Wie angekündigt möchte ich einen kleinen Exkurs über nicht-christliche Wunder einfügen.
Will man die Wunder und Exorzismen Jesu wirklich verstehen lernen, muss man verstehen lernen, wie die Menschen seiner Zeit hierüber dachten, woran sie glaubten und welche Vorstellungen sie mit Dämonen, Bessenheit, Heilungen, dem Wirken von Göttern und dergleichen verbanden.
In dem folgenden Exorzismus, den der Sophist Flavius Philostratos (165/170 - 244/249) von dem zur Zeit Jesu ebenfalls wundertätigen Philosophen Apollonios von Tyana (40-120) in seinem Werk
Leben des Apollonios von Tyana 4.20 zu berichten weiß, geht es um einen jungen Mann aus vornehmer Familie, der ein auffälliges und manchmal absonderliches Verhalten an den Tag legt und einem sybaritischen Lebenswandel frönt, das heißt luxuriös und "playboy-haft" lebt. Der Übersetzer bezeichnet ihn in der Übersetzung darum anachronistisch als "Playboy".
Das Grundmuster dieser kurzen Wundergeschichte ist der unserer Wundergeschichte vom Gerasener ähnlich, allerdings handelt es sich um einen weniger schweren Fall:
Der Wundertäter wird bei seiner aktuellen Tätigkeit gestört durch einen Fall von Besessenheit - Der Wundertäter spricht den Betroffenen bzw. den Dämon an - Es gibt ein kurzes "Gespräch"/Konfrontation mit dem Dämon - Der Dämon wird vom Wundertäter schnell und entschieden durch dessen Autorität (Blick und Ansprache) ausgetrieben - Es gibt einen Beweis der Austreibung (hier umfallende Statuen, dort Schweine, die sich von der Klippe stürzen) - Eine Anzahl anwesender Menschen kann das Wunder bezeugen - Das geheilte Opfer möchte sich dem Heiler und Lehrer anschließen (Gerasener) bzw. schließt sich ihm an (der Playboy).
Apollonios wird gestört als er gerade über das korrekte Darbringen von Trankopfern für die Götter spricht. Das ist für das heidnische Publikum nichts anderes, als wenn Jesus lehrt für ein christliches.
Diese Wundererzählung des Apollonios steht in der Tat in direkter Konkurrenz zu den damals von Christen erzählten, jesuanischen Wundern. Alle heidnischen Wundererzählungen sind konkurrierende zu denen der Christen. So wird verständlich, weshalb wir in den neutestamentlichen Evv. die Tendenz finden, Wunder Jesu größer zu machen (nicht ein Besessener, sondern zwei; nicht nur eine Dämon, sondern 2000(!); nicht nur einfache Heilungswunder und Exorzismen, sondern auch Totenerweckungen und Naturwunder; Hinzuerfinden von neuen Wundern und einfaches Kopieren von Wundern etc.). Nur so konnte Jesus als der größere und mächtigere Wundertäter dargestellt werden, als es die heidnischen Wundertäter waren. Das größte aller dieser Wunder war dann das Auferstehungswunder.
"Kabarettisten auf Rädern" waren damals in Wagen herumziehende Gaukler und Komödianten. Die Wagen dienten auch als Bühne.
Philostrat, Leben des Apollonios von Tyana 4.20
Apollonios erörterte das Problem des Trankopfers, und es traf sich, daß ein »playboy« dabei war. Dieser junge Mann hatte einen so schlechten Ruf, daß er schon einmal die Zielscheibe der »Kabarettisten auf Rädern« gewesen war. Er stammte aus Korkyra und führte seinen Stammbaum auf Alkinoos zurück, den König der Phäaken, der Odysseus gastlich aufgenommen hatte. Apollonios sprach immer noch über Trankopfer und gebot seinen Zuhörern, nicht aus einem besonderen Kelch zu trinken, sondern ihn den Göttern vorzubehalten, ohne ihn zu berühren oder aus ihm zu trinken. Unter anderem schärfte er ihnen ein, Kelche mit Henkeln zu verwenden und das Trankopfer über einem Henkel darzubringen, weil dieser Teil von Menschenlippen fast nie berührt wird.
Da lachte der junge Mann laut und unflätig. Apollonios schaute ihn an und sagte:
»Du bist es nicht, der sich so widerlich benimmt, sondern der Dämon treibt dich dazu, ohne daß du es weißt.«
Der junge Mann wußte tatsächlich nicht, daß er besessen war. Er pflegte über Dinge zu lachen, die sonst niemand lächerlich fand, und dann begann er grundlos zu weinen, und manchmal sprach oder sang er ganz für sich. Die Leute dachten, es sei die überschüssige Kraft der Jugend, die diese Stimmungen in ihm hervorbrachte, aber in Tat und Wahrheit war er das Sprachrohr des Dämons, und er wirkte betrunken, auch wenn er ganz nüchtern war [Text unsicher].
Als Apollonios ihn anschaute, begann der Geist in ihm vor Angst und Wut zu schreien - es klang, als ob Menschen durch Feuer gefoltert würden - und schwor, er wolle den jungen Mann in Ruhe lassen und nie mehr von einem Menschen Besitz ergreifen. Apollonios herrschte ihn an, so wie ein Herr zu einem gerissenen, verschlagenen, unverschämten Sklaven spricht, und befahl ihm, den jungen Mann zu verlassen und durch ein Zeichen kundzutun, daß dies geschehen sei. Der Dämon sagte: »Ja, ich werde die Statue dort drüben umwerfen«, und er deutete auf eine der Statuen in der »Säulenhalle des Königs«, wo sich das alles abspielte.
Es ist unmöglich, die Erregung der Menge zu beschreiben und wie sie vor Staunen in die Hände klatschte, als die Statue zuerst leicht hin- und herschwankte und dann krachend stürzte. Der junge Mann rieb sich die Augen, als wäre er gerade aufgewacht und schaute hinauf in die strahlende Sonne. Er war ganz verlegen, als er sah, wie alle ihn anstarrten. Auch schien er nicht mehr so zügellos, und er hatte nicht mehr diesen verrückten Blick: er hatte sein wahres Selbst wieder gefunden, als wäre er durch ein Medikament geheilt worden. Er legte seine eleganten Kleider, seinen modischen Schmuck und alle anderen Merkmale seines sybaritischen Lebenswandels ab, verliebte sich in die Disziplin, warf sich den Mantel [der Philosophen] über und formte seinen Charakter nach dem des Apollonios.
(Georg Luck, Magie und andere Geheimlehren der Antike, Stuttgart: Kröner 1990, S. 269-271)
Interessant ist, welches Krankheitsbild dieser junge Mann nach moderner Diagnose eigentlich aufweist. Der Gerasener würde heute als schwerer Fall von dissoziativer Identitätsstörung (Schizophrenie) mit autoagressivem Verhalten diagnostiziert. Entscheidend für die Diagnose des "Playboys" ist vermutlich diese Beschreibung:
"Er pflegte über Dinge zu lachen, die sonst niemand lächerlich fand, und dann begann er grundlos zu weinen, und manchmal sprach oder sang er ganz für sich." Wahrscheinlich würde er heute in der Straßenbahn aber niemandem als leicht "gestört" auffallen ...
Auch, wenn unsere Evv.-Texte sprachlich sperrig sind, weil sie dem griechischen Text möglichst nahe kommen sollen, so ist doch unschwer zu erkennen, um wieviel stilistisch eleganter diese Wundergeschichte durch Philostrat erzählt wird!