Stochern wir im Nebel?

Philosophisches zum Nachdenken
closs
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#161 Re: Stochern wir im Nebel?

Beitrag von closs » Sa 19. Jul 2014, 02:36

Pluto hat geschrieben:Wenn es gefügt ist, hatte Judas keine wirklich freie Wahl.
Du hast es nicht verstanden: Hätte Judas anders gewählt, wäre er nicht dazu auserwählt/gefügt worden.

Das ist das eine. - Das ganz andere Thema ist: Was führt dazu, dass jemand etwas so oder so wählt? - Siehe Schopenhauer: "Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will". - Aber dieses Thema hat nichts mit Fügung zu tun, sondern ist ein ganz anderes Thema.

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sven23
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#162 Re: Stochern wir im Nebel?

Beitrag von sven23 » Sa 19. Jul 2014, 06:41

Judas ist zum Verrat mißbraucht worden. Die Frage ist, warum die Bibelschreiber es überhaupt für notwendig erachteten, einen Verräter zu benötigen.
Wenn Gott unbedingt glaubte, seinen Sohn an Kreuz schlagen lassen zu müssen, hätte er das sicher auch ohne Verrat bewerkstelligen können. Aber er hat eine Vorliebe, andere immer in den Schlamassel mit hineinzuziehen.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
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closs
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#163 Re: Stochern wir im Nebel?

Beitrag von closs » Sa 19. Jul 2014, 10:27

sven23 hat geschrieben:Die Frage ist, warum die Bibelschreiber es überhaupt für notwendig erachteten, einen Verräter zu benötigen.
Merke: "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" (Goethe) - also eine Chiffre.

Judas heisst nicht umsonst so - er steht ja auch für Judäa, also das auserwählte Volk, das seiner Auserwähltheit nicht gerecht wird, indem es Jesus NICHT folgt - es verrät also seinen Status als auserwähltes Volk.

Weiterhin geht es darum, dass Abwendung das grundsätzliche Motiv des Daseins ist - die Gegenkraft zum paradiesischen Eins-Sein mit Gott. Dass und warum dies nötig ist, ist ein anderes Thema.

Es wäre also darstellungs-mäßig NICHT möglich, dass Jesus kommt, einige Predigten hält und dann sanft im Ruhstand entschläft. Denn in Jesus soll doch die Kluft zwischen göttlichem Sein und menschlichem Dasein, Hinwendung und Abwendung dargestellt werden. Dazu braucht es - wie es in der Dialektik so üblich ist - eines Protagonisten und eines Antagonisten.

Dies wiederum führt in den Bereich der "Heilsgeschichte", also die Bühne, auf der Rollen gespielt werden, um den mühsamen Weg zur bewussten Erkenntnis vorzuführen.

Diesen spirituellen Argumenten muss man nicht folgen - aber vielleicht beantwortet es Deine Frage.

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sven23
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#164 Re: Stochern wir im Nebel?

Beitrag von sven23 » Sa 19. Jul 2014, 12:21

closs hat geschrieben: Es wäre also darstellungs-mäßig NICHT möglich, dass Jesus kommt, einige Predigten hält und dann sanft im Ruhstand entschläft. Denn in Jesus soll doch die Kluft zwischen göttlichem Sein und menschlichem Dasein, Hinwendung und Abwendung dargestellt werden. Dazu braucht es - wie es in der Dialektik so üblich ist - eines Protagonisten und eines Antagonisten.


Es gibt immer Alternativen. Wo ein Wille, da ein Weg. Sagen wir es doch einfach wie es ist. Die Bibelschreiber konstruierten diese Geschichte aus dramaturgischen Gründen, so wie es die antiken Tragödienschreiber schon lange vorher getan haben.
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Demian
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#165 Re: Stochern wir im Nebel?

Beitrag von Demian » Sa 19. Jul 2014, 12:29

sven23 hat geschrieben:Es gibt immer Alternativen. Wo ein Wille, da ein Weg.

Klar. Es gibt auch viele Alternativen zu deiner Denkweise.

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sven23
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#166 Re: Stochern wir im Nebel?

Beitrag von sven23 » Sa 19. Jul 2014, 13:15

Demian hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:Es gibt immer Alternativen. Wo ein Wille, da ein Weg.

Klar. Es gibt auch viele Alternativen zu deiner Denkweise.

Selbstverständlich, und das ist auch gut so.

Wenn man mal begriffen hat, daß es im religiösen Bereich sowieso keine absoluten Wahrheiten gibt, sondern alles Ansichtssache ist, ist man schon ein gutes Stück weiter.
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#167 Re: Stochern wir im Nebel?

Beitrag von closs » Sa 19. Jul 2014, 15:04

sven23 hat geschrieben:Die Bibelschreiber konstruierten diese Geschichte aus dramaturgischen Gründen, so wie es die antiken Tragödienschreiber schon lange vorher getan haben.
Moment: Die Bibel soll man zwar tunlichst nicht wörtlich, sondern geistig verstehen. - Das heisst aber nicht, dass sie nicht weitgehend auf historischen Begebenheiten fusst.

sven23 hat geschrieben:Wenn man mal begriffen hat, daß es im religiösen Bereich sowieso keine absoluten Wahrheiten gibt, sondern alles Ansichtssache ist, ist man schon ein gutes Stück weiter.
Wahrnehmung ist IMMER Ansichtssache. - Die Frage ist, ob das Objekt der Wahrnehmung absolut ist - und eben das können wir nur plausiben finden, aber nicht wissen - und zwar grundsätzlich nicht.

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sven23
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#168 Re: Stochern wir im Nebel?

Beitrag von sven23 » Sa 19. Jul 2014, 15:34

closs hat geschrieben:Moment: Die Bibel soll man zwar tunlichst nicht wörtlich, sondern geistig verstehen. - Das heisst aber nicht, dass sie nicht weitgehend auf historischen Begebenheiten fusst.

Weitgehend würde ich durch partiell ersetzen.

closs hat geschrieben: Wahrnehmung ist IMMER Ansichtssache. - Die Frage ist, ob das Objekt der Wahrnehmung absolut ist - und eben das können wir nur plausiben finden, aber nicht wissen - und zwar grundsätzlich nicht.

Sag ich doch, reine Kopfsache.
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#169 Re: Stochern wir im Nebel?

Beitrag von closs » Sa 19. Jul 2014, 16:25

sven23 hat geschrieben:Sag ich doch, reine Kopfsache.
Ja - IMMER - das gilt auch für die Wissenschaften.

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#170 Re: Stochern wir im Nebel?

Beitrag von Demian » Sa 19. Jul 2014, 17:10

sven23 hat geschrieben:Wenn man mal begriffen hat, daß es im religiösen Bereich sowieso keine absoluten Wahrheiten gibt, sondern alles Ansichtssache ist, ist man schon ein gutes Stück weiter.

Es gibt eine relative Seinsebene und eine absolute Seinsebene. Die Vielfalt der Wahrnehmungen zeigt, dass es ein paradoxes Miteinander dieser Ebenen gibt, und ich halte es für richtig, diese Gleichzeitigkeit zuzulassen, zu bejahen und zu entdecken. Andererseits verneine ich die einseitige Überbetonung einer der beiden Ebenen, ob das nun die relative oder die absolute ist.
Für einen spirituellen Geist ist das miteinander dieser beiden Dimensionen der Bewusstheit selbstverständlich, während es viele andere Menschen, als "anmaßend" empfinden überhaupt den Versuch zu starten, das Absolute zu beschreiben oder - wie es im Zen heißt - in das tiefere Sein oder die Realität des reinen Gewahrseins "durchzustoßen". Die Frage ist selbstverständlich: kann der Mensch das überhaupt? (Da finde ich in der Philosophie den Diskurs zwischen Hegel und Kant sehr interessant, da braucht man aber starke Nerven und eine gewisse literarische Tapferkeit :mrgreen: ) Ich beantworte diese Frage gerne mit einem großen Ja, denn es haben - im Abstand von Jahrhunderten, in unterschiedlichsten Kulturen und Religionen oder ganz unabhängig von einer Tradition einzelne freie Geister besondere Erfahrungen eines befreiten oder erweiterten Bewusstseins gemacht und sind dabei zu ähnlichen Einsichten und Beschreibungen gekommen. Auch von atheistischer Seite gab es immer wieder Erfahrungen von "Erleuchtung", zum Beispiel wenn wir Friedrich Nietzsche oder Robert Musil betrachten. Da finden wir in der Literatur sehr viele erhellende Einsichten und eine riesige Schatzkammer von Inspiration. Es braucht in Wahrheit keine religiöse Orientierung, um eine mystische Erfahrung, Einssein oder sogar eine "Gotteserfahrung" zu haben. Es gibt Menschen denen das ganz spontan widerfahren ist. Der übliche Weg ist jedoch eine (in den meisten Fällen jahrelange) spirituelle Übungspraxis oder ein achtsamer, überlieferter Glaubensweg (und alles Weitere ist Glück oder Gnade, wie man so schön sagt).
Grundsätzlich möchte ich drei Anregungen geben:
* wir können versuchen die relative Wahrnehmung der Welt - wie sie uns üblicher Weise erscheint - zu durchschauen, um so tiefere Seinserfahrungen zu machen.
* Die große Möglichkeit ist das Erkennen des unveränderlichen, ewigen und absoluten Seins, deren gemeinsame Einsicht in den großen Weisheitslehren bisher immer war: ALLES IST GEIST /BEWUSSTSEIN. Das braucht niemand zu glauben, aber das kann jeder für sich selbst entdecken, wenn er dazu bereit ist (oder auch dem widersprichen, wenn es beliebt ;) )
* Außerdem ist es möglich das relative Sein, als eine Spielweise des Absoluten Seins zu erfahren. Beide Ebenen sind nicht getrennt voneinander, sondern vollkommen eins, nur betrachtet unsre übliche, konditionierte dualistische Wahrnehmung lediglich einen kleinen Ausschnitt des Großen Ganzen und "zensiert" gewissermaßen den gigantischen Rest. Jeder geistliche Weg versucht diese individuellen Ausschnitt eins werden zu lassen mit dem Großen Ganzen, bzw. zu entdecken, dass schon immer Einssein existiert hat und Geist oder Bewusstsein schon immer existiert hat und mit diesem Großen Ganzen identisch ist (denn wenn alles "eins" ist, dann kann das individuelle Sein nicht "geistvoller" Sein, als das Große Ganze, es ist dann viel mehr das individuelle eine Spielart des Ganzen, wie das Wellenspiel eine Spielart des ganzen Ozeans) Es gibt verschiedene Beschreibungen für diese "Erste" oder "Letzte" Wahrheit, das Ewige, welches allem zutiefst zueigen und zugrunde liegt - und doch wurde von allen Weisen immer betont: wir können es nicht beschreiben, wir können uns diesem Großen Ganzen annähern, eine liebevolle Beziehung zu ihm aufbauen, es immer weiter erforschen und "eintauchen", aber es bleibt unbegreiflich, sowie das gesamte Leben ein ewiges Mysterium ist.
Dennoch erlaube ich mir - als Christ - vom göttlichen Du, vom liebenden Vater und meiner geistlichen Gemeinschaft mit ihm zu sprechen. Denn diese Worte fassen die Intimität und Schönheit, die Beziehung des Einzelnen zum Ganzen in die (meines Erachtens) richtigen Worte.

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