
Vor vier Jahren bat ich einen alten Freund, mir die Gnosis zu erklären, weil ich wirklich keinen Schimmer hatte (außer vom Hörensagen). Er schickte mir eine PN und erlaubte mir, seine Erörterung öffentlich zu nutzen und nun möchte ich auf Basis dieser Abhandlung die Gnosis thematisieren.
ZitatquelleZitat von Logan5:
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Gnosis ist ein sehr spannendes und komplexes Feld.
Ich versuche mich mal so kurz wie möglich zu fassen.
Zuerst handelt es sich dabei um keine Religion in dem Sinn, wie wir das Christentum oder das Judentum als Religionen begreifen. Vielmehr ist Gnosis eine Art Sammelbegriff für ähnlich geartete, aber keinesfalls identische religiöse Weltanschauungen, denen ganz unterschiedliche Mythen und Vorstellungen zugrunde liegen.
Das Wort selbst stammt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie "Erkenntnis".
Weisheit und Erkenntnis über das Wesen des Menschen, seinen Daseinszweck und die Welt, in der er sich wiederfindet, waren damals - ganz im Gegensatz zu heute - wichtige Begriffe, mit denen man sich ausgiebig beschäftigte.
Das Aufkommen gnostischer Glaubensströmungen fällt nicht zufällig in eine pessimistische Zeit gesellschaftlicher und lebensqualitativer Umbrüche. Gnosis hat einen stark weltverneinenden Charakter. Auf etwas zu wörtlich genommener Grundlage des Höhlengleichnisses Platons ist die Gnosis ein sprudelnder Quell wild wuchernder, phantasievoller und teils überaus komplexer Schöpfungsmythen, deren Gemeinsamkeiten darin bestehen, die Welt als einen Ort zu identifizieren, der eigentlich nicht existieren dürfte und der die Harmonie der eigentlich Weltgestalt - nämlich einer rein geistigen, immateriellen Sphäre - massiv stört. Aus den unterschiedlichsten Gründen sind aber Teile dieser göttlichen Existenz in unserer materiellen Welt gefangen und erst wenn der Prozess des Entstehens neuer Materie aufgehalten wurde und die Rückführung der göttlichen Funken in ihre eigentliche Sphäre gelungen ist, kann der Urzustand der Welt wieder hergestellt werden. Solche göttliche Lichtpartikel befinden sich auch in den Seelen vieler Menschen. Die "Erkenntnis" des Gnostikers besteht also darin, seine eigene partielle Göttlichkeit zu begreifen und daraufhin jeglicher Materie zu entsagen.
Auch Erlöserfiguren sind in der Gnosis weit verbreitet, die zunächst selbst durch Einfall göttlicher Partikel in die Welt erweckt werden und zur Erkenntnis ihrer wahren Natur gelangen, wonach sie versuchen auch andere zu befreien und ihnen Erkenntnis zu schenken. Der erlöste Erlöser sozusagen.
Ein interessantes Phänomen im Entstehen gnostischer Glaubensvorstellungen ist allerdings, dass es kaum Hinweise auf einen originären gnostischen Mythos gibt. Alle in gnostischen Kreisen verbreiteten Vorstellungen basieren auf bereits existierenden Glaubensansichten, derer sie sich gewissermaßen in parasitärer Weise bedienen.
Einige dieser Mythen nutzen die griechische Götterwelt als Grundlage, andere fußen auf philosophischen Ideen, die theologisch uminterpretiert und ausgebaut werden. Eine ganze Menge gnostischer Strömungen bedient sich dabei des geistigen und personalen Inventars des Judentums und in verstärkter Menge besonders des Christentums.
Nun verhält es sich so, dass Christentum und Gnosis in etwa zeitgleich auftreten und sich gegenseitig beeinflussen. Da es zu dieser Zeit noch keine Kanonisierung der Evangelien gibt, entstehen unzählige Mischformen und es ist selbstverständlich, dass sich diverse Gnostiker für Christen halten, weil sie sich gar nicht bewusst sind, dass christliches Gedankengut gnostisch umgedeutet wurde oder weil sie diese Auslegungsweise einfach für legitim halten.
Noch heute halten sich diverse Vorstellungen im Christentum, die eigentlich aus der Vorstellungswelt der Gnosis stammen - beispielsweise das ablehnende Verhältnis einiger Christen zur Sexualität, das der Materiefeindlichkeit der Gnostiker entspringt. Auch die Rolle der Frau wurde im Christentum durch die Gnosis abgewertet, da Frauen in diesen Bewegungen offenbar oft tragende Rollen hatten. Davon wollte man sich abgrenzen.
Überhaupt kam bei vielen Christen, die in der Gnosis eine Verfälschung ihrer Lehre sahen, der Wunsch auf, sich von dieser zu distanzieren. Das ist auch nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es sich beim Christentum doch im Grunde um eine sehr lebensbejahende, den Menschen zugewandte und eigentlich durchaus fortpflanzungsbereite Religion handelt, während die Gnosis alles Körperliche ablehnt und die Meinung vertritt, die Welt sei von einem zweitklassigen Handwerkergott - einem Demiurgen - erschaffen worden oder gar durch einen Unfall entstanden.
Für Außenstehende waren aber Christentum und Gnosis kaum unterscheidbar, was die Missionstätigkeit massiv erschwert haben dürfte. Aus diesen Gründen entschloss man sich, die verbindlichen Glaubensschriften des Christentums in einem unveränderbaren Kanon festzulegen, den wir heute als "neues Testament" bezeichnen. Alle gnostisch gefärbten Schriften blieben außen vor. Es wurde sogar lange diskutiert, ob man das Johannes-Evangelium in den Kanon aufnehmen sollte oder nicht, da es in Verdacht stand, gnostischen Kreisen nahe zu stehen. Andere Meinungen verstanden es allerdings als direkte Antwort - sozusagen als eine Gegenschrift - zur Gnosis.
So schnell, wie die Bewegung der gnostischen Glaubensvorstellungen im ersten Jahrhundert gekommen war, so schnell war sie dann zwei Jahrhunderte später nahezu komplett wieder verschwunden. Vermutlich liegt das daran, dass die Gnosis sehr stark das Individuum ansprach und weniger auf Gemeinschaft setzte. Ohne Kirchenbildung ist es aber schwer, eine Glaubensweise längerfristig zu tradieren, also starben die Gnostiker einfach aus.
Leider sind die meisten Quellen, die wir zu diesem Phänomen besitzen in den Schriften der Kirchenväter oder diversen pseudopaulinischen Briefen des NT zu finden und diese sind natürlich polemischer Natur, denn man will ja kein gutes Haar an der Konkurrenz lassen. Dem entsprechend wirr und seltsam wirken dann auch die Beschreibungen entsprechender Schöpfungsmythen. Glücklicherweise gibt es aber auch die Schriften von Nag Hammadi, die durch einen schönen Zufall entdeckt wurden und etliche gnostische Originaltexte enthalten. Darunter eben auch viele apokryphe Evangelien.
Diese Apokryphen sind also keinesfalls irgendwelche Geheimschriften, die die böse Kirche vor den Gläubigen und dem Rest der Welt verheimlichen wollte - wie es manchmal in diversen Medien dargestellt wird - oder gar authentischere Texte, die irgendwelche Wahrheiten über Jesus enthalten würden, die uns der biblische Kanon bewusst verschweigt, sondern es ist einfach so, dass diese Schriften eine völlig andere Lehrmeinung als die christlichen Texte vertreten.
Und die ersten christlichen Evangelien, die uns überliefert sind, sind nun einmal vorgnostisch und hätten damit höheren Authentizitätsanspruch, als die viel später entstandenen Apokryphen. Sofern man hier von Authentizität sprechen kann, denn die kanonisierten Evangelien sind ja ebenfalls lange nach Jesus' Tod geschrieben worden.
Die Matrix - Trilogie spielt uns übrigens im Grunde genommen einen kompletten gnostischen Mythos vor, vom Leben in einer eigentlich nicht richtigen Welt, aus der man sich nur durch einen Akt der Selbsterkenntnis retten kann, über den erlösten Erlöser, bis hin zum Demiurgen, der die künstliche, widernatürliche Welt geschaffen hat und an dem Mann vorbei muss, um den Weg in die Freiheit zu erlangen.
Irgendwo im Iran lebt außerdem noch die relativ kleine Glaubensgruppe der Mandäer, deren Weltanschauung der Gnosis entspringt und die somit das einzige noch existierende Überbleibsel dieser religiösen Strömung darstellt.