PeB hat geschrieben: "...Gott sah alles an...und siehe, es war sehr gut..."; insofern spielt hier die Bewertung durch Gott selbst sehr wohl eine Rolle. Gott sah, dass es sehr gut war und der Leser soll das bitteschön auch so sehen.
Selbstverständlich! So soll es auch gesehen werden - aber eben nicht nur so.
1.Mose 1,4 Und Gott sah, dass das Licht gut war.
1.Mose 1,10 Und Gott sah, dass es gut war.
1.Mose 1,12 Und Gott sah, dass es gut war.
1.Mose 1,18 Und Gott sah, dass es gut war.
1.Mose 1,21 Und Gott sah, dass es gut war.
1.Mose 1,31 Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.
Natürlich sieht Gott selbst, dass es sehr gut war. Am 6. Tag ist es etwas anders, der Verständnishorizont wird geweitet: der Leser soll sich nicht zu sehr in der Erzählung verlieren, sich wieder etwas distanzieren, sich wieder der Rolle des Erzählers und seiner Rolle als Leser bewusst werden. Das heißt, er soll wahrnehmen, dass es sich hier um eine literarische Erzählung handelt. Der Focus liegt nicht ausschließlich bei Gott, der sah, dass es sehr gut war, sondern auch auf dem Erzähler und dem Leser. So wird es fast schon zu einer Frage des Erzählers an den Leser: "Findest du auch, dass es sehr gut war?"
Da es hier am 6. Tag in erster Linie um die Erschaffung des Menschen geht - des Menschen an sich, um jeden Menschen - und alles darin für den Leser auch eine aktuelle Bedeutung hat, ist die Frage nicht mehr nur "Siehst du, dass es sehr gut war?", sondern geht in die Richtung "Siehst du, dass sehr gut ist?"
Du sprichst einen zweiten literarischen Hinweis an, der auf die Gegenwart jedes Menschen der das liest, wann auch immer er es liest, hinweist:
PeB hat geschrieben:Auch das ist richtig. Die Schöpfung ist abgeschlossen, wenn die Heilsgeschichte abgeschlossen ist, denn sie gehört zur Schöpfung dazu.
Aber Gottes "sehr gut" bezieht sich trotzdem nicht auf zukünftige Zustände, sondern:
1. Mose 1, 31 hat geschrieben:Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag.
Am Ende des sechsten Tages sah Gott alles an und es war sehr gut.
1. Tag Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.
2. Tag Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag.
3. Tag Da ward aus Abend und Morgen der dritte Tag.
4. Tag Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag.
5. Tag Da ward aus Abend und Morgen der fünfte Tag.
6. Tag Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag.
7. Tag ?
Hier wird beim 7. Tag der literarische Rhythmus der anderen Tage gebrochen, so wie beim 6. Tag das "und siehe, es war sehr gut." den Rhythmus bricht.
Obwohl vom 7. Tag in der Vergangenheitsform erzählt wird, hat das Fehlen dieser Formel "Da ward aus Abend und Morgen der siebte Tag." eine Bedeutung. Außerdem fehlt auch das übliche "Es geschah so." beim 7. Tag. Dies ist ja die ganze Schöpfungserzählung vom Anfang bis zum Ende - aus der zeitlosen, um nicht zu sagen (überzeitlichen) Perspektive Gottes.
Jedem Leser ist klar, dass die Schöpfung noch nicht vollendet ist, wenn er die Welt und sich selbst betrachtet. "Und siehe, ist es sehr gut?" Jain. Ja, im Vertrauen darauf, dass Gottes Schöpfungsplan am 7. Tag vollendet wird - Ja, es ist gut bis sehr gut verlaufen - aber Nein - von Vollendung kann beim besten Willen noch nicht die Rede sein. Der 6. Tag ist durch das "Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag." abgeschlossen. Der 7. Tag ist nicht abgeschlossen, ist nicht Vergangenheit, denn ihm fehlt dieses "Da ward aus Abend und Morgen der siebte Tag." Weil ihm das fehlt, hat er noch nicht einmal angefangen. Er liegt in der Zukunft. Wo ist dann aber die Gegenwart des Lesers geblieben? In dieser Erzählung wird also nicht nur Vergangenes und Zukünftiges erzählt. Sie richtet sich doch an den Leser in seiner Gegenwart, an "den Menschen an sich". Die Leser vermehren sich, füllen die Erde und essen von allen Bäumen noch heute.
Damit ist diese unterschwellig gestellte Frage danach, an welchem Tag "der Mensch an sich" lebt, beantwortet: Am 6. Tag lebt der noch unvollendete Mensch, jeder Mensch, du und ich. Das ist der Tag an dem "der Mensch an sich" erschaffen wird, er sich vermehrt, von allen Bäumen isst. Okay, all das ist sehr gut, aber perfekt ist sie Schöpfung von Himmel und Erde und allem was dazwischen lebt und webt, die Welt von dir und mir noch nicht, aber wir haben Grund zur Hoffnung, weil uns der 7. Tag verheißen ist.
Hello Houston, we have a Problem. Na ja, eigentlich ist es hier genau andersherum: "Wir" haben bis hier hin vom Himmel aus in Richtung Erde gelesen. Ab jetzt lesen wir von der Erde aus in Richtung Himmel.
1.Mose 2,4 hat geschrieben:Dies ist die Entstehungsgeschichte des Himmels und der Erde, als sie geschaffen wurden. An dem Tag, als Gott, der HERR, Erde und Himmel machte ...
Ich hoffe, "wir" sind noch im Lesermodus und haben deshalb noch genügend Abstand, um den Erzähler und seine literarischen Kunstgriffe und Zeichen wahrzunehmen, denn er verlinkt hier diesen ersten Teil seiner Erzählung von der Schöpfung von Himmel und Erde mit dem zweiten Teil seiner Erzählung. Er fordert aber zugleich diesen Perspektivwechsel des Lesers: Hier wird nicht mehr die gesamte Schöpfung aus der zeitlosen, um nicht zu sagen "überzeitlichen" Sicht Gottes, erzählt, sondern ab jetzt wird erzählt, wie "der Mensch an sich" du, ich, jeder Mensch, seine Erschaffung erlebt - aus seiner ganz persönlichen "Sicht", von seiner Zeugung bis zu seinem Tod, das ganze Leben "des Menschen" eben. Der Erzähler verlinkt alles Folgende der Erzählung mit dem 6. Tag, dem Tag des Menschen. Alles was jetzt kommt,
war nicht am 6. Tag sondern
ist am 6. Tag, denn dieser Tag ist unser Tag, die Gegenwart . An der Vergangenheitsform sollte man sich nicht stören, denn diese Erzählung beginnt schließlich mit der Vergangenheit des Lesers, kurz vor seiner Zeugung durch Gott:
1.Mose 2,5 hat geschrieben:— noch war all das Gesträuch des Feldes nicht auf der Erde, <und> noch war all das Kraut des Feldes nicht gesprosst, denn Gott, der HERR, hatte es <noch> nicht auf die Erde regnen lassen, und <noch> gab es keinen Menschen, den Erdboden zu bebauen;
Als ich noch nicht gezeugt war, gab es aus "meiner Sicht" noch kein Gesträuch des Feldes ...
Du siehst, PeB, das ist ganz auf deiner Linie. Der "Sündenfall" ist Teil des Plans und so verstanden, stützt dieses "sehr gut" deine Auffassung zusätzlich. Alles weitere, das noch in der Urerzählung folgt, ist der Plan Gottes. Es läuft alles wie am Schnürchen nach diesem Plan und es gibt darin keinen "Betriebsunfall" in der Schöpfung.
Es gibt berechtigte Fragen und theologisch ernst zunehmende Einwände, die man klären muss. Im anderen Thread wurden von Al und anderen solche genannt. Darum geht es hier aber noch nicht, sondern zunächst nur um die innere Logik der Erzählung auf der Ebene der erzählten Handlung. Erst wenn die Handlung in sich konsistent verstanden ist, ist es sinnvoll sich an eine theologische Deutung der gesamten Urerzählung zu wagen. Solange man nur Teile für sich genommen betrachtet, wird da nichts Vernünftiges und vor allem nichts glaubwürdiges bei rum kommen. Insofern betrifft das alles auch Kain und Abel, aber nur das 4. Kapitel im Blick zu haben ist nicht zielführend.