Es gehört aus meiner Sicht zu den grandiosen Missgriffen herkömmlicher Exegese, göttliche Liebe und göttliche Gerechtigkeit als Gegensätze zu sehen. - Dies hat vermutlich damit zu tun, dass das Wort "Gericht" in unserer Sprache einseitig belegt ist - nämlich als Strafaktion.lovetrail hat geschrieben:Doch wie muss eine Gerechtigkeit aussehen, die nicht gegen den Satz "Gott ist (wesenhaft) Liebe" verstößt?
Alttestamentarisch ist dies meines Erachtens nicht haltbar. - Dort werden urtextnah die Worte "gerecht" je nach Zusammenhang mit "bewährt" (Wortstamm: "wahr") oder "bewahrheitet" wiedergegeben - einige Beispiele:
"Nicht also um Dein Bewährtsein und die Gradheit Deines Herzens kommst Du, ihr Land zu ererben" (Buber, Deut. 9,5)
"Der Herr ist gerecht" (Einheitsübersetzung (EÜ), 2Chr. 12,6) "Bewahrheitet ist ER" (Buber, ibd)
"Du warst gerecht bei allem" (EÜ, Neh. 9,33) "Du bist bewährt in allem" (Buber, ibd.)
"Wär‘ ich im Recht, mein eigener Mund spräche mich schuldig, wäre ich gerade, er machte mich krumm" (EÜ, Hiob 9,21) „Bin ich bewährt, mein Mund schuldigte mich, bin ich schlicht, er verkrümmte mich." (Buber, ibd)
"Herr, Gott Israels, Du bist gerecht" (EÜ, Esra 9,15) „DU, Gott Jißsraels, bewahrheitet bist Du“ (Buber, ibd)
"Ist wohl ein Mensch vor Gott gerecht, ein Mann vor seinem Schöpfer rein?" (EÜ, Hiob, 4,17) „Ist das Menschlein bewahrheitet vor Gott, ist der Mann rein vor dem, der ihn machte?“ (Buber, ibd)
Allen diesen Textstellen ist gemeinsam: Es geht NICHT um eine "moralische" Anklage ("Du ungerechter Mensch, Du"), sondern um eine "klinische" Feststellung ("Du bist infiziert"). - Mit anderen Worten und in diesem Bild: Gericht erscheint als Desinfektions-Maßnahme und nicht als Bestrafung. - Umgekehrt ändert das nichts daran, dass Kinder es als Strafe empfinden können, wenn sie in die Badewanne müssen.
Bottom-up (also aus Menschensicht) ist Gericht eine Strafe. - Top-down (also aus Gottessicht) ist Gericht eine Heilung.
Und da kommt jetzt die Kritik an der herkömmlichen Exegese: Sie sollte nämlich stellvertretend für Gott top-down denken - tut aber oft genau das Gegenteil.