sven23 hat geschrieben:Savonlinna hat geschrieben:
Dein Gespür, closs, zumindest in diesem Fall, dafür, dass die historisch-kritische Forschung nicht reduziert werden kann auf wörtliches und rein zeitliches Verstehen der Parusie durch heutige User, hat Dich nicht getrogen.
Die Parusieverzögerung führte zu einer Glaubenskrise, da ja die Naherwartung unstrittig weit verbreitet war.
http://de.wikipedia.org/wiki/Parusie#Di ... ensproblem
Wir sollen also wirklich glauben-das habe ich auch closs schon gefragt- daß es eine völlige Entkoppelung von der Lehre des Sektengurus und seiner Anhängerschaft gegeben hat? Und das in dieser elementaren Frage?
Ist das nicht völlig unglaubwürdig?
Ich bin nicht sicher, ob ich Deine Nachfrage richtig verstanden habe, sven. Wenn nicht, korrigiere mich.
Aber die Untersuchungen der HKF (historisch-kritischen Forschung) laufen auf mehreren Ebenen.
a. Die Bibeltexte wurden erst lange nach Jesu Tod geschrieben.
b. Nun entsteht die Frage: welches Jesusbild wird in den Evangelien vermittelt, aus welcher Zeit stammt das Jesus-Bild, das wir in den Evangelien vorfinden.
c. Den Fragen b. kann man sich nur annähern:
Man vergleicht die Aussagen eschatologischer Erwartungen in den Evangelien sowohl mit den eschatologischen Erwartungen der altjüdischen Propheten als auch mit denen der jüdischen Eschatologie zur Zeit des Urchristentums als auch denen der römisch-griechischen Spätantike.
Die Aussage der HKF ist, dass alle drei Einflüsse auf die Niederschrift der Evangelien eingewirkt haben, aber bei den verschiedenen Evangelien im unterschiedlichen Maß. Paulus ist noch ein Extrafall, den lasse ich hier weg.
Die HKF also bemüht sich, die Texte der Evangelien daraufhin abzuklopfen, welche der drei Einflüsse - es mag noch mehr geben - das in den Evangelien formulierte Jesus-Bild dominant war, und ob da eine Mischform vorlag.
Wie in sämtlichen alt-historischen Forschungen ist man stets und immer von den Überlieferungen abhängig.
Es muss also immer der Überlieferer mit seiner subjektiven Sicht mit in Betracht genommen werden.
"Wie war Sokrates wirklich?" ist ein no-go in allen historischen Wissenschaften.
Wir haben immer nur Texte
über ihn, und bei Sokrates gibt es wie bei Jesus keine von ihm selbstverfasstenTexte.
Und selbst wenn es sie gäbe: auch die würden nie unkritisch in den Wissenschaften betrachtet werden. Selbstdarstellungen sind ebenfalls immer subjektiv bis hin zur Tendenziosität. Und das wird minutiös untersucht, und das Ergebnis ist in der Forschung, wie alles, im Fluss.
In Bezug auf die Parusie im Neuen Testament unterscheiden die Historiker, soweit ich das im Moment überblicke, drei Etappen:
Die Zeit zu Jesu Lebzeiten, die Zeit direkt nach seinem Tod, die Zeit der Niederschrift der Evangelien.
In allen drei Etappen existierte ein unterschiedliches Jesus-Bild
und eine unterschiedliche Erwartungshaltung.
Diese drei Etappen müssen aber aus Texten, die während der dritten Etappe verfasst wurden, rekonstuiert werden; zum Beispiel so, wie ich es unter c. beschrieben habe.
Solche Rekonstruktionen sind aber in der Regel vorläufig, auch schon darum, weil immer wieder neue Quellen erschlossen werden oder wieder neu bewertet werden. Und je nach Wissenschaftler wird der eine Einfluss als Haupt-Einfluss angesehen werden oder ein anderer Einfluss als Haupt-Einfluss angesehen.
Die Rekonstruktion des historischen Jesus ist die schwierigste, möglicherweise auch eine unmögliche.
Denn da wirken in den Texten alle Einflüsse zusammen. Selbst wenn man Jünger hätte, die die Sätze Jesu mitgeschrieben hätten, wären das Niederschriften, die aus dem Kontext Jesu herausgerissen wurden.
Ein Beispiel aus der heutigen Zeit:
Ferdinand de Saussure und sein "Cours de linguistique générale", 1916, ("Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft") haben die moderne Linguistik ins Leben gerufen.
Dieses Werk existiert aber nur auf der Basis der Mitschriften seiner mündlichen Vorlesungen durch Studenten.
Wikipedia hat geschrieben:Die beiden Herausgeber hielten sich an Mitschriften aus Saussures Vorlesungen. Allerdings hatten sie nicht selbst an jenen Vorlesungen teilgenommen.
Dieses Werk hielt in Deutschland eine ganze Generation von Studenten für authentisch "de Saussure".
Dann aber machten Historiker sich "historisch-kritisch" an dieses Werk und mussten bei dieser Textanalyse feststellen, dass die beiden Herausgeber auch ihre eigenen Gedanken und Auffassungen als von de Saussure stammend eingefügt haben. ->
Wikipedia hat geschrieben:Textkritische Untersuchungen haben gezeigt, dass zentrale Thesen des Cours gerade nicht von Saussure stammen, sondern von den Herausgebern. Dazu gehört etwa der oft zitierte Satz, Sprache sei „eine Form, keine Substanz“.
Und das war im 20. Jahrhundert!
Und dann ging man noch gründlicher vor:
Wikipedia hat geschrieben:Erst in den 1950er Jahren entstand eine quellenkritische Rezeption, die sich seither darum bemüht, die authentische Sprachidee Saussures aus seinem fragmentarischen Nachlass zu erschließen. Die Rezeptionsgeschichte Saussures ist mithin durch eine Kluft zwischen der Rezeption des Cours und der Rezeption seines authentischen Nachlasses geprägt. Die Rekonstruktionsbemühungen des authentischen Sprachdenkens Saussures wirkten sich disziplinenübergreifend in der Medien-, und Kulturwissenschaft sowie der Neurolinguistik aus und prägten die Entwicklung des Strukturalismus und Poststrukturalismus maßgeblich mit. Sie schmälerten jedoch nicht die Bedeutung des Cours.
Die drei Zitate stammen aus
http://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_de_Saussure
Die hier am Beispiel de Saussure gezeigte Methode ist genau die gleiche historisch-kritische Methode wie die bei den Texten der Evangelien.
Nur dass man bei de Saussure die Möglichkeit hatte, sein Denken aus Fragmenten seiner eigenen Niederschrift zu rekonstrueren, was bei Jesus nicht der Fall ist.
Naives Lesen und Zitieren der Bibelstellen, als seien sie von Jesus selber beglaubigt worden, ist denen, die wissenschaftlich-historisch interessiert sind, nicht möglich.
Tun sie es dennoch, verlassen sie die wissenschaftlich-historische Disziplin.