den Raum und die Zeit, innerhalb derer der Datenstrom interpretiert wird als dieses und jenes konkrete Ding. Die elektrochemischen Impulse besitzen weder Raum, noch ist Zeit eine ihrer Eigenschaften.
Dieser Datenstrom muss vom Gehirn interpretiert werden. Erst durch die Interpretation des Gehirns werden aus dem Datenstrom Bäume, Wärme- oder Schmerzempfindungen, Bücher, die wir in Händen halten und die wir lesen, schwarze Lettern auf rauhem Papier, Professoren und Dalai Lamas, die uns die Welt erklären, Teilchenbeschleuniger und Messskalen, die wir ablesen und Autos auf Straßen, die uns umfahren wollen etc. pp. Dieser Datenstrom wird also erst durch eine Interpretation des Gehirns zu genau der Welt, in der wir all unsere Erfahrungen und unser Erfahrungswissen sammeln.
All unser Wissen über evolutionäre Prozesse, die Quantenphysik, die Entwicklung von Säuglingen bis hin zum Erwachsenen; über Professoren, die mich beeindruckt haben durch ihre Belesenheit, über Bücher, aus denen ich das meiste, was ich weiß, erfahren habe und selbstverständlich meine eigenen Beobachtungen der Natur, wenn ich Naturwissenschaftler bin. All dieses sind nichts weiter als elektrochemische Impulse, die mal in meinen Nervenbahnen waren und die mein Gehirn interpretiert hat.
Alles, was wir über unsere Sinne wahrnehmen unterliegt freilich einem Irrtumsvorbehalt. Ich kann mich über meine Wahrnehmungen irren. Ich kann optischen Täuschungen unterliegen, Wahnvorstellungen haben oder ich könnte auch ein
Gehirn im Tank sein, dem alles nur vorgegaukelt wird wie im Film
Matrix. Oder ein deus malignus täuscht mich, ein böser Dämon, wie es Descartes erkenntniskritisch formulierte.
Schon das bloße Reden von Nervenbahnen und grauer Gehirnsubstanz, von evolutionären Prozessen und eindeutigen, empirischen Beobachtungen ist also problematisch.
Auf dieser radikal-erkenntniskritischen Basis fängt Kant überhaupt erst an mit seinen Überlegungen.
Wenn wir Erkenntniskritik betreiben, dann stoßen wir unwillkürlich auf das je eigene Bewusstein und den je eigenen Geist, als der Grundlage, die unhintergehbar ist. Unhintergehbar nicht in dem Sinne, dass sie nicht wiederum einer kritischen Betrachtung unterzogen werden könnten. Aber unhintergehbar insofern, als dass mir mein eigenes Bewusstein und mein eigenes Nachdenken als unmittelbar gegeben erscheint. Ich kann mich darüber irren, ob dies dort ein Baum ist, aber ich kann mich nicht darüber irren, dass ich in diesem Moment denke, dass dies ein Baum ist und das es mir in diesem Augenblick bewusst ist, dass ich denke, dass dies dort ein Baum ist (Descartes).
Ich bin am Ende also erkenntnistheoretisch stets zurückgeworfen auf mein eigenes Denken, welches ich beobachten kann.
Kant versucht nun, auf der Grundlage des Denkens und der Vernunft, Schlüsse zu ziehen, warum ich Welt überhaupt wahrnehmen und wie ich zu Wissen über die Welt gelangen kann.
Da mich mein Erfahrungswissen stets täuschen kann, gilt es, die Voraussetzungen des Denkens bzw. des Verstandes selbst zu untersuchen.
Genau das ist eine wesentliche Aufgabe der Erkenntnistheorie.