Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Säkularismus
Geistliches und Weltliches verbinden
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Savonlinna
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#1341 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Savonlinna » So 18. Okt 2015, 14:45

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Heute ist "Fantasy" das, was alle Lebensalter durchschwängert, und die Neue Religiösitat hat ebenfalls alle Volksschichten ergriffen.
Ja - es scheint eine Trennung zu geben zwischen medialer und tatsächlicher Wirklichkeit. - Nach meiner Beobachtung wird Neue Religiosität auch aus materialistischer/existenzialistischer Sicht respektiert als Ausdruck von Selbst-Verwirklichung (Sartre: "Erfinde Dich selbst").

Wobei mir nicht klar ist, was Neue Religiositätsein soll und wie sie sich definiert (falls sie das überhaupt tut).
Den Begriff habe ich eben gerade selber geprägt, ich wollte damit nur meine Beobachtungen zusammenfassen.


closs hat geschrieben: - Ist es Deiner Ansicht nach eher:
a) Neue Religiösität zu Gott hin?
Da ich wirklich völlig ahnungslos bin, was Du als "Gott" wahrnimmst, kann ich es zufriedenstellend nicht beantworten.
Meine Quellen sind

a) religiöse Foren, Tolkienforen, Fantasy-Foren
b) meine reale Umwelt.

Die Bezeichnung "Gott" fällt in den von mir erwähnten Fällen andauernd, ja. Gerade junge Leute - die, mit denen ich arbeite - bezeichnen sich wieder - wieder im Gegensatz zu den Sechziger und Siebziger Jahren - als gläubig, als gottgläubig. Ich muss sie manchmal danach fragen, damit ich sie nicht aus Versehen verletze, ich gebe ja auch Philosophie-Nachhilfe.

Es gibt auch welche, die deutlich sagen: "Mit Gott habe ich nichts am Hut". Nach meiner Beobachtung hängt beides meist eher nicht mit dem Elternhaus zusammen.
Viele lassen sich ja erst kurz vor der Konfirmation taufen, ein ganz neues Phänomen. Ich bin ziemlich sicher, dass der Konfirmandenunterricht ihnen eine Idee von "Gott" gegeben hat, die sie nun beschäftigt.

closs hat geschrieben: b) Existentialistische Religiosität ("Erfinde Dich selbst - weil es Gott nicht gibt" - so meint es ja Sartre)?
Solche kenne ich gar nicht. Sind mir nie begegnet, weiß auch gar nicht genau, was das ist.
Ich vermute darum, dass das out ist.

closs hat geschrieben:c) Transzendente oder inner-weltliche Religiosität?
Letztere sind mir in den Siebziger Jahren vor allem unter den Pfarrern und Theologiestudenten begegnet.
"Transzendente" Religiösität kenne ich en masse aus den Internetforen, es sind evangelikale und fundamentalistische Christen, die die Bibel wörtlich lesen.
Sie verachten die Theologie, halten Theologen eher von Satan besetzt.

closs hat geschrieben:Ich zumindest kann diese Frage nicht beantworten. - Ist es ein "Back to the roots" oder ein gigantischer semantischer Shift, der hier mit dem Wort "Reigiosität" geschieht?
Das Wort habe jetzt nur ich benutzt, irgendeins muss ich ja wählen. :)

Ich selber sehe diese ganze Bewegung als eine Fortsetzung des Konfliktes, den wir seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts beobachten: rational und irrational, Aufklärung und Romantik. Stets sind beide Richtungen anwesend, nur ist mal die eine oben, mal die andere.
Auch im Mittelalter war dieser Konflikt schon da: der Rationalismus der Philosophie wurde gekontert von der Mystik, besonders deutlich in der Frauenmystik.

Durch die Nazizeit kam aber ein völlig neue Tonlage hinzu: das Irrationale - das als Gegengewicht zum rein Rationalen auch notwendig ist - wurde unter dem Deckmantel des Rationalen für Verbrechen genutzt.
Danach war nichts mehr so, wie es vorher war. Das Irrationale war so missbraucht, dass es in der Nachkriegszeit komplett verdächtigt wurde, faschistoid zu sein.

Bis neue Generationen nachwuchsen, die sich nicht mehr verbieten lassen wollten, Gefühle zu haben und sie zu zeigen.
Das begann bereits im Schoß der 68er-Generation, siehe Hermann-Hesse-Boom. Das, was Du als "jenseitig" bezeichnest, war da DAS Thema. Man meditierte, gründete Friedensgruppen, war grundsätzlich gegen Gewalt, leistete gewaltfreien Widerstand gegen techische Übermacht, las die Werke von Buddha, studierte die magischen Welten von Hermann Hesse.

Je mehr die Naturwissenschaft das alltägliche Leben beeinflusste, desto stärker wurden auch diese Bewegungen.
Aber es erweckte eben auch das Gegenlager, die Neo-Atheisten, die auch schon längst ausgestorben waren, zum Leben, mit neuem Zungenschlag.

closs hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:Vor ein paar Jahren war Tolkiens "Herr der Ringe" - ein Buch, in dem Elben, Zwerge, göttliche und anti-göttliche Wesen eine entscheidende Rolle spielen - nach der Bibel das meistgelesene Buch der Welt. - Es besteht also ein solcher Hunger nach der "geistigen Welt"
WELCHE geistige Welt? - Es gibt den Begriff der "Unterscheidung der Geister" - kannst Du damit etwas anfangen?
O ja - damit kann ich sehr viel anfangen.
Darum schreibe ich in diesem Thread ja noch immer mit, um zu ergründen, wer welche geistige Welt hat. Wobei mich weniger die Lippenbekenntnisse beeindrucken.

Nach Selbstaussage vieler Tolkienfans suchen sie nach einer Alternative zu der vernaturwissenschaftlichten Welt.
Sie können diese vernaturwissenschaftlichte Welt nicht mehr ertragen, sie müssen sie täglich mitleben, aber sie brauchen die Alternative, zumindest im Geist, wenn sie schon nicht in der Umwelt existiert.

Es liegt allerdings auch eine gewisse Tragik in ihrem Bemühen. Es waren zu Beginn des Tolkienbooms vor allem akademische - teilweise sogar promovierte - Naturwissenschaftler, die die "Anderwelt", die Tolkien ihnen geschaffen hat, zu ergründen suchten.
Und sie taten es auf naturwissenschaftliche Weise. Auch da schon musste ich meine geisteswissenschaftliche Herangehensweise erkämpfen.

Eine ähnliche Tragik sehe ich aber auch hier im Forum. Auch die, die sich Christen nennen, fragen nach "Gott" wie nach einem Ding der Naturwissenschaft, das entweder da ist oder nicht da ist. Ich wil hier niemanden genau angucken ;)

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sven23
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#1342 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von sven23 » So 18. Okt 2015, 15:03

closs hat geschrieben:Du machst die Kamera-Linse nicht "weit", zu gucken, ob es eine Insel ist, wie in der Comic-Serie auch. - Und weil Du es nicht tust und innerhalb Deines Modells verharrst, "ändert sich nichts im Ergebnis".
Und was wäre deine Alternative?
Willst du uns weis machen, daß wir in einer Matrix leben?
Willst du den Modellen vorwerfen, daß sie funktionieren? Das Diesseits ist nun mal so, wie es ist, ob das gefällt oder nicht.
Für ein Jenseits gibts ja nicht mal Modelle.
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Savonlinna
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#1343 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Savonlinna » So 18. Okt 2015, 15:21

sven23 hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Das erwähnte Denken ist dümmliches Denken, und dümmliches Denken gibt es in allen Jahrhunderten und Jahrtausenden.
Mir ist so ein Denken nur in bestimmten Foren begegnet, nie draußen in der Realität.
Hier irrst du. Auch ein Internetforum ist Teil der Realität. Oder schreibst du uns aus dem Jenseits? ;)
Sven, ich hab hier jedem die Intelligenz zugetraut, dass ich mit "draußen in der Realität" das gemeint habe, was jeder Forenbenutzer unterscheidet, wenn er sagt: "ich hab keine Zeit mehr, das reale Leben wartet."

Jeder weiß, was gemeint ist, nur Du nicht?

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#1344 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Savonlinna » So 18. Okt 2015, 15:30

sven23 hat geschrieben:Das Diesseits ist nun mal so, wie es ist, ob das gefällt oder nicht.
Das ist eben Deine Wahnvorstellung, sven. Jeder gute Naturwissenschaftler widerlegt Dir das.
Was Du als "Diesseits" wahrnimmst, ist bereits einer konditionierten Wahrnehmung entsprungen.

sven23 hat geschrieben:Für ein Jenseits gibts ja nicht mal Modelle.
Unsere Träume in der Nacht: gehören die nach Deiner Vorstellung in das Diesseits oder in das Jenseits?

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sven23
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#1345 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von sven23 » So 18. Okt 2015, 15:39

Savonlinna hat geschrieben: Sven, ich hab hier jedem die Intelligenz zugetraut, dass ich mit "draußen in der Realität" das gemeint habe, was jeder Forenbenutzer unterscheidet, wenn er sagt: "ich hab keine Zeit mehr, das reale Leben wartet."
Jeder weiß, was gemeint ist, nur Du nicht?
Sicher weiß ich das. Aber es ist doch interessant, daß ein Internetforum nicht als "real" angesehen wird. Es käme ja auch niemand auf die Idee zu sagen, ein Buch zu lesen sei nicht real.
Oder wenn Goethe Briefe schrieb, wäre ihm sicher nicht in den Sinn gekommen, daß er dies nur in einem virtuellen Raum tut. Ob man nun analog oder digital schreibt, ist ja erst mal egal. Ob man von Angesicht zu Angesicht diskutiert oder mit technischen Hilfsmitteln, alles ist "real", von dieser Welt, auch das virtuelle.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell

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#1346 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Savonlinna » So 18. Okt 2015, 15:47

sven23 hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben: Sven, ich hab hier jedem die Intelligenz zugetraut, dass ich mit "draußen in der Realität" das gemeint habe, was jeder Forenbenutzer unterscheidet, wenn er sagt: "ich hab keine Zeit mehr, das reale Leben wartet."
Jeder weiß, was gemeint ist, nur Du nicht?
Sicher weiß ich das. Aber es ist doch interessant, daß ein Internetforum nicht als "real" angesehen wird. Es käme ja auch niemand auf die Idee zu sagen, ein Buch zu lesen sei nicht real.
Oder wenn Goethe Briefe schrieb, wäre ihm sicher nicht in den Sinn gekommen, daß er dies nur in einem virtuellen Raum tut. Ob man nun analog oder digital schreibt, ist ja erst mal egal. Ob man von Angesicht zu Angesicht diskutiert oder mit technischen Hilfsmitteln, alles ist "real", von dieser Welt, auch das virtuelle.
Da rennst Du bei mir offene Türen ein.

Darum gerade habe ich ja die verschiedenen Realitätsebenen auch in diesem Thread auseinanderzuklamüsern versucht.
Auch das, was wir als "geistig" verstehen und was die Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft untersucht, ist real.
Sie untersucht ja nicht nur die Druckerschwärze, sondern das, was als Gedanken mittels der Druckerschwärze transportiert wird.
Gedanken sind real, auch wenn sie nicht voraussagbar sind. Sie haben eine immaterielle Realität.

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#1347 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von Hemul » So 18. Okt 2015, 16:01

Savonlinna hat geschrieben: Darum gerade habe ich ja die verschiedenen Realitätsebenen auch in diesem Thread auseinanderzuklamüsern versucht.
Auch das, was wir als "geistig" verstehen und was die Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft untersucht, ist real.
Sie untersucht ja nicht nur die Druckerschwärze, sondern das, was als Gedanken mittels der Druckerschwärze transportiert wird.
Gedanken sind real, auch wenn sie nicht voraussagbar sind. Sie haben eine immaterielle Realität.
:thumbup:
http://www.labbe.de/liederbaum/index.as ... itelid=361
Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker,
das alles sind rein vergebliche Werke;
denn meine Gedanken zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei.
Zuletzt geändert von Hemul am So 18. Okt 2015, 16:02, insgesamt 1-mal geändert.
denn die Waffen, mit denen wir kämpfen, sind nicht fleischlicher Art, sondern starke Gotteswaffen zur Zerstörung von Bollwerken: wir zerstören mit ihnen klug ausgedachte Anschläge (2.Korinther 10:4)

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#1348 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von sven23 » So 18. Okt 2015, 16:01

Savonlinna hat geschrieben: Das ist eben Deine Wahnvorstellung, sven. Jeder gute Naturwissenschaftler widerlegt Dir das.
Was Du als "Diesseits" wahrnimmst, ist bereits einer konditionierten Wahrnehmung entsprungen.
Sicher weiß ich, daß unsere Wahrnehmung der Welt immer auch schon eine Interpretation unseres Gehirns zu Grunde liegt. Closs tat sich ja schon schwer damit, einzugestehen, daß wir optischen Täuschungen unterliegen können. Warum, weiß ich bis heute nicht.
Wie auch immer, die Modelle, die wir von der Welt haben, können so falsch nicht sein. Ohne die Richtigkeit der Modelle hätte es keinen technisch-wissenschafltlichen Fortschritt gegeben, so daß wir sagen können, wir nähern uns mit den Modellen ziemlich nahe an das, was der Fall ist (wie closs immer sagt) ;)
Und nebenbei: man kann auch Atome spalten, ohne je etwas von Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie gehört zu haben. Die normative Kraft des Faktischen schlägt hier jede Theorie.


Savonlinna hat geschrieben: Unsere Träume in der Nacht: gehören die nach Deiner Vorstellung in das Diesseits oder in das Jenseits?
Natürlich sind sie von dieser Welt, was sonst? Manche träumen übrigens auch am Tag. ;)
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#1349 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von closs » So 18. Okt 2015, 16:05

Savonlinna hat geschrieben:Gedanken sind real, auch wenn sie nicht voraussagbar sind. Sie haben eine immaterielle Realität.
Sehe ich genauso - aber nicht alle. - Würdest Du die Frage stellen, was ist "Realität", würde üblicherweise die Antwort kommen: "Nur die naturalistische Welt".

sven23 hat geschrieben: Das Diesseits ist nun mal so, wie es ist, ob das gefällt oder nicht.
Das gefällt mir sogar sehr gut - aber es ist nicht falsifizierbar, ob es die Gesamtheit der Welt oder eine "Insel" ist. - Der Naturalismus/Materialismus jedoch setzt (!), es sei "die Welt" - diese Setzung ist Glaubens-Sache.

sven23 hat geschrieben:Für ein Jenseits gibts ja nicht mal Modelle.
Es gibt keine naturwissenschaftlichen Modelle. - Philosophische Modelle gibt es zuhauf, nur dass man das nicht "Modell" nennt. - Und erneut: Von der "Insel" aus kann man Dinge außerhalb der Insel methodisch nicht so angehen wie Dinge innerhalb der "Insel".

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#1350 Re: Und nochmal: Sein und Wahrnehmung

Beitrag von closs » So 18. Okt 2015, 16:09

sven23 hat geschrieben: Closs tat sich ja schon schwer damit, einzugestehen, daß wir optischen Täuschungen unterliegen können. Warum, weiß ich bis heute nicht.
Ich auch nicht. :lol: - Also was Du manchmal rein interpretierst, grenzt an Gemein-Gefährlichkeit. ;)

sven23 hat geschrieben:Wie auch immer, die Modelle, die wir von der Welt haben, können so falsch nicht sein.
Sind sie doch auch nicht. - Die Modelle für Dinge auf der "Insel" werden doch überhaupt nicht in Frage gestellt - es wird der weltanschaulich bis ideologisch daraus abgeleitete Anspruch in Frage gestellt, dass nur das "sein" könnte, was durch die Modelle erfassbar ist.

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