Parusieverzögerung III

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R.F.
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#1531 Re: Parusieverzögerung III

Beitrag von R.F. » Mi 2. Sep 2015, 20:53

Zeus hat geschrieben: - - -
Meinst du das?

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Ich spreche in der Regel nicht vom Ende, sondern von einer Großwende.
Wenn es übrigens bei dem Thema nicht um handfeste Dinge ginge, würden wir leeres Stroh dreschen, mein lieber Zeus. Man könnte sich die weitere Diskussion ersparen.

In politischen Foren sind Bibelzitate natürlich tabu. Doch befinden wir uns hier in einem Religionsforum. Übrigens tust Du gut daran, Dich rechtzeitig an religiöse Termini zu gewöhnen. Der kommende Führer besteht darauf. Auch wenn Du in Lyon wohnst: Du wirst Deine Knie beugen müssen. Und wehe Du weigerst Dich... :thumbdown:

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Savonlinna
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#1532 Re: Parusieverzögerung III

Beitrag von Savonlinna » Mi 2. Sep 2015, 20:59

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:"Zeitgenossen" untermauert noch die Richtigkeit der Übersetzung als "Generation". Wenn das keine Naherwartung ist...
Stimmt. - Das hieße, dass diese Interpretation vorherrschend wäre - was nichts darüber aussagt, ob sie zutreffend wäre. -
Ja.
Mir fällt auf, dass manche User eine bestimmte Übersetzung und damit Bedeutung bevorzugen und im schlimmsten Falle sagen: "die Mehrheit sagt aber NUN MAL das."
Für mich ist das gar nicht so wichtig. Mir ist wichtig, dass es MEHRERE Bedeutungen gibt, und dass man das zulässt, dass es mehrere Möglichkeiten gibt.
Der ewige Streit hier im Forum gilt also gar nicht der Frage: "Was ist die eine Wahrheit?", sondern:
"Gibt es nur eine Wahrheit", oder gibt es viefältige Auffassungsmöglichkeiten.

Ich liebe die Vielschichtigkeit in literarischen Erzählungen.
Das lässt dem Rezipienten die Freiheit, seine ganz persönliche Wahl zu treffen.
Es sind ja doch Erzählungen, die hier zur Diskussion stehen.

Und darum zitiere ich noch einmal das aus dem Buch von Theißen/Merz, was ich gestern oder vorgestern schon zitiert habe:

Theißen/Merz hat geschrieben:Historische Imagination schafft mit ihren Hypothesen eine "Fiktionalitätsaura" um die Gestalt Jesu wie die religiöse Imagination des Urchristentums. Denn hier wie dort ist eine kreative Vorstellungskraft am Werk, entzündet durch dieselbe historische Gestalt. Hier wie dort wirkt sie in unabgeschlossener Weise: Religiöse Symbole, Bilder und Mythen lassen sich immer wieder neu interpretieren, historische Hypothesen immer wieder neu korrigieren. S. 31
Die Blautönung stammt von mir.


closs hat geschrieben:Die Frage der richtigen Rezption dessen, was Jesus gesagt hat, steht ja auch noch im Raum.
Diese Frage steht eigentlich nicht im Raum. Heutige Historiker wissen, dass sie immer nur auf Überliefertes und Erzähltes stoßen. ->
Geschichte liegt nur als Erzählung vor (Narrativität)
http://www.phil.uni-greifswald.de/filea ... S07-08.pdf

closs hat geschrieben:- Aus meiner Sicht wäre eine Falsch-Rezeption nicht ungewöhnlich, weil der Paradigmen-Wechsel von AT auf NT sicherlich nicht auf Anhieb kapiert wurde.
"Falsch- und Richtig-Rezeiption" gibt es eben nicht, es sei denn, es handelt sich um harte Fakten wie: aus welchem Material ein Tempel gebaut wurde.
Aber wenn es sich um Nicht-Materielles handelt - wie Gedanken, Ansichten, Auffassungen, Botschaften -, dann kann niemand je herausfinden, was tatsächlich gedacht oder gemeint war. Das weiß meist nicht einmal mehr der Produzent des Gedankens.

Sobald etwas die Psyche des Menschen verlässt und in irgendeiner Form vergegenständlicht wurde - Wort, Bild, Schrift etc. - fängt es an, ein Eigenleben zu führen: es geht sofort ein in das Kollektiv, und das Kollektiv verändert es, von Stunde zu Stunde. Es gehört nicht mehr dem Urheber; das ist etwas, was ich wirklich geschnallt habe.

Dem Urheber gehört noch das, was in seiner Psyche war und dort nie verloren gehen kann, auch wenn es in dieser Psyche weiterwirkt.
Aber das, was vergegenständlicht wurde, ist nun KULTUR geworden und gehört allen.

closs hat geschrieben:- Aus HKM-Sicht ist dies eine extrem harte Nuss - denn wie will man untersuchen, was Leute fälschlich gedacht haben, als sie etwas niederschrieben?
Das kann man eben nicht untersuchen, und die HKM liefert dazu auch die Methode nicht.
Nicht umsonst besteht sie darauf, dass sie Texte untersucht.

Aber natürlich kann sie aus Texten das geistige Klima herausfiltern, in dem sie geschrieben wurden.
Allerdings gibt es auch da immer wieder neuformulierte Sichtweisen.
Einige sagen, Jesus habe das Judentum erneuert, und neuerdings höre ich, dass das gar nicht so sicher sei.
Zuletzt geändert von Savonlinna am Mi 2. Sep 2015, 22:07, insgesamt 1-mal geändert.

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#1533 Re: Parusieverzögerung III

Beitrag von Halman » Mi 2. Sep 2015, 21:01

Zeus hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:[...]Es ging nie darum, eine Anzahl von Theologen zu nennen.
Das mag dir nicht passen, aber es ging mir sehr wohl darum, die Liste der Meinungen der renomierten neun Theologen, des Kardinals und des Apostels Paulus zu präsentieren.
Wenn ich Dich recht verstehe, beziehst Du dich auf paulinische Aussagen, die Du als Naherwartung interpretierst. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass bei dieser Deutung Ambivalenzen/Spannungen mit anderen Textstellen, die entweder paulinisch sind, oder sich auf ihn beziehen, entstehen.
Ich denke nicht, dass Paulus ein eindeutiger Vertreter der Naherwartung war, eher der Stehtserwartung.


Pluto hat geschrieben:Warum ignoriert man Verse wie Mt. 10,7, Mt. 24,14, Mk. 13,30, 2.Thess. 2,1-2?
Man stellt diese Verse als irgendwie nicht glaubwürdig/relevant dar, oder versucht ihnen eine andere Bedeutung zu unterstellen.
Weil wir hier bereits mit Mk 1:15 überfordert sind. :lol:

Mat. 10:7 knüpft an Mat 4:17 (Paralleltext zu Mk. 1:15) an. Das Besondere an der Verkündung der zwölf Jünger Jesu war, dass Jesus als königlicher Repräsentant des verkündeten Königreiches persönlich mitten unter ihnen war (Basiléia kann auch als Königswürde interpretiert werden).

Mat. 24:14 ist Teil von Jesu Entzeitrede. Sie ist seine Antwort auf die zweiteilige Frage von vier seiner Jünger nach dem "Zeichen von Jesu Parusie" und der "Vollendung des Zeitalters" (συντέλεια / transl. (syntélẹia), womit offenbar ein Zeitraum gemeint ist, in der ein "Zeichen" erwartet wurde, von dem die Verkündung, welche in Mat 24:14 vorhergesagt wird, ein Teil ist, so wie ein Strich ein Teil eines chinesischen Schriftzeichens ist.
Teilweise erfüllten sich die jesuanischen Prophezeiungen im 1. Jhd., auch die Verkündung in der regionalen Lebewelt des Mittelmeerraumes.

Mak 13:30 beschreibt offenbar einen Personenkreis, welcher während dieser Zeitspanne lebt.


Münek hat geschrieben:Hat Jesus sich tatsächlich NICHT geirrt? :o Wer so etwas ernsthaft behauptet, ist realitätsblind.
Alter schützt offenbar vor Torheit nicht. (Dies kannst Du interpretieren, wie Du wilst.)

Münek hat geschrieben:Diese an Gott gerichtete Bitte wäre unnötig, wenn sich Jesu Prophezeiung damals erfüllt hätte.
Korrekt.


Pluto hat geschrieben:Kann mir Jemand die gängige Interpretation dieser Verse vermitteln?

Matthäus 10,23
Markus 13,30

Vielleicht geht es auch ohne viel Herumgeeiere.
Wie die gängige Interpretation lautet, ist mir leider nicht bekannt. Ich weiß noch nicht einmal, ob es sowas überhaupt gibt. Folgende Interpretationen habe ich gefunden:
http://www.evangeliums.net/fragen/frage ... herrn.html

https://www.bibelkommentare.de/index.ph ... wer_id=128

Meines Wissens gilt Mat. 10:23 "allgemein" als Naherwartungslogion.

Andreas nannte (siehe nachfolgendes Zitat) eine mögliche Erklärung für Mat. 10:23. Eine andere wäre, dass diese Worte auf die Verkündung in den jüdischen Diasporastädten hindeuten (s. bitte Hier).

Bei den in Mk 13:30 verwendeten Begriff γενεά (geneá) favorisiere ich ebenfalls die Übersetzung „Genertation“. An dieser Stelle sei nochmals auf den Unterschied zum Wort génos hingewiesen, welches "Petrus in 1Pe 2:9 gebraucht, um das „Geschlecht“ zu bezeichnen, welchem seine Empfänger (Urchristen im Mittelmeerraum) Petri Überzeugung nach durch die Salbung mit Heiligen Geist angehörten. Auch hier geht es um Jesu Entzeitrede und die Teil-Erfüllung im ersten Jahrhundert. Ein Teil scheint "verzögert". Dies war natürlich auch Albert Schweitzer bewusst. Dass ich die "Frechheit" bezitze, diesem berühmten Denker in diesem Punkt zu widersprechen, rührt daher, dass ich hier den Schreibern des NT glauben schenke, hier insbesondere dem Seher Johannes (also der Offenbarung). Demnach können die Ereignisse des 1. Jhds. mit der Mittelmeermission und dem jüdischen Krieg als Schattenbild für eine künftige, größere Erfüllung verstanden werden. Dies erfordert allerdings Jesu Entzeitrede zweischichtig zu deuten. Mehr dazu in meinem Thread Wie ist Jesu Endzeitrede zu verstehen? (Ich bitte darum, die Nebendiskussion über die komplexe Entzeitrede im verlinkten Thread weiterzuführen.)


Andreas hat geschrieben:Zu Mt 10,23 (aus der Sicht Homer Simpsons)
Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so flieht in eine andere. Wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt.
Nach der Auferstehung kam Jesus (der Menschensohn) zu seinen Jüngern. Da waren die Jünger noch nicht mit den Städten Israels zum Ende gekommen.
Das ist eine sehr elegante Interpretation. Danke für dies Sichtweise.


Pluto hat geschrieben:
Samantha hat geschrieben:
Schon wieder das Geschlecht ... :yawn:
Nee...
Es handelt um eine Generation. Das sind im üblichen Sprachgebrauch maximal etwa 50 Jahre.
Nun, etwa 33 Jahre nach Jesu Worten begannenn sich seine Prophezeiungen teilweise zu erfüllen, als römische Heere 66. n. Chr. Jersualem belagerten und 37 Jahre nach der Entzeitrede wurde Jerualem und der Tempel unter Titus vernichtet. All das geschah innerhalb der damaligen Generation der Jünger Jesu.
Das "Problem" dabei ist: Sie erfüllte sich nur Teilweise und laut der Offenbarung sollte es offenbar viel später eine umfangreichere und größere Erfüllung der Entzeitrede geben. Vielleicht können uns hier bibelkundige Christen weiterhelfen.
Allerdings hatte ich dafür einen speziellen Thread ins leben gerufen. Lass uns diese Unterdiskussion bitte dort fortführen. :)
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

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#1534 Re: Parusieverzögerung III

Beitrag von Halman » Mi 2. Sep 2015, 21:08

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:"Zeitgenossen" untermauert noch die Richtigkeit der Übersetzung als "Generation". Wenn das keine Naherwartung ist...
Stimmt. - Das hieße, dass diese Interpretation vorherrschend wäre - was nichts darüber aussagt, ob sie zutreffend wäre. - Das Jüdische NT scheint diese Meinung NICHT zu teilen, wenn sie mit "Volk" übersetzt - hier wäre zu klären, ob dies mit der Vertrautheit mit dem Hebräischen/Aramäischen zu tun hat, aus dem das Griechische ja übersetzt wurde. - Ungeachtet dessen: Savis Aufzählung ist damit nicht aus der Welt - wir haben lediglich festzustellen, dass man aus dieser Auswahl im Sinne von "contemporary" interpretiert.
Zu den Begriffen in den semitischen Ursprachen hatte ich mir doch HIER (wenn auch recht bescheiden) bereits geäußert. Was meinst Du dazu?

closs hat geschrieben:Weiterhin müsste man gucken, ob Jesus vom "inneren Gottesreich" (Lukas 17, 20ff) oder vom "äußeren, apokalyptischen Gottesreich" spricht. - Bei ersterem macht die Contemporary-Varianten natürlich Sinn. - Also alles nicht so einfach.
Der Begriff geneá taucht in Jesu Entzeitreden auf. Meinst Du nicht, dass dies eine apokalyptische Rede ist?

closs hat geschrieben:Und schließlich: Wer sagt, dass die Schreiner im 1. und 2. Jh. n.Chr. nicht genauso meinungs-geteilt waren, wie es unser Forum in dieser Sache ist? - Mit anderen Worten: Die Frage der richtigen Rezption dessen, was Jesus gesagt hat, steht ja auch noch im Raum. - Aus meiner Sicht wäre eine Falsch-Rezeption nicht ungewöhnlich, weil der Paradigmen-Wechsel von AT auf NT sicherlich nicht auf Anhieb kapiert wurde. - Aus HKM-Sicht ist dies eine extrem harte Nuss - denn wie will man untersuchen, was Leute fälschlich gedacht haben, als sie etwas niederschrieben?
Dieser Paradigmen-Wechsel wird ja sogar offen thematisiert, z.B. in der Apostelgeschichte (Hemul hatte wiederholt die Bibelstelle zitiert). Allerdings glaube ich, dass die Schreiber des NT vom Heiligen Geist inspiriert waren. Was denkst Du darüber?


Da wir hier auch über Geschichtswissenschaft und Empirie sprachen, habe ich Dir mal ein paar kurze Beiträge eines Historikers rausgesucht, der im SciFi-Forum im "Gläubig-Thread" einige meiner Meinung nach interessante Bemerkungen machte:
Zitat von endar:
Die Geschichtswissenschaft und sicherlich auch die Archäologie stellen sich die Frage nach der Existenz Gottes nicht.
Die Geschichtswissenschaft ist demzufolge offenbar weder theistisch, noch atheistisch, denn:
Zitat von endar:
Da muss man präzise sein: Eine Frage, die man sich nicht stellt, kann man auch nicht verneinen.

Man stellt immer nur notwendige Fragen. Und da die Geschichtswissenschaft Religion als einen sozial-gesellschaftlichen Prozess begreift und deren Zustandekommen und Auswirkungen untersucht, ist es nicht notwendig, den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Religion zu untersuchen. Es ist natürlich freilich auch nicht möglich.

Folgender Beitrag ist meiner Meinung nach recht aufschlussreich:
Zitat von endar:
Ja. Der "Wahrheitsgehalt", den du hier meist, ist der der Faktizität. Fragen, ob z.B. diese oder jene Stadt abgebrannt ist oder ob es das Exil der Israeliten gegeben hat, können untersucht werden. Für den Historiker ist die Bibel eine Quelle wie jede andere auch, für die man dieselben Methoden anwendet, wie für andere Quellen auch. Genauso wie z.B. bei einer Stadtchronik oder etwas in der Art. Dabei kommt dann auch soetwas heraus wie: Das stimmt oder das stimmt nicht oder das stimmt nur halb etc. pp.

Ich sprach aber vom metaphysischen "Wahrheitsgehalt" religiöser Texte, auf den Spocky anspielte. Das ist auch nicht Aufgabe der Historiker und das hat auch keinen großen Erkenntnisgewinn. Denn es geht ja um Handlungen und Motive, d.h. es interessieren z.B. die Fragen: Wofür haben die Jünger/frühen Christen Jesus zu welchem Zeitpunkt gehalten? Wann wurde der Isis-Glaube auf Maria übertragen? Ob es Isis gibt oder gab, spielt da keine Rolle.

Ob David ein großer König oder kleiner war, ist dann so ein Mittelding. Da mag man zu dem Ergebnis kommen, dass sein Reich überschaubar war, aber die subjektive Wahrnehmung seiner Untertanen, er sei ein großer König, die nimmt man natürlich zur Kenntnis.

Ich habe aber keine besonderen Berührungsängste mit Werken katholischer oder protestantischer Historiker bzw. mit Werken aus derartigen Hochschulen. Kritisch muss man immer sein. Ich kann ich zudem gut vorstellen, dass man als gläubiger Bibelwissenschaftler zum Atheisten werden kann, denn es bleibt von den Wundern etc. letztendlich nur wenig übrig.

Bemerkenswert finde ich, dass @endar Geschichte und die Archäologie als empirische Wissenschaften klassifiziert.
Zitat von endar:
Die Geschichte und die Archäologie sind empirische Wissenschaften. Natürlich kann man versuchen, zu überprüfen, ob die Israeliten an diesem oder jenem Ort gewesen sind, zu dem sie Jahwe geschickt haben solle. Das impliziert aber gar nichts hinsichtlich der Existenz Gottes.

Dass sich in historischen Quellen die unterschiedlichsten Aspekte mischen, ist nicht nur bei der Bibel so. Dafür gibt es dann eben halt die verschiedenen Techniken zur Quelleninterpretation.
Stimmst Du damit überein?
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo

closs
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#1535 Re: Parusieverzögerung III

Beitrag von closs » Mi 2. Sep 2015, 21:27

Anton B. hat geschrieben:Die "historischen Rekonstruktionen", die ich so kenne, bewegen sich eigentlich alle im Rahmen der durch die Naturwissenschaften bekannten Naturgesetze.
Wenn es Ansätze gibt, die naturwissenschaftlich greifbar sind (Archäologie, etc.), ist das üblich - nur: Wo gäbe es bei der Parusiefrage solche Ansätze? - Die Datierungen der Abschriften werden mithilfe der Wissenschaft weitestmöglich bestimmt - aber ansonsten ist es doch im wesentlichen Textarbeit - oder nicht?

Anton B. hat geschrieben:Entwickelt die Geschichtswissenschaft aufgrund ihrer Methodiken ein historisches Verständnis -- was sie dann durch ihre Methodik begründet -- diese "Wunder" seien wie dargestellt "historische Geschehnisse"?
Falls ich die Frage richtig verstehe: Das hängt aus meiner Sicht tatsächlich vom Forschenden ab.

FALLS der Historiker ein Materialist/Atheist/etc. ist, wird er klammheimlich oder offen davon ausgehen, dass es Wunder historisch nicht geben KANN - dementsprechend wird er Texte deuten. - Das Problem: Naturwissenschaftlich ist ja nichts greifbar, wenn Jesus über den See läuft oder 1000 Leute mit einem Brot speist.

Ist der Historiker ein Christ "der alten Schule", wird er ebenso klammheimlich oder offen versuchen, die von ihm geglaubten Wunder historisch zu hinterlegen.

Beide Seiten glauben also etwas (Typus 1: "Wunder gibt es nicht" - Typus 2: "Wunder gibt es") und finden genug Spielräume vor, ihre Arbeit im Sinne ihrer eigenen Prämisse zu steuern.

Anton B. hat geschrieben:Entwickelt die Geschichtswissenschaft Vorschläge zur Erklärung der Wunder auf der Basis zumindest der naturwissenschaftlichen Fundamentalwissenschaften?
Das ist aus meiner Sicht nicht seine Aufgabe. - Als Geschichtswissenschaftler muss man prinzipiell auch Wunder für möglich halten, sonst ist man Typus 1, also nicht ergebnisoffen.

Anton B. hat geschrieben:Mit Erklärung meine ich eine Darstellung, die die Interpretation des Textes tangiert: Da und dort wurde im Text übertrieben oder geflunkert, "Stille Post" gespielt
Das ist gut möglich - aber dazu gehört eine große Portion Sachwissen, dies im Vergleich mit ganz anderen Textmotiven zu belegen - sehr komplex.

Anton B. hat geschrieben: Hat die Geschichtswissenschaft den Anspruch, Kohärenz zu anderen Wissenschaften inkl. der Naturwissenschaften herzustellen?
Hoffentlich nicht - allerdings ist zu befürchten, dass manche es so sehen: Die Geschichtswissenschaft als Beurteiler von Vergangenem aus Sicht des heutigen Stands der Wissenschaft.

Aus meiner Sicht versteht man dagegen Geschichte nur dann, wenn sie aus ihrer Zeit heraus begreift. - Dabei muss man es auch für prinzipiell für möglich halten, dass es Wunder gab - auch wenn es nach heutigem Stand der Naturwissenschaft nicht nachvollziehbar ist. - Ansonsten sind wir wieder beim präjudizierenden Typus 1 (s.o.). - Natürlich ist auch Typus 2 präjudizierend - aber er weiss es, während Typus 1 vorgibt oder gar tatsächlich meint, seine Prämissen stünden einer echten Ergebnisoffenheit nicht im Wege.

Anton B. hat geschrieben: Rational können erstmal alle Möglichkeiten -- inkl. Interpretation der Wunder als Wunder (übernatürliches Eingreifen) -- sein.
Das meine ich auch. - Geschichte und somit die HKM hat das alleinige Interesse zu haben, möglichst dem nahezukommen, wie es gewesen sein könnte. - Das Ideal wäre, dass man um 2000 Jahre zurückgebeamt wird und feststellen darf, dass die eigene Methodik/das eigene Modell mit der damaligen Wirklichkeit übereinstimmt.

Bisher kann ich nicht feststellen, dass die hisorisch-kritische Hermeneutik (nicht zu verwechseln mit Methodik) diesem Ideal gerechter werden könnte als die kanonische Hermeneutik.

Novas
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#1536 Re: Parusieverzögerung III

Beitrag von Novas » Mi 2. Sep 2015, 21:37

closs hat geschrieben:FALLS der Historiker ein Materialist/Atheist/etc. ist, wird er klammheimlich oder offen davon ausgehen, dass es Wunder historisch nicht geben KANN - dementsprechend wird er Texte deuten. Ist der Historiker ein Christ "der alten Schule", wird er ebenso klammheimlich oder offen versuchen, die von ihm geglaubten Wunder historisch zu hinterlegen.

Wenn man offen ist für eine übernatürliche Perspektive, dann ist vieles möglich, was man normaler Weise für unmöglich hält. Da gilt der Satz: "sei realistisch und glaube an Wunder" ;)
Zuletzt geändert von Novas am Mi 2. Sep 2015, 21:41, insgesamt 1-mal geändert.

closs
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#1537 Re: Parusieverzögerung III

Beitrag von closs » Mi 2. Sep 2015, 21:41

Pluto hat geschrieben:Die gängige Lehrmeinung hat in den allermeisten Fällen auch Recht.
Sie hat für eine Zeit eine Mehrheits-Zustimmung - mehr nicht. - Wir sind hier nicht in der Naturwissenschaft.

Mendelssohn-Bartholdy hat J.S.Bach nach fast 100 Jahren Tiefschlaf wieder reanimiert - weil Bach nicht in den Klassizismus und die Klassik gepasst hat - nicht en mode. - Die Zeit war anders gepolt, formatiert und geneigt. - Die Zeit-Umstände waren so, dass Bach nicht begriffen werden konnte (das meinte ich an anderer Stelle mit "Aktiviertheit des Geistes").

Goethe lässt dazu den Erdgeist (was auch immer das ist - jedenfalls ist er nicht der Zeitgeist) sagen: "Du gleichst dem Geist, den Du begreifst - nicht mir" - übrigens ein gutes Motto über jeglicher philologischen (wissenschaftlichen) Arbeit.

Pluto hat geschrieben:Willst du also deine persönliche Abneigung gegen die anerkannte Lehrmeinung durchsetzen, genügt es nicht zu behaupten diese wäre nicht zutreffend.
Erstens gibt es zur Parusie nicht DIE anerkannte Lehrmeinung, zweitens ist die kanonische Lehrmeinung genauso gut belegbar wie die kritisch-historische.

Wir reden hier nicht davon, dass etwas wissenschaftlich klar wäre, dem irgendwer widersprechen würde.

Pluto hat geschrieben:war es doch nur menschlich von der Maximalposition Jesus' zurückzurudern.
Einerseits richtig - andererseits (hast Du's gemerkt?) hast Du unzulässigerweise impliziert, dass Jesus diese Maximalposition jemals hatte. - Man kann genauso so gut postulieren (und begründen), dass Jesus nie eine "äußere" Naherwartung hatte.

Pluto hat geschrieben: also müssen wir uns auf den Wortlaut der Schrift verlassen.
HKM fängt eigentlich erst damit an, dass man hinter den Wortlaut guckt. - Einen Satz zu identifizieren, ist durchaus anspruchsvoll - aber danach geht's erst los.

Anton B.
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#1538 Re: Parusieverzögerung III

Beitrag von Anton B. » Mi 2. Sep 2015, 21:52

closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:Die "historischen Rekonstruktionen", die ich so kenne, bewegen sich eigentlich alle im Rahmen der durch die Naturwissenschaften bekannten Naturgesetze.
Wenn es Ansätze gibt, die naturwissenschaftlich greifbar sind (Archäologie, etc.), ist das üblich - nur: Wo gäbe es bei der Parusiefrage solche Ansätze? - Die Datierungen der Abschriften werden mithilfe der Wissenschaft weitestmöglich bestimmt - aber ansonsten ist es doch im wesentlichen Textarbeit - oder nicht?
Das ist ja mein Problem im Verständnis: Wenn es reine Textarbeit wäre, warum tauchen dann in historischen Darstellungen keine echten Wunder auf. Gerade in griechischen und römischen Texten des Altertums werden Wunder thematisiert. Wo findet sich die geschichtswissenschaftliche Behandlung, die dieses Wunder in der genauen Darstellung der Quelle als historisches "Faktum" übermittelt?

closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:Entwickelt die Geschichtswissenschaft aufgrund ihrer Methodiken ein historisches Verständnis -- was sie dann durch ihre Methodik begründet -- diese "Wunder" seien wie dargestellt "historische Geschehnisse"?
Falls ich die Frage richtig verstehe: Das hängt aus meiner Sicht tatsächlich vom Forschenden ab.
Aber wo wird es so dargestellt? Wo läuft Jesus wirklich "historisch" über Wasser, ohne dass nicht naturwissenschaftlich begründete Hilfskonstrukte verwendet werden?

closs hat geschrieben:
Anton B. hat geschrieben:Mit Erklärung meine ich eine Darstellung, die die Interpretation des Textes tangiert: Da und dort wurde im Text übertrieben oder geflunkert, "Stille Post" gespielt
Das ist gut möglich - aber dazu gehört eine große Portion Sachwissen, dies im Vergleich mit ganz anderen Textmotiven zu belegen - sehr komplex.

Anton B. hat geschrieben:Hat die Geschichtswissenschaft den Anspruch, Kohärenz zu anderen Wissenschaften inkl. der Naturwissenschaften herzustellen?
Hoffentlich nicht - allerdings ist zu befürchten, dass manche es so sehen: Die Geschichtswissenschaft als Beurteiler von Vergangenem aus Sicht des heutigen Stands der Wissenschaft.
Was soll das Endergebnis sein: Ein Wiki-Artikel, ein Lehrbuch, in dem kompilatorisch und synoptisch einmal Jesus (nur als Beispiel) einmal durch übernatürliches Wirken "wirklich" über Wasser geht, er in der zweiten Option über "auftreibende Salzkrusten" geht, und in einer dritten Option ein bestimmtes optisches Phänomen es so aussehen ließ, Jesus ginge über Wasser?

closs hat geschrieben:Aus meiner Sicht versteht man dagegen Geschichte nur dann, wenn sie aus ihrer Zeit heraus begreift. - Dabei muss man es auch für prinzipiell für möglich halten, dass es Wunder gab - auch wenn es nach heutigem Stand der Naturwissenschaft nicht nachvollziehbar ist. - Ansonsten sind wir wieder beim präjudizierenden Typus 1 (s.o.). - Natürlich ist auch Typus 2 präjudizierend - aber er weiss es, während Typus 1 vorgibt oder gar tatsächlich meint, seine Prämissen stünden einer echten Ergebnisoffenheit nicht im Wege.
Siehst Du die Probleme? Und warum soll es bei uns in der Geologie und Paläontoloigie, z.B. zur Zeit der hier im Forum schon mehrfach erwähnten "kambrischen Explosion", keine Wunder gegeben haben? Sollen wir die Wunderhypothese auch synoptisch in unseren Lehrbüchern der naturwissenschaftlichen Erklärung gegenüberstellen?
Die Eiche "ist" - sie steht da - mit oder ohne Wildschweine.

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#1539 Re: Parusieverzögerung III

Beitrag von closs » Mi 2. Sep 2015, 21:54

Savonlinna hat geschrieben:Und darum zitiere ich noch einmal das aus dem Buch von Theißen/Merz, was ich gestern oder vorgestern schon zitiert habe
Ein wichtiges Zeit, weil es nicht von Literaten, sondern von Wissenschaftlern kommt.

Savonlinna hat geschrieben:Heutige Historiker wissen, dass sie immer nur auf Überliefertes und Erzähltes stoßen.
Natürlich - aber sie sind gerade interessiert, in welchem Verhältnis Überliefertes zur Primär-Quelle steht.

Savonlinna hat geschrieben:Es sind ja doch Erzählungen, die hier zur Diskussion stehen.
Keine "Fiction" - nein. - Aber durch kulturelle Sprachtradition und "stille Post" transformierte Wiedergabe eines historischen Geschehens.

Savonlinna hat geschrieben:"Falsch- und Richtig-Rezeiption" gibt es eben nicht
Ich würde sagen, dass es falsche Rezeption gibt, die un-falsche aber deshalb noch lange nicht koinzident mit dem ist, dem die Rezeption gilt. - Es ist aus meiner Sicht eine Falsch-Rezeption, wenn Wagners "Weiche, Wotan" im "Ring" interpretiert als Antwort auf Wotans Frage, wie die Frühstückseier zu sein haben. :oops: - Solche Fehlleistungen gibt es auch in der Literaturwissenschaft.

Savonlinna hat geschrieben:Es gehört nicht mehr dem Urheber; das ist etwas, was ich wirklich geschnallt habe.
De facto ist das richtig und erinnert an Hofmannsthal. - Wie man dies christlich nennen würde, verkneife ich mir, weil Du mich sonst wieder anfällst. :lol:

Savonlinna hat geschrieben:Das kann man eben nicht untersuchen, und die HKM liefert dazu auch die Methode nicht.
So ist es.

Savonlinna hat geschrieben:Aber natürlich kann sie aus Texten das geistige Klima herausfiltern, in dem sie geschrieben wurden.
Muss dieses geistige Klima aber vom eigenen geistigen Klima separieren, was wahrscheinlich nie gelingt - aber man muss es wenigstens erkennen und es probieren. - Das scheint mir eines der größten Probleme DER HKM zu sein, wie sie hier im Forum dargestellt wird.

Novas
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#1540 Re: Parusieverzögerung III

Beitrag von Novas » Mi 2. Sep 2015, 22:13

closs hat geschrieben:Wie man dies christlich nennen würde, verkneife ich mir, weil Du mich sonst wieder anfällst. :lol:


Die Aufmerksamkeit, die sie Dir gibt, kann man auch als eine Form von Liebesbekundung interpretieren. :mrgreen: mir persönlich gefallen eure polarisierenden Dialoge. Gerade auch die Art, wie sich Gedanken innerhalb eines Dialogs entfalten, das lese ich gerne und bringt mir mehr, als wenn ihr euch sofort einigen würdet.

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